Vorsicht vor Haltungsschäden

Die Autorinnen des Beitrags „Kunstpädagogische Kompetenz braucht eine Haltung“ lenken den Blick auf ein wesentliches Moment kunstpädagogischen Handelns, wenn sie auf die Haltung verweisen, die Lehrende auf diesem Feld entwickeln sollten. Sie wenden sich damit zu Recht gegen eine technokratische Auffassung und Realisierung von Bildung, wie sie sich seit nunmehr schon 13 Jahren im Zuge der von der OECD durchgeführten PISA-Rankings etabliert hat. Im Unterschied zur hier favorisierten Orientierung an pragmatischen Kompetenzen, über deren erfolgreiche Vermittlung testbasierte Evaluationen statistisch sicherbare Erkenntnisse liefern – so jedenfalls der weithin geteilte Glaube –betont die Darstellung von Lenk/ Wetzel die personale Beziehung zwischen Lehrer und Schüler als ein Kerngeschehen von Unterricht. Dies wird insbesondere im Kunstunterricht als bedeutsam erachtet, wo die gestalterische Arbeit der Schülerinnen und Schüler ein zentrales Lehr- und Lerngeschehen darstellt. Sabine Lenk und Tanja Wetzel verweisen in diesem Zusammenhang auf ein ganzes Bündel an pädagogischen Kompetenzen, die Lehrende hier aufweisen sollten, wenn sie ihre Schüler in den Prozessen eigener Werkgestaltung fördernd und fordernd begleiten wollen. Liest man den Text aufmerksam, so lassen sich vier Bezugsgrößen, vier Teilelemente des kunstpädagogischen Prozesses erkennen: der Schüler, der Lehrer, das Werk, welches gestaltet werden soll, und auch die Inhalte, die dabei eine bedeutsame Rolle spielen. Allerdings werden diese vier Elemente in der Darstellung ungleich gewichtet, weshalb eine gewisse Schieflage entsteht, wollte man aus dem Gesagten herauslesen, wonach der Untertitel des Aufsatzes fragt: „Was macht eine ‚gute‘ Kunstlehrerin, einen ‚guten‘ Kunstlehrer aus?“

Ohne Frage treffen die ausgeführten Aspekte zu. Kunstlehrer sind dann gut ausgebildet, wenn sie über genügend fachliche und methodische Kenntnisse verfügen und selbst künstlerische Erfahrungen gemacht haben, die sie allererst dazu befähigen, solche Prozesse bei Schülerinnen und Schülern hilfreich zu begleiten. Die personale Beziehung zwischen Lehrer und Schüler spielt in dem Moment eine besondere Rolle, wo der Schüler sich in seinen Gestaltungsversuchen auf die Suche nach einem eigenen Ausdruck begibt und sich insofern auf unsicherem Terrain bewegt: sowohl was das Gelingen oder Misslingen seiner Arbeit anbetrifft als auch was die Tatsache anbetrifft, dass er hier etwas von sich als Person offenlegt – im Prozess des Machens, im Risiko des Scheiterns, in der Darstellung persönlicher Sichtweisen und Vorstellungen. Der Kunstlehrer ist hier aufgefordert, mehrere Perspektiven einzunehmen: sowohl auf den Schüler, seine Möglichkeiten und Grenzen, seine Absichten und Vorsichten, als auch auf die Sache, im Gestaltungsprozess das entstehende Werk. Dieses „Oszillieren“, dieses „Abgleichen“ zwischen „Subjekt- und Objektdimension“ sprechen die Autorinnen durchaus an. Doch legen sie in ihren Darstellungen das Gewicht doch schließlich sehr auf die Seite der Subjekte und der personalen Aspekte. Zuwendungsfähigkeit, Dialogbereitschaft, Wahrnehmungsfähigkeit für das Anliegen der Schülerinnen und Schüler und ihre Subjektivität, Authentizität, die nicht nur auf Fachwissen, sondern insbesondere auch auf Leidenschaft, ja Liebe für die Sache beruht – dies sind wesentliche Elemente, die die personalen pädagogischen Fähigkeiten und die damit verbundene Haltung der Lehrerin oder des Lehrers kennzeichnen. Indes sind sie aber nur sozusagen die eine Seite der Medaille.

Die andere Seite, die Seite der objektiven Herausforderungen in künstlerischen Bildungsprozessen, bleibt demgegenüber merkwürdig undeutlich. Beuys wird als Bezug aufgeführt, wenn es um die Charakterisierung des Kunstlehrers als „vitalen Förderer“ geht. Sein Begriff von der „plastischen Formung“ wird genannt, den er in der Tat im Sinne des erweiterten Kunstbegriffes als Bildungs-Begriff verstand: plastisch geformt wird nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch die Person, der Schüler oder die Schülerin. Beuys wird da ganz drastisch: Der Schüler soll „regelrecht durchgeknetet werden“ in künstlerischen Bildungsprozessen, er soll in sich bewegt, plastisch werden (Beuys in K+U 4/69: 50 – 53). Das meint mehr als verständnisvolle Zuwendung zum Lernenden. Das meint auch die Einforderung dessen, was die Sache „von sich aus will“ (Beuys in: Harlan 1988: 37). Das steckt hinter der im Text von Lenk und Wetzel zitierten Anforderung, man müsse den Schüler oder die Schülerin mit „etwas Neuem in sich … konfrontieren“ (Beuys in K+U 4/69). Sie sagen selbst, dass „‘strenge Begriffsbildung‘ mit Form- und Materialfragen abgeglichen werden muss“. Zur vollständigen Haltung einer ‚guten‘ Kunstlehrerin, eines ‚guten Kunstlehrers‘ gehört neben der Aufmerksamkeit für die Lernenden und für die eigenen Wahrnehmungen, Motive, Zuwendungen, Leidenschaften, auch die Aufmerksamkeit für die objektiven Anforderungen, die das Thema stellt, welches bearbeitet wird, und die das Werk stellt, welches jeweils in der Arbeit eines Schülers oder einer Schülerin entsteht. Adorno spricht gar vom „Vorrang des Objekts“ in der Kunst und von der „inneren Notwendigkeit“, mit der ein Werk den Künstler konfrontiert, der nicht einfach machen kann, was er subjektiv möchte, soll dieses Werk gelingen (vgl. Adorno 2003: 249, 253). Bildung findet genau dort erst statt – wo der Lernende mit dem Widerstand, den Besonderheiten der Sache konfrontiert wird. Dann gerät er notwendigerweise ‚außer sich‘, wird innerlich beweglich. „Fabricando fabricamur“ sagt Wilhelm Schmid, indem wir etwas bilden, bilden wir uns selbst (Schmid/ Philosophie der Lebenskunst: 242). Aber es ist der eigene Anspruch der zunächst fremden Sache, der uns herausfordert und verändert. Um dabei unterstützend tätig sein zu können, braucht der gute Kunstpädagoge beide Hinsichten seiner Profession: die Kunst und die Pädagogik, das Verständnis für den Schüler und den Lernprozess wie das Verständnis für die Sache, an der und in der Lernen, Bildung stattfindet.

Sabine Lenk und Tanja Wetzel deuten diese Dimension immer wieder an, machen sie aber nicht stark im Verhältnis zur personal-pädagogischen Seite der kunstpädagogischen Haltung. Um den Kunstpädagogen als ‚vitalen Förderer‘ zu charakterisieren, vertiefen sie nicht Beuys‘ Ansatz, der bekanntermaßen das Wechselverhältnis von Intuition und Rationalität als markante Eigenschaft künstlerischen Denkens hervorhebt, das Verhältnis von Einfühlung und Sachkenntnis, von relevantem, interdisziplinärem Sachwissen zum Thema und Empfindsamkeit für die Prozesse, die beim Erstellen eines Kunstwerkes ablaufen (vgl. Buschkühle: Wärmezeit: 121 ff.). Statt diese plastische Polarität darzustellen, wird eine Aussage aus einem Interview mit Alf Schuler angeführt – ein solcher Förderer müsse eine Person sein, die „eigenwillig ist, Biss hat und etwas in den Pott wirft“. Das klingt vital, befördert aber keine Einsicht in die Zusammenhänge, um die es hier gehen müsste. Auch was die Autorinnen im Anschluss an dieses Zitat im Sinne einer Zusammenfassung hinsichtlich der Haltung eines ‚guten‘ Kunstlehrers aufführen, stiftet keine Klarheit im Hinblick auf die umfassenden sowohl subjektiven als auch objektiven, sowohl personalen als auch sachlichen Anforderungen an diesen Lehrer oder diese Lehrerin. Sich selbst und sein Tun zu reflektieren, lebenslang zu lernen, sensibel, offen, neugierig und begeisterungsfähig bleiben, sich berühren und ergreifen lassen, sich den Schülern zuwenden und sie zu verstehen suchen – das sind allesamt zutreffende und wünschbare Gesichtspunkte, aber sie bleiben einseitig und sind, in dieser Allgemeinheit formuliert, auch nicht kunstspezifisch. Eine solche Haltung wünscht man sich von jedem Pädagogen und jeder Pädagogin.

Um also Haltungsschäden zu vermeiden, sollte die andere Seite, die Haltung der Kunstpädagogen zu den ästhetischen Qualitäten des Werkes und der thematisch notwendigen Kenntnisse, die im vorliegenden Text keine signifikante Rolle spielen, dazu in den Blick genommen werden. Dann erst wird das Bild vollständig und die Haltung angemessen. Und auch der Beuyssche Sinn einer kunstpädagogischen Haltung erfasst, der sich ganz sicher nicht darin erschöpft, „das eigene ‚Ergriffensein‘, die eigene Begeisterung mit in die Schule zu tragen“. Dazu müsste der zweite Teil dieses Satzes genauer bestimmt werden „ … und sich dort mit den Schülerinnen und Schülern auf komplexe und unberechenbare Prozesse einzulassen“. Fragte man sich im Sinne einer komplexen Gestaltungsdidaktik genauer, was das eigentlich für Prozesse sind und was darin eigentlich für Anforderungen stecken, dann würde wohl die These noch einmal kritisch betrachtet, die das Werk den pädagogischen Vorgängen unterordnet. Sicher sollte das Tun der Schülerinnen und Schüler „nicht vorschnell für wirkungsvolle Präsentationen, zur Freude der Elternschaft oder für die nächste Ausstellung im Rahmen des Tags der offenen Tür instrumentalisiert werden“. Aber die Aussage, „das Augenmerk auf den Prozess zu richten, macht zwar das Produkt nicht unwichtig, ordnet es ihm aber nach“, befördert doch die Schieflage der Auffassung. Es ist erst das Werk, welches den pädagogischen Prozess auslöst, und das Werk „sagt, was es von sich aus will“, wie Beuys betont (Beuys in: Harlan 1988).

Insofern sind die objektiven Bedingungen, Kontexte und Anforderungen des Werkes  von Kunstpädagogen zu vertreten,  die dazu auch die personale Seite im Bezug auf ihre  Schülerinnen und Schüler entwickeln  müssen. Kunstpädagogen sind qua Profession Generalisten: Sie sind Pädagogen, sie sind Künstler und sie sind auch Wissenschaftler. Als Pädagogen üben sie sich im Verständnis und in der fördernden Zuwendung zu ihren Schülerinnen und Schülern. Sie tun dies auf der Basis der Erfahrung als Künstler in künstlerischen Prozessen, die sie erst zum ‚vitalen Förderer‘  ihrer Schüler und Schülerinnen  in solchen Prozessen macht. Zugleich brauchen  sie aber auch ein vielschichtiges Wissen, nicht nur, um es z.B. als kunsthistorisches Fachwissen im Unterricht zu vermitteln, sondern auch, um jeweils relevantes und kritisch zu reflektierendes Sachwissen in Werkprozesse einbringen zu können. Dabei konfrontieren sie die Schülerinnen und Schüler mit Neuem: hinsichtlich des Handwerks, hinsichtlich der Form, hinsichtlich der Kontexte, die ein Thema eröffnet. So verkörpern der ‚gute‘ Kunstpädagoge und die ‚gute‘ Kunstpädagogin sowohl eine Haltung der Leidenschaft als auch eine Haltung der Verantwortung – für die Schülerinnen und Schüler, für das Werk, für das Wissen.

Literatur

Theodor W. Adorno (2003): Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main

Joseph Beuys (1969): Das Bildnerische ist unmoralisch. Gespräch mit Siegfried Neuenhausen, in: Kunst + Unterricht 4/1969

Carl-Peter Buschkühle (1997): Wärmezeit. Zur Kunst als Kunstpädagogik bei Joseph Beuys, Frankfurt am Main

Lenk, Sabine & Wetzel, Tanja (2014): Kunstpädagogische Kompetenz braucht eine Haltung. Was macht eine „gute“ Kunstlehrerin, einen „guten“ Kunstlehrer aus? In: zkmb – onlineZeitschrift Kunst Medien Bildung, Text im Diskurs, www.zkmb.de/index.php?id=182; (19.05.2014)

Volker Harlan (1988): Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Beuys, Stuttgart

Wilhelm Schmid (1998): Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt am Main

Von Carl-Peter Buschkühle

Veröffentlicht am 23. Juni 2014

Zitiervorschlag

Buschkühle, Carl-Peter: Vorsicht vor Haltungsschäden, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2014. Quelle: https://zkmb.de/vorsicht-vor-haltungsschaeden/; Letzter Zugriff: 20.04.2024