Zwischen Differenz und Kohärenz. Bildungschancen der Gegenwartskunst

Der Beitrag diskutiert mit Blick auf Konzept und Werke der dOCUMENTA (13) pädagogische Aspekte von Bildung in der Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst. Dabei werden besondere Bildungsaspekte der Kunstpädagogik mit ihrer Chance einer umfänglichen Rezeption der Kunst hervorgehoben. Der Autor begehrt auf Grund seiner Sozialisation nach Kunst, die aufgeladen zu Fragen anstößt oder auch nur staunend entlässt. Das war selten auf der dOCUMENTA (13).

Es ist ein steiniges Gelände, in dem die Bildungschancen der Gegenwartskunst auszuloten sind, denn das Verhältnis der Kunstdidaktik zur je zeitgenössischen Kunst war fast immer ein gespaltenes, angespanntes oder völlig distanziertes. Und Kunst ist a priori kein didaktisches Medium.

Die Erstausgabe der Fachzeitschrift KUNST+UNTERRICHT – und dieses Fachmedium wird hier näher fokussiert, da es über seine Auflage stärker rezipiert wird als Fachbücher, stellte im Herbst 1968 zur damaligen 4. documenta(1) wesentliche Positionen der Weltkunstausstellung vor. So präsentierte Dietrich Helms die amerikanische Gegenwartsmalerei und Beispiele der nicht mehr ganz so neuen französischen Realisten. Helms war sowohl Mitherausgeber von K+U wie wie auch im Beirat der documenta 4.(2) Die neue Fachzeitschrift postulierte mit dieser programmatischen Setzung ihren Anspruch, Kunst den Vermittlern in der Schule zu erläutern.(3) Doch mit der alsbald einsetzenden Diskussion um die Visuelle Kommunikation rückte die im Verdacht des Elitären stehende Gegenwartskunst an den Rand der publizierten fachdidaktischen Diskussion. Als 1977 zur documenta 6 die Fachzeitschrift in einer eigenen, gleichwohl zeitlich nachgeschobenen Themenausgabe wesentliche Didaktiker zu einem Statement einlud, kokettierte Hermann K. Ehmer über zwei Druckseiten hinweg, warum er nicht über die documenta schreiben wolle. Dies aber mit viel Wissen und Empathie gegenüber der documenta in Kassel, was dem Connaisseur der Gegenwartskunst mehr als nur schmeichelte: Sein vorgegebenes Schweigen war zumindest ein sehr profundes (Ehmer 1977, S. 38f.). Doch sein nachgeschobenes Postskriptum empfahl den aktuellen Katalog der Neuen Gesellschaft für Bildenden Kunst in Westberlin zur Ausstellung: „Wem gehört die Welt?“

Ein Blick in dieses Themenheft von 1977 ist aufschlussreich zum Verhältnis von Kunstdidaktik zur Kunst ihrer Zeit: Dietrich Helms setzt seine Sacherklärung mit Erläuterungen zu Anna Oppermann fort (S. 55 ff.), Heino R. Möller fragt sehr didaktisch nach dem „Erkenntniswert der aktuellen Kunst – also die Frage danach, was sie zur Klärung unseres gesellschaftlichen Lebens beiträgt“ (Möller 1977: 47), Helmut Hartwig interpretierte einige Werke als gefühlige Erinnerungsspender an Wünsche aus Kindheitstagen (Hartwig 1977: 42 ff.). Und Gunter Otto wand sich mäandernd durch den Kommunikationsbegriff, den diese „Medien-documenta“ aufgeworfenen hatte, ohne eine handfeste didaktische Ableitung ziehen zu wollen (Otto 1977: 52 ff.).

Erst wieder 1992 hat KUNST+UNTERRICHT zur documenta ein eigenes Themenheft vorgelegt, das mit eher rudimentären Essays die anstehende documenta vorzustellen versuchte. Sachinformationen und didaktische Hinweise mischten sich. Die 90er-Jahre waren insgesamt im fachdidaktischen Diskurs durch eine stärkere Hinwendung zur zeitgenössischen Kunst geprägt; Gert Selles Vorschläge aus seinem „Ästhetischen Projekt“ hatten daran wesentlichen Anteil (Selle 1988), gleichwohl attestierte dieser Autor seiner Zunft ein gestörtes Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst (Selle 1990).

Die Themenhefte der Fachzeitschrift K+U waren 1997 und 2002 noch stärker an einer fachdidaktischen Aufbereitung und Sachinformationen zur je aktuellen documenta ausgerichtet. Bis zur aktuellen dOCUMENTA (13) im Jahre 2012 haben zahlreiche analytische Publikationen aus der Kunstwissenschaft wie auch das aktuelle Themenheft von KUNST+UNTERRICHT („Im Feld der Gegenwartskunst“) die Bedingungen des gegenwärtigen Kunstsystems vorgestellt und diskutiert. In der fachdidaktischen Literatur, besonders in der Unterkategorie der Dissertationen, die mit Begriffsinnovationen nach Aufmerksamkeit streben, wird nur rudimentär aus begründeter pädagogischer Warte nach der Erkenntnis- und Bildungsfunktion von Gegenwartskunst gefragt – einzelne Positionen und künstlerische Strategien gelten per se als ergiebige Didaktikspender und werden nonchalant der kunstpädagogischen Praxis angedient: ex heterotopia lux?

Bei der hier aufgerufenen Frage nach Bildungschancen im Verhandeln der Gegenwartskunst sind zwei Ebenen zu unterscheiden: Die immanente Ebene des Wissens um die Entwicklung der Kunst und ihrer selektiven Präsentation bei den jeweiligen documenta- Ausstellungen. Viel wesentlicher erscheint mir ein Bildungsbegriff, der Bildung als pädagogischen und kunstpädagogischen Prozess abseits des elitären Kunstdiskurses unaufgeregt diskutiert. Nicht die groteske Stilisierung des Selbstverständlichen als Innovation, geadelt mit der Etikette „documenta“ soll hier als Wundertüte voller spektakulärer Methoden erörtert werden.

Re-Education von Anfang an

Doch zunächst noch wenige Hinweise zu den historischen Bildungs- als Erkenntnisleistungen der documenta-Ausstellungen. Ich darf sie von ihrem Beginn an als die Stationen eines fortwährenden Re-Education-Prozesses knapp mit Schlagworten charakterisieren.(4) Re-Education greift die umfänglichen Bestrebungen vor allem der amerikanischen Besatzungsmacht nach 1945 auf, das politische Bewusstsein und auch die kulturellen Vorstellungen in Deutschland an den amerikanischen Maximen auszurichten.

1955 steht die Begegnung mit einer verbannten, weil entarteten Kunst im Vordergrund. Die Heroen einer Moderne aus den ersten Dekaden des Jahrhunderts werden nun dem interessierten Publikum gezeigt, das seit gut 20 Jahren keinen Zugang zu dieser Kunst mehr erlangt hatte. Die „Kniende“ von Wilhelm Lehmbruck empfing in der Eingangsrotunde des Fridericianums mit ihrer geradezu programmatischen Platzierung ihre Besucher, nachdem diese Plastik keine 20 Jahre zuvor denunziatorisch in der Ausstellung „Entartete Kunst“ vorgeführt worden war.

1959 wird mit der II. documenta klar, dass die Kunst ihr eurozentristisches Epizentrum mit den europäischen Metropolen nun auch endgültig verloren hatte: Kunst als Weltsprache, wie sie vom Theoriebegleiter der ersten documenta-Ausstellungen, Werner Haftmann, proklamiert wurde, wurde nun jenseits des Atlantiks mit den Protagonisten eines abstrakten Expressionismus definiert.

Die beiden folgenden documenta-Ausstellungen vollzogen im Wesentlichen die Avantgardeströmungen der USA und Westeuropas nach und zeigten in Kassel, was zuvor schon durch den Kunstmarkt als relevant definiert worden war.
Die documenta 5 1972 kann als radikaler Bruch im Selbstverständnis und in der Präsentation verstanden werden. Diese documenta war als Ausstellung und Katalog eine revolutionäre Innovation: Ein völlig neues Kuratorenteam mit dem unkonventionellen Harald Szeemann als Primus inter pares vorneweg, ein neuer Bild-Kunstbegriff, der die Unruhe und Verunsicherung der Jahre nach 1968 aufgriff, bestimmte nun die Kasseler Ausstellung. Die documenta 5 ist auch als Erlösung des westdeutschen Bildungsbürgertums gegenüber der zeitgenössischen Kunst zu sehen: Endlich konnte mit „gutem Gewissen“ Hochkunst rezipiert werden; da passte Zeitgeist und Kunst zusammen und der sieben Pfund schwere Katalog als Ordner war orange leuchtender Beweis, dass man dabei gewesen war.

Auch wenn die nun folgenden documenta-Ausstellungen mit eigenen thematischen Akzentuierungen oder ganz undidaktisch mit einem Sinnenfest zugunsten ästhetischer Erfahrung aus der Kunstbegegnung(5) angelegt waren, folgten sie doch weitgehend dem tradierten, unausgesprochen und selbstverständlichen Anspruch der Ausstellungsreihe, mit ihrem Fokus, das zu präsentieren, was der jeweilige Kurator als zeitgenössische Kunst im Augenblick definierte.

Dann, 1997, wurde Kunst von der Kuratorin Catherine David als Theorieillustration einer retroperspektivischen Weltinterpretation verstanden; es war ein Konzept, das Politik und Gesellschaft als ersten Auftrag der Kunst ansah. 2002 war die Welt und die Kunst nach dem 11. September mitsamt den Fragen nach den Prioritäten eine andere. Nun war die Globalisierung mit ihren Umwertungen in Kassel angekommen. Der Kurator Okwui Enwezor ließ die documenta einige Zeit zuvor mit vier, von ihm sogenannten Plattformen philosophische wie politische Themen in einem dezidiert internationalen, von Kassel und Deutschland oft entfernten Kreis Intellektueller diskutieren. Und 2007 blieb trotz der programmatischen Frage des Kuratorenteams „Bildung – was tun?“ wenig außer einem mäßig kuratierten Gemischtwarenladen. Völlig widersprüchlich auch die laut vorgetragenen Vermittlungsansätze dieser documenta: Während der Kurator Roger M. Buergel über einen Audioguide exklusive Deutungshoheit über seine documenta erlangte, wurde für das Vermittlungsteam die Parole vom partizipativen Besucher ausgerufen. Dieser Besucher bewege sich selbst bildend durch die Ausstellung, inspiriert durch den Dialog und die vielen Fragen oder auch Kommentare der zu Animateuren konzeptionell beförderten Vermittler.

Und 2012? Mit der frühen Parole von der „Maybe-Education“ hat sich die Kuratorin zugunsten der Vermittlungsansätze aus jeder Verantwortung genommen. Das jeder Pädagogik immanente Moment des Scheiterns wurde hier zu einer Apriori-Legitimation erhoben, die sich kokett gegen jede Kritik abschirmte. Nachdem die Zerstörung Kassels im Zweiten Weltkrieg ein erster inhaltlicher Anknüpfungspunkt im kuratorischen Konzept wurde, schmeichelte die Kuratorin mit ihrem Zugriff auf das „weltgewandte Personal“ (worldly companions), das sie primär in Kassel suchte, der Stadt ein weiteres Mal. Bei den Führungen sollten nun Kasseler Bürger, pensionierte Polizisten, Richter, KFZ-Mechaniker und auch ein ehemaliger Finanzminister der Regierung Schröder ihre Sicht einbringen. Freilich nur nach strenger Kaderschulung im theoretischen Hintergrund und mit Übungen in der Rhetorik, leider bis zum Tag der Eröffnung nicht im Gegenüber zu den realen Ausstellungsobjekten.

Mit Blick auf das Kunstsystem bleibt als geschichtsnotorische Markierung bestimmt die bislang noch nicht ausführlich diskutierte Entgrenzung des Kunstbegriffes der dOCUMENTA (13). Auch die Nutzung der institutionellen Macht für die sehr politische Fokussierung unbeachteter Kunstterritorien wie Kabul oder Kairo zeigt sich als ein Merkmal der Ausstellung von 2012. Die Globalisierungsperspektive, 2002 durch Okwui Enwezor eingeführt, wurde nun konkret auf Afghanistan mit dem Fokus „Zerstörung und Wiederaufbau“ gelenkt.(6) In Kabul waren für gut vier Wochen 27 Künstlerinnen und Künstler der dOCUMENTA (13) vertreten. Ingo Arend schwärmte im Feuilleton der taz (26.6.2012) begeistert:

„So hat Carolyn Christov-Bakargiev ausgerechnet in Südasien die Gründungsidee der Documenta wiederbelebt: Arnold Bodes Idee von der Kunst als Aufbauhelfer nach der Katastrophe des Kriegs. Was für ein Bild. (…) Die resolute Kunsthistorikerin rückt den Schleier über der blonden Lockenmähne zurecht und diskutiert mit Kunststudenten beiderlei Geschlechts über ihr Credo: ‚Kunst muss eine Rolle im sozialen Prozess der Rekonstruktion spielen und Imagination ist die treibende Kraft darin´, sagt Bakargiev. (…) Bakargievs Brückenschlag Kabul – Kassel wird als rarer Fall einer Intervention in die Kunstgeschichte eingehen, die wirklich die Kräfte der Zivilgesellschaft weckte, die das Afghanistan der Zukunft tragen muss.“

Mit Blick auf die Gesamtveranstaltung ist das Lob zurückhaltender, der documenta-Experte Harald Kimpel sieht im Interview mit dem Deutschland-Radio allenthalben „Grenzniederlegungen“ und vermisst die Fokussierungsabsicht gegenüber der Kunstwelt: „Diese objektive Dokumentierungsabsicht, die ist der documenta offensichtlich definitiv und massiv diesmal abhanden gekommen, und es geht dabei eigentlich nicht nur um die Erweiterung eines Kunstbegriffes, sondern um die Abschaffung des Kunstbegriffs. Und das ist eben eine ganz radikale Variante diesmal, Carolyn Christov-Bakargiev sagt selbst, das, was die Teilnehmenden – von Künstlern ist teilweise gar nicht mehr die Rede –, das, was die Teilnehmenden zeigen, kann Kunst sein oder auch nicht“(7).

Differenzerfahrung – nah am Leben

Doch für eine pädagogische Perspektive bleibt die pointierte Frage außerhalb des Kunstdiskurses: Was leistet die dOCUMENTA (13) für einen kunstpädagogischen Bildungsprozess?

Vorab eine Behauptung: Kunstpädagogische Bildung gelingt aus Differenzerfahrung als Motor der Erkenntnis. Es geht um eine Differenz, die im dialogisierenden Reflektieren Kohärenz begünstigt. Differenz und Reflexion stützen so eine sich konturierende, immer wieder fragmentierte Identität. Dabei leitet nicht die Frage „Was ist Kunst“, sondern „Wann ist Kunst, unter welchen Bedingungen“ (Danto)? Kunst als pädagogisches Medium existiert erst, wenn man sie gemeinsam betrachtet und erörtert – ein kunstpädagogisches Kerngeschäft. Dabei geht es nicht um das Verteilen von Noten, sondern um Auseinandersetzung mit den Offerten der Künstler.

Das sind Nachdenkangebote und im Nachdenken über die größeren Zusammenhänge, die vernetzte Welt, entsteht Kultur als Modus, die Veränderungen in dieser Welt wahrzunehmen und im Erörtern zu verstehen. „Man sagt, es sei den Künstlern gegeben, die sogenannten toten Winkel unserer Wahrnehmung zu erhellen, zu illuminieren, in die Grauzonen zu leuchten.“ (Herzog 2012 (8))

Die Kunst, die dieses Nachdenken anstößt, bildet die Welt als Lebensform und als Lebensverhältnisse nicht mehr unmittelbar ab. Nur dort, wo die Kunst als Repräsentation mit Magritte’schem Impetus mitsagt: Ceci n’est pas le monde,(9) wo im Abbild, in der Spiegelung die Differenz zum Alltag mehr als nur sichtbar wird, wo sie geradezu körperlich spürbar wird, kann ästhetische Erfahrung Ausgang und Anlass für Erkenntnis sein.

Es geht mit der Kunst um die Repräsentation der Präsentation, es geht um die gespannte Aufmerksamkeit für die Differenz zwischen dem Gezeigten und dem Möglichen. Diesen Spannungsbogen muss Kunst stiften, wenn sie über ästhetische Erfahrung als Aggregat von Bildung in didaktischer Absicht in Anspruch genommen werden will.

Der Kunstkritiker Arthur Danto brachte mit „aboutness“ einen sehr fruchtbaren Begriff in die Diskussion ein. Das ist jene Kunst, die etwas über das Leben „sagt“, aber mit einer Differenz zu jenem Leben, mit etwas, das jenes Leben so nicht hat (Danto 1991: 135). Diese Werke werden in der Rezeption erst dann fruchtbar, wenn diese Rezeption mit Max Imdahl nicht durch ein „wiedererkennendes Sehen“, sondern durch ein „sehendes Sehen“, ein die Differenz aufspürendes und sprachlich benennendes Sehen geleitet wird. Dann führt dieses sehende Sehen in einem zweiten Schritt der spekulierenden, hermeneutisch balancierenden Verknüpfung hinein in die Fragen einer sich „bildenden Identität“. Der Kunstdidaktiker Kunibert Bering hat den identitätsstiftenden Beitrag des Visuellen für eine weiterreichende kulturelle Kompetenz betont: „Hier eröffnen sich ausgedehnte Felder der Kommunikation, in denen die Suche nach Identität Herausforderungen kunstpädagogischen Handelns geworden ist. Dass dabei Unvorhersehbares, Brüche und Differenzen einzubeziehen sind, ist im Kunstunterricht immer wieder zu erleben – dies reflektiert in besonderer Weise den Rhythmus von Destruktion und Selektion, von Konstruktion und Rekonstruktion kultureller Systeme. Kultur kann nicht einfach übernommen werden – sie wird vielmehr in einem Prozess der ständigen Um- und Neugestaltung anverwandelt“. (Bering 2008: 3)

Die drei Kompetenzen der Kunstpädagogik

Die Kunstpädagogik führt die wahrgenommene, gespürte, erfahrene Differenz als Dialog und Recherche zurück zu einer Reduktion – nur in Reduktion gelingt kohärente Identität, die in einer fragmentierten Welt aus These und Gegenthese, aus Übereinstimmung und Widerspruch sich bildet und doch notwendigerweise Fragment bleibt.

Solch ein Bildungsprozess ist nicht an einem Wissen über Gegenwartskunst orientiert, sondern zielt auf spezifische Kompetenzen, also die klassischen basalen Fertigkeiten und Fähigkeiten als methodische Instrumente der Auseinandersetzung mit Welt, die das Subjekt im Umgang mit Kunst ausbilden kann. Drei zentrale Kompetenzdimensionen(10) darf ich dazu aufrufen, schließlich will eine so avancierte Kunstpädagogik nicht im Abseits stehen, wenn sie zumindest im Mittelfeld spielen darf:

  • Die Staunkompetenz, die in der ästhetischen Erfahrung aus der Störung der Routinen im Sehen, Wahrnehmen und letztlich des verfestigten Urteilens resultiert.
  • Die Widerspruchskompetenz, die sich als produktive Störung einer affirmativen Like-it-Alltagskultur, gegen Schwarmverblödung und andere normative Prägungen vor allem der sozialen Netzwerke ausbildet. Die Widerspruchskompetenz resultiert auch aus einer komplementären Didaktik zum Digitalen, die das Taktile revalidiert, die das Angesichtige gegenüber dem Entfernten in ihr Kalkül nimmt.
  • Die Autonomiekompetenz, die infolge der ersten beiden Kompetenzen das Subjekt vor allem mit einer sozialen und kulturellen Verortungsfähigkeit und damit mit einer intersubjektiven Relativierungsfähigkeit ausstattet. Letztlich gehört dazu auch die Ausbildung von Alterität in einem sukzessiven Annähern an die Fähigkeit zur Perspektivübernahme.

Die vielen Bilder einer vernetzten Welt machen uns mit Vielem, zunächst Fremdem vertraut. So ist ein zentrales Bildungsziel in einer globalisierten Welt das Annähern an Alterität. Es geht um den Versuch des Verstehens des Fremden, des Anderen, dessen Andersheit es in der Differenz zum Eigenen und Vertrauten zu erkennen und so auch zu respektieren gilt. Dies meint ein Akzeptieren, dass von außen betrachtet der andere nicht nur ein anderes Subjekt ist, sondern etwas anderes als die Subjektivität ins Spiel bringt (Masschelein/Wimmer 1996: 11 f.). Al­terität heißt, das Fremde, z. B. das Fremde in und mit der Kunst, durch einen radikalen Perspektivwechsel zuzulassen, das zuallererst die eigene Betrachtersubjektivität und mithin unsere Wertigkeiten vorerst suspendiert. Dazu kann Gegenwartskunst anstiften. Eine leichte Übung ist dieses nicht.

Kunst maskiert die Verhältnisse und deren Objekte. Diese Maskierung bildet die notwendige Differenz zur Alltagsästhetik aus, die notwendig ist, um Aufmerksamkeit zugunsten von Reflexion und Bildung zu schaffen. Denn die Maskeraden der Kunst als Spiegel der vielfältigen „Verkleidungen“ des Ichs verweisen auf Objektivierung und Distanzierung in einem Prozess der Ich-Bildung. Die Differenzerfahrung aus der Kunst gegenüber dem Alltag stiftet eine unerlässliche Motivation für eine sowohl sprachlich-rezeptive wie ästhetisch-praktische Aushandlung und Bearbeitung von Fragen des Ichs in seiner Welt.

Das Differenzpotenzial der Kunst wird in solch einem Konzept zugunsten eines Ichs verstanden, das tagtäglich den brüchigen Kern seiner Identität neu umkreist und die unabweisbaren Differenzierungen versucht zu stabilisieren. Die Phänomenologin Käte Meyer-Drawe verweist auf die historischen wie jüngeren Verlustanzeigen, die dem Ich seine homogene Eigenheitssphäre aus ganz unterschiedlichen Positionen heraus bestreiten (Meyer-Drawe 1990: 20). Ohne diese Positionen teilen zu müssen, verweisen sie doch auf die Kunst als einen fruchtbaren Spiegel, diese „Provinzen des Bewusstseins“ aufzuschließen.

Bleibt die Frage: Kann die Kasseler Gegenwartskunst mit ihrem doch sehr dezenten Charme ästhetischer Reduktion an diese Provinzen herankommen? Haben die Werke die Qualität eines fragenden Spiegels oder sind sie aller meist nicht nur gefällige Bestätigungen?

Egalitätsnihilismus und Negation

Auf der Folie einer auf das Subjekt zielenden Pädagogik ist die kuratorische Setzung der dOCUMENTA (13) mit ihrer These von der Deanthroplogisierung eine Kampfansage an Vernunft und Verstand.

Die medienwirksam von der Kuratorin im Vorfeld der Ausstellung ausgerufene Egalisierung grundsätzlicher Unterschiede in Natur und Kultur ist mehr als fahrlässig (so im ZEIT-Magazin 24/2012: 18). Hunde, Meteoriten und Menschen sind unterschiedliche Wesen, menschliches Handeln ist von einem Telos geprägt. Dies preiszugeben, ist fahrlässig. Die Kuratorin leistet der Gefahr einer weiteren diskursiven Dezentrierung und Deanthroplogisierung Vorschub, sie bereitet einem virulenten postmodernen Egalitätsnihilismus den Boden. Christov-Bakargiev leistet Beihilfe zur Negation einer pädagogisch essenziellen Wertedebatte; die Kuratorin negiert eine Didaktik, die das Subjekt fokussiert. Das ist besonders in historischer Dimension bemerkenswert, wenn diese documenta Zerstörung und Wiederaufbau zu ihrem zentralen Leitmotiv erhebt und dabei implizit auch nach Gründen der Zerstörung zu suchen vorgibt.

Das kuratorische Konzept birgt weitere Gefahren. Im kokett vorgetragenen Ökofeminismus lauert eine naive Hinwendung zur Natur, die mit Blick auf die konkreten, ökologisch intonierten Werke der dOCUMENTA (13) einem antiaufklärerischen Romantizismus gleichzusetzen sind – zu besichtigen ist in Kassel ein naiver, realiter politikferner Romantizismus, der schon einmal missbräuchlich vom Faschismus okkupiert wurde. Dieser in vielen, gerade von der documenta beauftragten Arbeiten aufscheinende Romantizismus,(11) die Hinwendung zur Natur als Abkehr von den gesellschaftlichen Bedingungen dieser Natur, findet im Biologen Ernst Haeckel, vor fast 100 Jahren verstorben, mit seinen „Kunstformen der Natur“ einen Theoriegeber, der unfreiwillig von den Nazis für ihre rassistische Ideologie herangezogen wurde. Selten war eine documenta in wesentlichen Fragen der Ökologie so fern der Alltagsnotwendigkeit. Kein Joseph Beuys als mal listiger, mal unmittelbarer Mahner, kein subtiler Nikolaus Lang als Spurensicherer jüngsten Absterbens. Stattdessen werden Ayuverda-Treatments und milde Entspannungsyoga geboten. Gezeigt wird ein Oikos, der von der Frau als erstem Naturwesen in Ordnung gehalten wird. Das sind romantische Illusionen: Im Aue-Park werden in in den verstreuten Holzhäuschen die Zumutungen der Zivilisation historisiert, abgedrängt. Schrebergartenidyllen als kleinbürgerliche Fluchten okkupieren das Gelände.(12) Kunst wird nicht als Störfaktor zugelassen; als großer Geist ferner Kulturen ist sie nett und vor allem auf das Brave zurechtgestutzt.(13) Diese documenta ist weich gespült und diffus, überbordend: „Für langsames Erschließen bleibt keine Zeit. Die Bewertung bleibt konstitutiv unabgeschlossen, wenn sie nicht ganz ad absurdum geführt ist. Die Frage ’na, wie findest du die Ausstellung?‘, klingt, als würde man gefragt: ’na, wie war’s gestern auf Google?’…. Man spürt, dass möglichst für alle was dabei sein soll, viele widersprüchliche Facetten für viele widersprüchliche Erwartungen,“ Jörg Heiser in einem Fazit in der SZ am 12.9.2012.

Nun ist es ein Glück, dass nicht alle Künstler/innen der Vorgabe der Kuratorin folgen und manche Kunst ihre Kuratorin überlistet hat. Auf die Arbeiten von William Kentridge oder Kader Attia ist zu verweisen, da hier eine multimediale Ästhetik einen komplexen Inhalt andeutet, nicht ausbuchstabiert. Auch die Wiederaufführungen der Arbeiten von Charlotte Salomon oder Ida Applebroog als notwendige Erinnerung sind zu nennen. Die Soundinstallationen von Janett Cardiff & Georges Bures Miller als subtile Wahrnehmungsirritation, das Hugenottenhaus unter der Choreografie von Theaster Gates mit den architektonischen Dekonstruktionen, die sich zuweilen zu poetischen Skulpturen fügen und gleich daneben die Körpererfahrung in der Regie von Tino Sehgal füllen die Liste der Arbeiten zugunsten anhaltender Erfahrung und Erkenntnis auf.

Kein Glück für eine Erkenntnis ist es, dass viele Arbeiten ohne den biografischen Link zum Künstler oder den konkreten Produktionskontext nicht im Ansatz zu verstehen sind: Der Geist von Apichatpong Weerasethaku zwischen den Bäumen der Aue ist als bloßer Artefakt der unmittelbaren Anschauung allenfalls ein überdimensioniertes Relikt, das der Geisterbahn entwichen ist. Von der künstlerischen, sehr kritischen Ironisierungsabsicht keine Spur!

Werden Sie skeptisch!

Immer wieder taucht in den Statements und Manifestation der Kuratorin ihre Hoffnung auf ein neues Sehen, auf die stille Kraft der Verwandlung auf. Dieser Verweis auf ein skeptizistisches Wahrnehmen, Denken und Urteilen, ein Prüfen im Dialog mit These und Antithese trifft das Zentrum jeglicher pädagogisch angeleiteten Erkenntnissuche.

Der von der Kuratorin im Vorfeld der Ausstellung geschickt platzierte Rückgriff auf Sextus Empiricus als einen der kaum bekannten Urväter der Skepsis erinnert an einen ganz grundsätzlichen Bildungsauftrag zu einer letztlich dialektischen Argumentationsweise einer Erkenntnissuche. Wahrscheinlich schienen Heraklit oder Michel de Montaigne der Kuratorin zu bekannt, um genügend mediale Aufmerksamkeit zu erzielen.

Sextus, dessen Beinamen keineswegs auf Empirie verweist, sondern die Zugehörigkeit zu einem Ärztebund indiziert, sagt: Keine Erkenntnis ist sicher, jedem Sinneneindruck und jeder Ableitung davon ist ein anderer Sinneseindruck mit Gegenthese entgegenzusetzen.(14) Alte Gewissheiten sollen überprüft werden – und dies weit ab des Kunstsystems. All die Sinneseindrücke einer für wahr genommenen Welt werden mit Sextus einer kritischen Revision unterzogen, das intendiert Selbstreflexion.

Das sind Anfänge eines hermeneutischen Balancierens, das eine mäandernde Erkenntnissuche als Bewegung beschreibt. Die Kuratorin findet dafür die bessere Sprache: „Dies ist keine simple Form von Relativismus, noch ist es Zynismus – es ist eine Form von Offenheit für den Raum des Propositionalen, des möglichen gemeinsamen Worlding.“ (Christov-Bakargiev 2012: 9, Kursivierung im Original.) An die Stelle des erneut völlig bedeutungsleeren „gemeinsamen Worlding“, einer Begriffsunschärfe, die auch die Übersetzung offensichtlich nicht zu heilen wusste, ist bescheidener eine Erkenntnissuche zu fordern, die eine frühe Festlegung meidet und jeder Dogmatik widerspricht.

Nun ist mit Duchamps Agnostizismus das Rütteln an den Bedingungen von Wahrnehmung und dem für wahr gehaltenen Schein, also die skeptische und auch negierende Frage nach der Wahrscheinlichkeit des für wahr Genommenen steter Selbstauftrag der Gegenwartskunst.

Ob nun die Arbeiten von Anton Zeilinger oder Alexander Tarakhovsky in ihrer fachwissenschaftlichen Hermetik und Komplexität dazu eignen, ein allgemeines Publikum in die besonderen Erkenntnisweisen von Quantenphysik und Genetik einzuführen, ist fraglich. Ob im Gegenüber als einem allenfalls neugierigen Vis-à-Vis zu den Genproben von Tarakhovsky eine skeptizistische Weltsicht gegenüber der Biotechnologie befördert werden kann, bleibt ebenso fraglich. Es bleibt zumindest bei der kuratorischen Geste gegenüber dem Kunstsystem, seiner Relativierung, seiner Entgrenzung hin zu anderen Erkenntnisfeldern aus den Naturwissenschaften.

Die dOCUMENTA (13) gestaltet sich aus einem Rhizom, dessen Verknüpfungen in ihrer Evidenz der nur sprunghaften und wenig konzisen Assoziationsgabe der Kuratorin geschuldet sind:

„In diesem Jahr bleibt ihnen [den Besuchern, J.K.], sofern sie mehr als nur einen Event erwarten, lediglich die Wahl, die gebotenen Gleichsetzungen als absurd oder als geschmacklos zu beurteilen. Oder was soll es bedeuten, wenn sich die in Auschwitz ermordete Charlotte Salomon mit der ägyptischen Mubarak-Gegnerin Anna Boghiguian einen Raum teilen muss? Wenn ein Objekt von Man Ray mit Eva Brauns Parfüm in einer Vitrine vereint ist?“ (Ullrich 2012: 105) Hart urteilt der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich.

Doch das „Brain“, jenes kuratorische Epizentrum in der Rotunde des Erdgeschosses im Fridericianum, ist als paradigmatischer und didaktischer Gral eingerichtet und gibt beredte Auskunft zu Geist und Konzept der dOCUMENTA (13). Lawrence Weiner durfte, auch eine der vielen Auftragsarbeiten der dOCUMENTA (13), die Endlossentenz „In the middle of“ der irrigen Egalisierung als Motto auf die trennenden Glasscheiben vom „Brain“ zum Foyer mitgeben. In dieser nur kategorial offenen Mitte, eben dem „Brain“, trifft dann ein Badetuch aus Hitlers Wohnung in München auf eine gedrängte Hängung von Morandi, arte povera trifft auf historische Illustrierte. Alles wird mit allem verknüpft. Das Böse wird banal, und andernorts auf dieser documenta wird das Gute im Bösen mit den Apfelzeichnungen des von den Nazis eingesperrten Pfarrers Korbinian Aigner gelobt.

Diese postmoderne, mehr als nur rhizomatische Weltsicht sprengt jede Konstruktion und Rekonstruktion eines identitätsstiftenden oder diskursiven Ordnungssystems, denn die Knoten des Rhizoms verknüpfen nichts. Das von Christov-Barkagiev großflächig vom Kulturbahnhof bis hinab in die fernen Büsche der Karlsaue ausgelegte Rhizom ist eine Stolperfalle für den nach Erkenntnis Suchenden.

Der Kunstwissenschaftler (und studierte Kunstpädagoge) Michael Hübl bringt das groteske Scheitern der Kuratorin mit ihrer dOCUMENTA (13) und dem Nukleus „Brain“ in gründlicher Analyse auf den Punkt: „Wer weiß, zu welchen Trugschlüssen das sensationslüsterne Arrangement im „Brain“ der d13 führt: Die Zusammenstellung ist ausreichend willkürlich und oberflächlich und erlaubt somit jeder und jedem, sich eine eigene Sicht zusammenzubasteln. Hier das Foto eines KZ-Verbrennungsofens, dort die Nazi-Devotionalie: Die Zusammenstellung mutet an wie eine zynische Adaption des Mottos auf dem kunstvoll geschmiedeten Haupttor des Konzentrationslagers Buchenwald. Da wundert es nicht, dass in dieser „Gehirn“-Region der Kasseler Schau ein Schaukasten mit einigen Ausgaben der Zeitschrift „Vogue“ steht, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs erschienen sind. Liefern sie doch das Modell, nach dem die einzelnen Bausteine der dOCUMENTA (13) ausgewählt und ausgerichtet wurden. Denn das „Brain“ und die von ihm abgeleiteten Ausstellungskomponenten funktionieren eben nicht nach dem Prinzip Kunst- und Wunderkammer, sondern bilden nur eine als Kunst- und Welterklärungsveranstaltung getarnte hypertrophe Variante des Modells „Illustrierte“. Ein paar Häppchen von dem, ein paar von jenem, Sex & Crime inklusive, und zwar in ultra-obszöner Verbindung: vis-à-vis der barbusigen Lee Miller ein weißes Frotteetuch mit den Initialen A.H. – als habe der größte Massenmörder des 20. Jahrhunderts nur darauf gewartet, die forsche Amerikanerin flauschig zu umhüllen.“ (Hübl 2012: 30 f.)

Das „Gehirn“ ist nicht mehr als eine Verweigerung einer ernsthaften These jenseits eines schon sehr gealterten „Anything goes.“ Und dies an einem Ort, an dem schon von der ersten documenta an ganz zentrale Positionierungen den Geist der jeweiligen Ausstellung intonierten. So waren 1977 die „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ von Joseph Beuys oder 1992 die Arbeit „Anthro/Socio“ von Bruce Nauman wegweisende Statements einer kuratorischen Leitung, die mit ganz anderer Verantwortlichkeit als 2012 auftrat. Dort wurden in das Entree zentrale Fragen und Thesen gestellt! Der sanfte Erlebnisparcours der dOCUMENTA (13) dagegen bleibt an vielen Stationen selbstreferenziell, selbstgefällig und ohne ein Potenzial zugunsten einer Bildung aus Reibung. Anders die zeitgleiche Manifesta 9 in Genk, die ohne linearen Parcours „eigene Marschrouten durch das assoziative Inselmeer“ anbietet, sich nicht „im lauten Aktionismus verliert“ und „auch um die Amüsierliga einen Bogen macht“, dafür mit „theatralisch dichten Atmosphären“ „Durchblick verschafft und den Humor nicht vernachlässigt.“(15)

1987 zur documenta 8 setzte Ian Hamilton Finlay seinen „View to the temple“ sperrig und unausweislich in die Sichtachse zwischen barocker Orangerie und neoklassizistischem Tempel auf der Schwaneninsel. Die Inschriften seiner Guillotinen repetierten den Schrecken aus der Umsetzung der großen Ideen der Aufklärung, die ein „verderbtes Geschlecht vorgefunden“ habe, wie schon Friedrich Schiller resignativ seine Zeit in seinen Briefen zur Ästhetischen Erziehung diagnostizierte. Gebunden an die Widersprüche der Französischen Revolution, evozierten Finlays Skulpturen auf einer Sichtachse ein Nachdenken über die auch terroristischen Ausgänge unserer Moderne. Ebenso zielt der Amerikaner Sam Durant 2012 mit seiner bildhauerischen Skulptur, „Scaffold“, 2012, auf politische Kritik, konkret auf die Praxis der Todesstrafe in den USA. Nun steht aber die komplexe bildhauerische Komposition von Durant, gerne als Aussichtsturm im Aue-Park von den documenta-Besuchern genutzt, in einem seltsamen Widerspruch zu ihrem auch mit dem Titel assoziierten Anspruch: „Scaffolding“ meint im Englischen ein Gerüst als Denkanstoß, das nach gelungenem Lernfortschritt entfernt wird. Welch zynisches Verkennen des Sprachspieles. Durants verschachtelte Galgenfragmente führen nicht zum Nachdenken, es ist gewiss kein „beißendes Anti-Denkmal, das auf Geschichte und Gegenwart der Todesstrafe aufmerksam machen will,“ so der Kurzführer (S. 252).

Wann bildet Kunst?

Die Kunstpädagogik argumentiert zu oft aus einer solistischen, geradezu dezisionistischen Position, die eindimensional von „Kunst aus“ und ohne fundierte pädagogische Begründung predigt. Bildung im Medium der Gegenwartskunst heißt dagegen auch Orientierung für das Subjekt, es ist eine Kunstpädagogik, die vom Subjekt und seinen Interessen auf die Kunst als Form des kulturellen Ausdrucks fragt.

Diese kunstpädagogische Position geht von einer punktuellen, im Pendeln der Methoden auch dekonstruktivistischen Entfernung vom Objekt aus. Zugleich geht sie auf das anvertraute Subjekt zu, denn es gilt dabei, Urteilsvermögen von Kindern und Jugendlichen aus polyfokalen Analysestandpunkten heraus zu stärken.

Identität und Orientierung werden kunstpädagogisch begleitet im Ausbalancieren zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Nahem und Fremdem. Das meint einen Bildumgang, der von Kindern und Jugendlichen ausgehend das Bilderarsenal befragt und dabei sehr wohl um die sehr „genaueren Distinktionen“ (Boehm 1993: 112), also die unterschiedlichen Erkenntnisleistungen der Bilder weiß. Doch die Wahl dieser Bilder resultiert aus einer Suche und Verortung durch den jungen Rezipienten selbst. Möglichst vor Ort gibt der Lehrende die Rahmung vor, gibt Hinweise und Zeitlinien zur Rezeption, lässt aber den Fokus zugunsten von eigenwilligem Finden als Suchen, zugunsten von Überraschung und latentem Widerspruch offen. Auswahl und Bedeutungsexegese werden nicht mehr vom Lehrkatheder herab diktiert.

Das führt in der Methode auf eine elaborierte Hermeneutik in der Rezeption zu. Der Philosoph Wilhelm Dilthey bündelte jegliche Wissensform der Geisteswissenschaften anhand der drei Begriffe Erleben, Ausdruck, Verstehen.(16)

Wenn wir diese Trias auf die Kunst beziehen, so kann das weit gefasste Bild der Gegenwartskunst als Ausdruck von disparaten Lebensäußerungen in einer globalisierten Welt verstanden werden.

Es sind künstlerische Statements, in denen menschliche Zustände als Erleben und Erlebtes, als Fragen und mögliche Antworten sich manifestieren. Doch letztlich gilt es, ein Verstehen gegenüber dem Ausdruck des Erlebten anzubahnen. Im Verstehen wird Erleben aus ästhetischer Erfahrung zur Bildung.

Dieses Verstehen bewegt sich in einer Figur des Pendelns zwischen den Bildern – es geht um den Spielmoment der Gedanken, um die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden nach Kleist: hin- und herpendeln zwischen Bedeutungen und Möglichkeiten. Der kunstpädagogisch eingebettete Dialog ist solch eine sukzessive „Verfertigung“ der Gedanken hin zum Urteil.

Solch ein „bewegtes Denken“ ist auch Bestandteil einer ästhetischen Reflexion, die letztlich auf Kants Kri­tik der Urteilskraft zurückgeht. Kant sieht in der reflek­tierenden Urteilskraft auch den „Witz“ oder den „Finder von Ähnlichkeiten.“ Das meint die nie gelingende und doch immer antreibende Analogie zum Leben, die gewitzte und kluge – weil nur diskursiv mögliche – Überbrückung der Differenz zwischen Kunst und Leben. In diesem Spannungsbogen ist Bildung als Staunen, als Widerspruch und als anwachsende Autonomie zu Hause.

„Im reflektierenden Überlegen mög­licher Zusammenhänge treffen die Momente des grü­belnden Gedankenspiels und des Witzes als dem ‚Fin­der von Ähnlichkeiten‘ zusammen.“ (Wirth o. J.) Solch deutendes Gedankenspiel ist zugleich von einer Haltung des su­chenden, vorwärts gerichteten, des allemal antidogmatischen Zweifelns geprägt – ganz im Sinne von Sextus Empiricus. Solch eine letztlich ästhetische Reflexion als ästhetisches Spiel hat nicht die Form einer Suche nach Bestimmung, an der es keinen Zweifel mehr gibt, sondern die Form eines Ausprobierens von weiteren Bestimmungen, die ebenfalls möglich sind (Kern 2000: 181). Diese Haltung ist nicht exklusiv durch Reflexion bestimmt. Ebenso geht Handlung als ästheti­sche Praxis in solcher Methodik in einen Proben­raum für das Experiment und Spiel, jenes Spiel, das nicht nur für Friedrich Schiller erst menschliche Freiheit bedinge und die Kraft habe, sich gegen den Zeitgeist anzustemmen.

Sind im Erdgeschoss solch einer Bewegung zugunsten von kunstpädagogischer Bildung Wahrnehmung, gründliches, verlangsamtes Sehen und im Dialog geschärftes Urteilen zu Hause, folgt in der Beletage die Irri­tation, das neue Erkennen durch ein Verrücken des Be­kannten zum Unbekannten. Das leistet Gegenwartskunst, wenn sie den Spannungsbogen in einer beunruhigenden Differenz zur Alltagsästhetik aufmacht. Im Dialog unter diesem Spannungsbogen geht es um das offene, das zweifelnde und entwerfende, das bewertende und selbstreflexive Denken, das das Staunen hin zum Verstehen und zur Verortung führt.

In solch einem Bildungsprozess führen Sokratische Fragen zum produktiven Dialog:(17) Gemeint ist, dass man einer Person zu einer Erkenntnis verhilft, indem man sie durch geeignete Fragen dazu veranlasst, den betreffenden Sachverhalt selbst herauszufinden und so die Einsicht als Verstehen zu fördern. Den Gegensatz dazu bildet Unterricht, der dozierend belehrt. Die Sokratischen Fragen, nicht nur vom Lehrer aufgerufen, sind (er)klärende Fragen, es sind Fragen, die Annahmen prüfen und es sind Fragen, die Gründe und Beweise prüfen. Diese Fragen insistieren auf der Inventur von Ansichten oder Perspektiven und lockern deren mögliche Hermetik damit auf. Es sind Fragen, die Implikationen und Konsequenzen prüfen, die Wahrnehmung als Falschnehmung zur Disposition stellen. Es sind Fragen, die Antworten als begründete Meinung hervorbringen.

Diese „Figur des erkenntnisstiftenden Fragens“ kann auch als Regie für eine Orientierung der jugendlichen Rezipienten im Feld der Gegenwartskunst gelesen werden: Mit Fragen an die Kunst herantreten, die Fragen und Antworten mit den anderen Rezipienten erörtern und mit neuen Fragen wieder in das Feld gehen.

Kunst ist kein didaktisches Medium – das meint auch eine unentrinnbare Zerrissenheit in jenem Augenblick, wo über die individuelle Rezeption, den ästhetischen Genuss der pädagogische Fokus aufgemacht wird: Das nur scheinbar gelüftete Geheimnis verliert seine mystische Kraft im Augenblick der Entzauberung.

Endnoten

1 Die Schreibweise der jeweiligen documenta-Ausstellung wird entsprechend der historisch gewählten Form gewählt.

2 Die Auseinandersetzungen um die Meinungsführerschaft von Bode und Haftmann hatten nach 1964 zu einem 24-köpfigen documenta-Rat mit Arbeitsausschüssen für Themenfelder geführt, Bode galt weiter als verantwortlicher Ausstellungsleiter, an die Stelle von Haftmann als einflussreichem Theoriespender war der Holländer Jan Leering getreten.

3 KUNST+UNTERRICHT hatte in ihren Anfangsjahren als Informationsorgan über Kunst eine weitaus herausgehobenere Stellung denn heute: Der Markt an Fachzeitschriften war wenig differenziert; die Zeitschrift hatte u.a. deshalb auch viele Leser außerhalb der Schule.

4 Gründlich dazu: Kimpel, Harald (1997): documenta. Mythos und Wirklichkeit. Köln.

5 So die documenta 1982, die abseits von Thesen und Funktionen mit der Rudi Fuchs der gezeigten Kunst Eigenwert und Aura zurückgeben wollte.

6 Nicht jede Außenstelle der dOCUMENTA (13) kann eine politische Begründung der kuratorischen Zuwendung reklamieren: Der zweiwöchige Aufenthalt des Leitungsteams der dOCUMENTA (13) mit ein paar intellektuellen Diskutanten im kanadischen Banff als Nachdenk-Workshop im August 2012 ist eher in der Rubrik des luxuriösen Betriebsausfluges zu verbuchen. Die Co-Kuratorin charakterisiert dies in der Lokalpresse. „Das Banff-Center wurde extra gegründet, damit Leute hierherkommen und in Ruhe arbeiten und denken können. Das Draußensein ist dabei ein wichtiger Teil. Ich bin eigentlich nicht so ein Naturmensch, aber wir sind einmal acht Stunden gelaufen und konnten uns dabei toll unterhalten. Wir haben sogar einen Bären getroffen.“ (Chus Martínez in der HNA vom 17.8. 2012).

7 Quelle: www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1854524/

8 So der Cheffeuilletonist der NZZ am 25.8. 2012 in der Neuen Züricher Zeitung im Zusammenhang der dOCUMENTA (13).

9 Diese Argumentation greift auf ein ein Sprachbild des Erziehungswissenschaftlers Klaus Mollenhauer in seinem Band: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. Weinheim/Basel 6. Auflage 2003: zurück.

10 Als den wesentlichen Beitrag zur Kompetenzdiskussion in der Kunstpädagogik ist zu verweisen auf Maike Aden/Maria Peters: Chancen und Risiken einer kompetenzorientierten Kunstpädagogik. In: onlineZeitschrift Kunst Medien Bildung. https://zkmb.de/ [Zugriff 1.9.2012]

11 Als Beispiel: Pierre Huyghe, Kristina Buch, Brian Jungen u.a.

12 Als Beispiel: Das „Sanatorium“ von Pedro Reyes oder der „Geist“ von Apichatpong Weerasethaku u.a..

13 Vgl. zu diesem Aspekt: Kia Vahland: Jedes Tier ist ein Künstler. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 171 vom 26.7. 2012:11

14 Vgl. zu Sextus Empiricus u.a.: Janáček, Karel: Studien zu Sextus Empiricus, Diogenes Laertius und zur pyrrhonischen Skepsis. Berlin 2008 oder Breker, Christian: Einführender Kommentar zu Sextus Empiricus‘ „Grundriss der pyrrhonischen Skepsis“, Mainz, 2011, auch online: ubm.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2011/2546/.

15 Zitate aus der Ausstellungsbesprechung „Quo vadis, Kapitalismus. Die Manifesta 9 auf der nordostbelgischen Zeche Waterschei setzt starke Zeichen“. In: FR vom 3.9. 2012:20.

16 Vgl. dazu: Mauder, Stefanie (2006): Die Bedeutung der „Geschichtlichkeit“ für die geisteswissenschaftliche Pädagogik. Marburg; oder Schenz, Axel (2007): Erlebnis und Bildung: die Bedeutung des Erlebens und des Erlebnisses in Unterrichts- und Erziehungsprozessen; eine problemgeschichtlich-systematische Untersuchung. Karlsruhe.

17 Vgl. dazu auch Mugerauer, Roland (2012): Sokratische Pädagogik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Proprium des platonisch-sokratischen Dialoges. 2. Auflage Marburg und vom gleichen Autor im thematischen Zusammenhang (2012): Kompetenzen als Bildung? Die neuere Kompetenzenorientierung im deutschen Schulwesen – eine skeptische Stellungnahme. Marburg.

Literatur

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Bering, Kunibert (2008): Kunstdidaktik und Kulturkompetenz. In: Schroedel Kunstportal, Nr. 03.

Danto, Arthur C. (1991): Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt/Main.

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Ehmer, Hermann K. (1977): „ … weshalb ich nicht über die Dokumenta schreiben will“. Ein Brief von Hermann K. Ehmer. In: K+U Heft 46: 38 f.

Hartwig, Helmut (1977): Rückgriffe und Verdunkelungen auf der documenta. In: K+U Heft 46:42 ff.
Hübl, Michael (2012): Eine Omnipotenzphantasie. In: Kunstforum International, Band 217: 27 ff.

Kern, Andrea (2000): Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Frankfurt/M.

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Masschelein, Jan /Wimmer, Michael (1996): Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit. Sankt Augustin.

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Selle, Gert (1988): Gebrauch der Sinne. Reinbek.

Selle, Gert (1990): Über das gestörte Verhältnis der Kunstpädagogik zur aktuellen Kunst. Eine Kritik mit praktischen Konsequenzen. Hannover.

Ullrich, Wolfgang (2012): Ironiefrei und humorlos. In: Focus Nr 31: 104 ff.

Wirth, Uwe: Abduktion und ihre Anwendungen. Quelle: www.rz.uni-frankfurt.de/~wirth/abdanw.htm (Datum des Zugriffs: 19.8. 2012).

Von Johannes Kirschenmann

Veröffentlicht am 14. September 2012

Zitiervorschlag

Kirschenmann, Johannes: Zwischen Differenz und Kohärenz. Bildungschancen der Gegenwartskunst, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2012. Quelle: https://zkmb.de/id177/; Letzter Zugriff: 19.03.2024

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