Where the pragmagics happen – Über die Ästhetik der leeren Hände und die Arbeit am Magischen(1)

In der Bildung ist die Zukunft unser Geschäft.2 Die Zukunft aber ist das, was für die Gegenwart zu weiten Teilen unbeschreiblich und dennoch unausweichlich bleibt. In ihrem Effekt auf uns kommt sie dem Sublimen, oder Erhabenen, wirksam nah. Und Bildung wird, weil sie Arbeit an der Zukunft ist, zur Arbeit am Sublimen. Darüber kann man natürlich streiten. Zweifelsohne aber liegt der Zukunft in ihrer zweiseitigen Funktion, aus Unausweichlichkeit und Unvorhersehbarkeit, eine gewisse Unbeschreiblichkeit inne, die man Zauber oder Magie nennen kann. Einerseits hingezogen, andererseits abgestoßen, versuchen wir dieser Unberechenbarkeit mit Strategien zu begegnen. Mit einer Art praktischen Magie aus Datensammlungen, Alltagsdiagnostik, Empirie, Algorithmen, Yoga und Smoothies lassen wir uns tragfähige Linien in die Zukunft ziehen (vgl. Raunig 2016:12). Dabei geht es darum, im Heute verlässliche Weissagungen für die Zukunft machen zu können. Doch, bereits 50 Jahre nach der ersten Verbindung zwischen zwei entfernten Computern, die uns diese Vorgänge erleichtern sollten, sind es unüberschaubar viele Linien geworden. Allein im Jahr 2010 kamen 152 Millionen Blogs, 25 Milliarden Tweets auf Twitter, 100 Millionen Twitter-Accounts, 7,7 Millionen Follower für Lady Gaga, 250 Millionen Facebook-Mitglieder hinzu und jährlich steigen diese Zahlen ins zunehmend Unermessliche (SZ 2010). Ganz ohne Humanfaktor zeigt sich daran schon quantitativ die Unberechenbarkeit der Zukunft. Die Erhabenheit ist unbegreiflich in Ihrer Kraft und darin liegt ja die Magie.

Magie ist abhängig von ihrer Konstruktion

Magie ist aber nicht gleich Magie. Es gibt z. B. einen feinen Unterschied zwischen Magie und der Arbeit eines/r Magiers/in, der sogenannten Zauberei. Während das Erhabene sich nur indirekt über seinen Effekt als Magie zeigt, z. B. angesichts eines Bergmassivs, das uns unsere Unterlegenheit fürchten lässt und doch nicht zerreißt, scheint die Zauberei nur die händische Simulation (oder die D.I.Y.-Variante) dieses erhabenen Effekts unter den Bedingungen des real life (also unter den physischen Bedingtheiten) zu sein. Unter diesen Bedingungen müssen optische, mechanische und hydraulische Gesetze meisterhaft analysiert, praktisch durchdrungen und in der Folge überwunden werden, um den erhabenen Moment für unsere Sinne zu simulieren. Zauberei ist demnach eher ein praktisches Beherrschen des Regelwerkes oder perfektioniertes Handwerk am Unerklärlichen. Ein/e Zauberer*in macht sich also geschickt die Illusion zu eigen und führt das Unerklärliche auf. Weder Kaninchen noch blaue oder rote Karten sind nach einem Zauberakt tatsächlich auf unfassbare Weise verschwunden oder verändert. Das wissen wir. Oder vielmehr können wir es wissen, eben weil wir wissen: Es ist nur Zauberei, und eben keine Magie. Karten und Kaninchen sind also immer noch da, nur können wir sie im entscheidenden Moment, mit den verfügbaren Mitteln nicht sehen und sie erscheinen uns als fort (vgl. Freud im Sinne Meyer 2006). Nicht selten werden zur Verstärkung dieses Effekts Ablenkungsmanöver oder Verschleierungstechniken (z. B. smoke screens3 wie im Theater) eingesetzt. Die so inszenierte Abwesenheit (fort) wird dadurch zusätzlich exponiert und vom Zweifel bereinigt. Wir glauben der Inszenierung dann bereitwilliger, weil es kracht, weil das Spiel klar ist und uns unterhält. Das ist dann die Magie.

Die Zauberer nach dem Internet4

Unsere Haushaltsgegenstände kommunizieren, seitdem es Elektrizität gibt. Nach dem Prinzip An/Aus, bzw. Entnahme/keine Entnahme, wird der Stromfluss geregelt. Das ist keine Zauberei, wir denken nicht daran bzw. sehen diesen Vorgang nicht. Was wir sehen ist: kleines rotes Licht an, kleines rotes Licht aus. Vergleicht man das mit den gegenwärtig bereits aktiven Echtzeit-Reaktionsmodi der sozialen Netzwerke, wo in Bruchteilen von Sekunden Beiträge geteilt, ge-rebloggt und bereits nach Zeiträumen von unter einer Minute 100.000 Likes und Kommentare auf populäre Äußerungen verteilt werden, sieht man schon eher Zauberei am Werk. Die Abstände zwischen Reaktion und Aktion sind so signifikant verkürzt, dass von einer annähernden Gleichzeitigkeit ausgegangen werden muss. Dieser Moduswechsel ist Ausgangspunkt für eine Feedbackschleife (oder auch closed circuit constellation), in der eine beliebige Aktion nur noch für ein Potenzial von Reaktionen steht, das sich qualitativ in Faktoren wie sharing community und meme potential fassen lässt. Steuern oder kontrollieren lassen sich diese Vorgänge nicht mehr. Unter diesen Prämissen ist die Gegenwart für den Menschen unüberschaubar geworden und es lohnt sich nicht mehr, Unerhebliches über die Verknüpfungen hinter den Phänomenen zu wissen. Das Verständnis weicht dem gelegentlichen Staunen.

Zaubern mit dem Überschuss des streams

Mit den sich verändernden Werkzeugen und Bedingungen verändern sich auch die Anforderungen an die praktische Magie. In der Kunst dieser Zeit z. B. werden die beschriebenen Erscheinungen in vielen Aspekten bereits selbst zum Material und finden als komplexe ready-mades in vernetzten multiplen Hybriden Verwendung. Während in der aktualisierten Form des Hase-im-Hut oder Frau-in-der-Kiste-Tricks einiger Künstler*innen die Technik des Sichtbarwerdenlassens durch Unsichtbarmachen weiter Kern der Sache bleibt, haben die nächsten Künstler*innen das Material (Hase, Hut, Karte, Tuch) scheinbar hinter sich gelassen und zaubern mit dem Überschuss der streams. Die Künstler*innen zaubern mit leerer Hand an Bildern, Worten, Gesten und Zeichen, die sie aus dem Kontinuum des worldwide sharings ziehen und wieder darin verschwinden lassen.

Live-Performances, Performance Events und Performance-Installationen übernehmen in der aktuellen Logik der Kunst strukturierende wie auratisierende Funktionen. Folgt man etwa einer Einladung von Wojciech Kosma, einem jungen polnischen Künstler in Berlin, findet man sich gemeinsam mit einigen hundert anderen Besucher*innen erst einmal in keiner sichtbar besonderen Situation. Man ist sogar versucht zu glauben, es handele sich eher um eine Probe für etwas noch Kommendes als um das, was man bereits sieht. Das Publikum sitzt in sauberen Reihen, im Fokus eine Art Bühnenfläche mit zwei Akteuren (Fig. 3). Beide Akteure sind nur mit einer Unterhose bekleidet, einer der beiden hat langes Haar und fahle Haut, der andere kurzes Haar und braune Haut. Wie unter Freunden wird gesprochen, gelacht, gescherzt, gerungen und gebrüllt, aber immer wieder abrupt zum nächsten Part übergegangen. Das Dargebotene bleibt im Alltäglichen. Es folgt dabei aber einem unausgesprochenen Rhythmus aus CUT > GO > CUT nach dem Prinzip einer Filmproduktion. In ganz entspannt professioneller Yoga-Atmosphäre wird aufgeführt, unterbrochen und immer wieder neubegonnen. Das sichtbare Agieren der Akteure gibt wenig Aufschluss über den Aufwand im Vorfeld, das Skript oder die notwendigen Absprachen zwischen Künstler und Performern. Bei zu flüchtigem Blick könnte die Situation wie ein diffuses Happening wirken, dem man als Zuschauer*in nur beigestellt wurde. Doch über den Rhythmus (CUT > GO) und die Konzentration im Raum erhält sich die Form und verlangt nach genauerer Beachtung der Abläufe und Fragmente.

Umhangwedeltrick der leeren Hand

Unter dieser Aufmerksamkeit gelingt es, Einzelteile aus der konzentrierten Collage angespülter kultureller Äußerungen zu bergen. Wie im Shuffle-Modus werden die Fragmente gegenwärtiger und vergangener Kultur durchmischt und aufgeführt. Dabei scheint die Frequenz erhöht, aber die Geschwindigkeit der Einzelteile unverändert. Während man den Handlungsabschnitten folgt, sitzt man ein klein wenig – mit nur halbgeöffneten Augen – neben sich und die angetragenen Fragmente verbinden sich seltsam effektiv mit dem erinnerten Repertoire an Bildern und Zeichen. Das gesprochene Wort ist klar und deutlich, gibt allerdings wenig Aufschluss über dessen Bedeutungen und gewinnt kaum Rückhalt in den Strukturen des vorgetragenen Textes. Über die Register der Pragmatik5 – also die jeweiligen den Zeichen anhängenden Verwendungskontexte – ergibt sich dann der Zugang zur dichten Zeichendecke, die oberflächlich recht leer und stumpf wirkt; ein Umhangwedeltrick der leeren Hand, der uns abseits des Wort- und Symbolsinns auf die Strukturen und Verhältnisse blicken lässt und gerade das sonst Unsichtbare offenlegt.

Präziser kann man das Verhältnis von Dargestelltem und Darstellendem nicht in direkte Erfahrung umsetzen. Da ist offensichtlich nichts Erstaunliches, aber aus dem Wenigen ergibt sich eine Beobachtung, die man anders nicht erlangen kann. Das ist dann aber doch erstaunlich und wohl ein Beispiel von aktueller Zauberei.

In der Bildung ist die angewandte Zauberei eine Strategie, der Zukunft zu begegnen. Ganz pragmatisch lassen sich an den Verwendungen der Werkzeuge – gerade in der Zauberei – Prognosen über gegenwärtige und anstehende Bedingungen gewinnen. Darüber hinaus aber lassen sich per Zauberei auch semantische Lücken – die sich beinahe unweigerlich mit der Zukunft ergeben – lebenspraktisch mit einem effektvoll lautmalerischen „Awww“ überbrücken. Im Plural ergibt das „Awww“ dann eine Art produktive Stimmung (Pazzini 2015: 317), die nicht ganz erklärbar, aber in der Bildung sehr wirksam ist.

Weitere Zauberei innerhalb der Kunst, die Sie nochmals genauer in den Blick nehmen könnten: Hanne Lippard und Ryan Trecartin als aktuelle Vertreter*innen einer medienkulturell angetriebenen Magie, die es mit dem Unbeschreiblichen der Gegenwart aufnehmen; Tino Sehgal als Vertreter der Minimal-Magie und ihm vorangegangen Bruce Naumann, Andy Warhol und Joseph Beuys, die zu anderen Zeiten als Magier mit anderen Werkzeugen wirkten.

Anmerkungen

1 Während der Überarbeitung des Tagungsbeitrages zu As-If – Performance unter post-digital condition traf die Statusmeldung „pragmagic“ von Paul Feigelfeld über Facebook bei mir ein. Er teilte diese mit Anne Imhof und fünf anderen Teilnehmer*innen. Es ist davon auszugehen, dass der Kommentar sich auf die zeitgleich im Hamburger Bahnhof installierte Arbeit For Ever Rage von Anne Imhof bezog. Die Arbeit wurde von der Jury des Preises der Neuen Nationalgalerie mit dem 1. Preis bedacht. In der Verschränkung von pragmatics und magic wurde es dann für diesen Zusammenhang zu pragmagics.
Karatedō (japanisch „Weg der leeren Hand“) wurde früher meist nur als Karate bezeichnet und unterstreicht den philosophischen Hintergrund der Kunst und ihre Bedeutung als Lebensweg. Der/die Karate-Schüler*in soll sein Inneres leer machen, um allem angemessen begegnen zu können. Dabei geht es um eine Schärfung zur umfassend bewussten Erfahrung des Hier und Jetzt.

2 Gerade für die Bildung wird die Zukunft als Bezugsgröße zur entscheidenden Unbekannten in der Gleichung. Wir arbeiten nicht ausschließlich in der Gegenwart, sondern bilden die jeweils kommende Gesellschaft zumindest indirekt aktiv mit. Das darf man sich nicht immer vergegenwärtigen, denn das würde unweigerlich zu Überforderungen führen, aber zumindest in Teilen müssen Lehrer*innen per Alltagsprognosen einen Punkt B imaginieren, damit der gewünschte Transfer von Punkt A über Tradition nach Zukunft gelingen kann.

3 Auf der Bühne eingesetzter Nebel zur Verhüllung einer Handlung.

4 Nach dem Internet meint hier: nachdem das Internet neu war und als technisches Medium thematisiert werden musste.

5 Hier wird mit „pragmatics“ (engl. für „Pragmatik“) auf den linguistisch-kulturwissenschaftlichen Diskurs anglo-amerikanischer Prägung verwiesen. Die Überlegungen zu pragmatics im Zusammenhang mit dem Phänomen Post-Internet Art sind Grundlage des Textes und zeigen sich u.a. stellvertretend im Titel *pragmagics.

Literatur

Meyer, Torsten (2006): Visible Human. Der Betrachter macht die Bilder. In: Forschungs- und Le[ ]rstelle – Kunstpädagogik und visuelle Bildung. Online: http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de/Texte/meyer/visible_human.html#a6 [29.2.2016].

Pazzini, Karl-Josef (2014): Setting, Stimmung, Transindividualität. Vortrag, Universität zu Köln 05/14 (unveröffentlicht). Online: http://kunst.uni-koeln.de/2014/05/karl-josef-pazzini-setting-stimmung-transindividualitat-happy-go-lucky-m-leigh/ [28.2.2016].

Pazzini, Karl-Josef (2015): Bildung vor Bildern. Kunst Pädagogik – Psychoanalyse. Bielefeld: Transcript, S. 317.

Raunig, Gerald (2016): No FUTURE. Dividuelle Linien, neue AkteurInnen der Kreativität. In: Springerin, New Materialism, 19. Jg., Heft 1, S. 12-14.

Süddeutsche Zeitung (2010): Das Internet in Zahlen. Die unglaubliche Riesenmaschine. In: Süddeutsche Zeitung Online, 9. Februar 2010, 08:15. Online: http://www.sueddeutsche.de/digital/das-internet-in-zahlen-die-unglaubliche-riesenmaschine-1.65478-2 [21.3.2016].

Von Konstanze Schütze

Veröffentlicht am 15. Mai 2017

Zitiervorschlag

Schütze, Konstanze: Where the pragmagics happen – Über die Ästhetik der leeren Hände und die Arbeit am Magischen(1), in: Torsten Meyer, Julia Dick, Peter Moormann, Julia Ziegenbein (Hg.): where the magic happens. Bildung nach der Entgrenzung der Künste, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2017. Quelle: https://zkmb.de/where-the-pragmagic-happens-ueber-die-aesthetik-der-leeren-haende-und-die-arbeit-am-magischen-1/; Letzter Zugriff: 16.04.2024