Der Beitrag blickt auf den gegenwärtigen postdigitalen Zustand der Gesellschaft und fragt nach normativen Implikationen, die sich vor diesem Hintergrund für Bildungsprozesse ergeben. Es wird dargelegt, inwiefern die relational angelegten Perspektiven auf sozio-mediale Verflechtungen neuartige Anforderungen bei der Auseinandersetzung mit Normen und Normierung mit sich bringt. Klassische bildungstheoretische Bezugspunkte, wie etwa das kritisch-reflexive Subjekt, werden hierbei infrage gestellt. Stattdessen wird für eine bildungstheoretische Reorientierung plädiert, die sich etwa auf den aktuellen Diskurs um ethische Fragen im Kontext des New Materialism bezieht.
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Immer deutlicher zeigt sich, dass die im wissenschaftlichen Diskurs um Postdigitalität skizzierten Figurationen sozialer und medialer Transformationen nicht nur abstrakte Gebilde sind, sondern sich als manifeste Größen gesellschaftlicher Realität etabliert haben. Seien es die zunehmend in die öffentliche Wahrnehmung rückenden Prozesse algorithmischer Entscheidungsfindung wie etwa in Form des Projektes Open Schufa, die soziale Wirkmacht und Problematik der Meinungslenkung durch social Bots (Ferrara et al. 2016), die sich seit einiger Zeit zunehmend etablierende Maker-Kultur (Walter-Hermann & Büching 2013) oder die vielfältigen Formen der digitialen Selbstvermessung (Selke 2016) bzw. Quantifizierung des Sozialen (Mau 2017) – in allen Beispielen lassen sich Facetten dessen erkennen, was Cramer (2014) als postdigitalen Zustand der Gesellschaft bezeichnet. Kennzeichnend hierfür ist die Ubiquität und gleichzeitige Hybridität ‚alter‘ und ‚neuer‘ Medien bzw. medientechnologischer Infrastrukturen, die verdeutlichen, dass Digitalität in vielen Bereichen der Gesellschaft längst tief verankert ist und die visionäre Rede von disruptiven Potenzialen der Digitalisierung daher der tatsächlichen Entwicklung hinterherhinkt. Mit Stalder (2017: 18), der sein Konzept einer „Kultur der Digitalität“ zwar vom Begriff des Postdigitalen abgrenzt, dabei jedoch auch die Parallelen der Ansätze betont, lässt sich in einem ersten Zugriff auf das Spezifische des Digitalen festhalten:
„Medien sind Technologien der Relationalität, das heißt, sie erleichtern es, bestimmte Arten von Verbindungen zwischen Menschen und zu Objekten zu schaffen … ‚Digitalität‘ verweist also auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure“ (ebd.: 17f.).
Zu konstatieren ist hierbei, dass die in kulturelle Prozesse eingelagerten Algorithmen nur (wenn überhaupt) auf den ersten Blick neutral oder objektiv erscheinen (Roberge/Seyfert 2017: 16f.). Wie sich etwa am Beispiel rassistischer Diskriminierung durch Suchalgorithmen zeigt (Noble 2018), können algorithmisierten Wirklichkeitskonstruktionen erhebliche ethisch-normative Probleme innewohnen. Diese werden im schlimmsten Fall nicht einmal erkannt, da Algorithmen eine legitimatorische Autorität inhärent ist, die unter anderem auf eine naive Gleichheitsimagination von softwarebasierten Such- und Sortierstrategien von Daten zurückzuführen ist (Stalder 2017: 198ff.). Stattdessen scheint es geboten, Algorithmen eher als Gatekeeper zu verstehen (Roberge/Seyfert 2017: 18ff.), denen – im Falle komplexer selbstlernender Systeme nicht mehr vollständig durchschaubare – inhärenten Entscheidungs- und Unterscheidungslogiken zugrunde liegen, die Klassifizierungen und Hierarchisierungen hervorbringen, welche unseren Alltag zunehmend prägen (Passoth/Wehner 2018). Die vielgestaltigen Materialisierungsformen postdigitaler Medialität treten damit als neue epistemische Akteure in Erscheinung, indem sie im Vollzug der Praxis ihren spezifischen Aufforderungscharakter, diverse Möglichkeitsräume oder Widerständigkeit offenbaren und damit eben gerade nicht nur Instrumente sind, sondern einen aktiven Part an Wirklichkeitskonstruktionen haben, der jenseits unmittelbarer Rückführbarkeit auf menschlich-intentionale Einwirkung liegt.
Entscheidend ist, dass wir es bei der postdigitalen Verfasstheit unserer Gesellschaft nicht mit einer Ablösung analoger Technologien durch digitale Technologien zu tun haben, sondern mit einem Nebeneinander und mit neuen Formen der Verschmelzung. Diese Idee findet sich prinzipiell auch an anderer Stelle, wie etwa im Mediatisierungsansatz nach Krotz und Hepp (2012) wieder, der von einer Parallelexistenz unterschiedlicher Medienlogiken ausgeht, deren Prägkräfte sich je nach sozio-kultureller Anbindung unterschiedlich manifestieren. Bezieht man sich in diesem Sinne auf neue Möglichkeiten der Relationierung von heterogenen Entitäten als konstitutives Merkmal von Digitalität, so lässt sich diese Annahme aus bildungstheoretischer Sicht mehrfach kritisch betrachten. Neben Fragen, von wem die Impulse ausgehen, die zu neuen Relationen führen und welche implizite oder explizite Machtförmigkeit diesen Relationierungspraxen zugrunde liegt sowie der Problematik der Verantwortung im Zusammenhang mit der Vorstellung von Bildung als verteiltem Prozess, stellen relationale Ansätze bildungstheoretische Perspektiven auf grundsätzlicher Ebene vor das Problem der Bestimmung, wann überhaupt von Bildung gesprochen werden kann. Diese Fragen sind alles andere als neu, nimmt man die Postulate der Postdigitalität ernst, erfordern sie aber eine neue bzw. erneute Bearbeitung.
Der begleitende Kommentar nimmt diese Beobachtungen zum Ausgangspunkt, bildungstheoretische Fragen zu stellen und eine Leerstelle in Bezug auf den Aspekt der Normativität von Bildung aufzuzeigen. Dieser kritische Aufruf versteht sich als flankierende Position zu den in dieser Ausgabe der zkmb versammelten Beiträgen. Die in dieser Ausgabe an unterschiedlichen Beispielen veranschaulichten Formen postdigitaler Verflechtungen von Kunst und Gesellschaft sowie künstlerischen bzw. kuratorischen Praxen und neuen Medienkulturen, können gewissermaßen als ‚Bildungsmomente‘ gelesen werden, die sich als neue oder veränderte Formen der „Transformation subjektivierender Relationierungen“ (Jörissen 2015: 228) zeigen. Inwiefern hier Normierung und Normativität – sowohl als sich in der Vollzugswirklichkeit zeigende Logik ästhetisch-medialer Praktiken als auch in Form einer bildungstheoretischen Reflexionskategorie – von Bedeutung sind, soll nachfolgend auf grundsätzlicher Ebene skizziert werden.
Bildungstheoretische Diskurse scheinen dazu zu neigen, bestimmten Leitmotiven zu folgen. Dies liegt gewissermaßen in der Natur der Sache, da weitgehend Konsens darüber besteht, Bildung nicht solipsistisch zu verstehen, sondern als gesellschaftlich und historisch eingebetteten Prozess. Insofern stellt die Bestimmung dieser Kontextualität einen Bestandteil des bildungstheoretischen Denkens dar. Dementsprechend weisen bildungstheoretische Arbeiten eine Affinität zu zeitdiagnostischen Skizzen auf, die bspw. als Anschlüsse an die Theorie reflexiver Modernisierung (Marotzki 1990), der Postmoderne (Koller 1999) oder Globalisierung (Roselius/Meyer 2018) konkretisiert werden – um nur einige zu nennen. Gegenwärtig scheint einiges dafür zu sprechen, Bildung im Rahmen der postdigitalen Verfasstheit unserer Gegenwartskultur zu begreifen. Solche Anschlüsse wiederum führen zu der Notwendigkeit, die grundlegenden bildungstheoretischen Kategorien auf den Prüfstand zu stellen. Dies in angemessenem Umfang zu bewältigen, würde freilich den Rahmen dieses Kommentars sprengen. Stattdessen soll der Fokus auf eine Komponente gerichtet werden, indem Überlegungen zur Normativität von Bildung in den Mittelpunkt rücken.
Im schier unübersichtlichen Feld der Bildungstheorien finden sich – zugespitzt formuliert – auf der einen Seite, etwa in Form der kritischen Bildungstheorien (Heydorn 1970), explizit geäußerte normative Standpunkte, die Bildung überhaupt erst durch ihren Anspruch legitimieren, einen expliziten Gegenentwurf zu dominanten Positionen zu bieten. Bildung fungiert hier ganz klar als interventionistisches Projekt mit dem Ziel, gegen hegemoniale Machtverhältnisse aufzubegehren. Auf der anderen Seite des Spektrums lassen sich Ansätze wie bspw. die Theorien transformatorischer Bildung ausmachen, welche lediglich implizit eine normative Position erkennen lassen (Koller 2016). Indem Bildung als formaler Prozess beschrieben wird, steht die kritisch-emanzipatorische Ausrichtung hier nicht in vergleichbarer Weise im Fokus. Dass aber auch das formale Konzept von Bildung nie völlig frei von einer normativen Färbung ist, zeigt sich schon daran, dass eine analytisch-deskriptive Perspektive eingenommen wird, die über den empirischen Anschluss an qualitativ-rekonstruktionslogische Verfahren gewissermaßen ihren Distanzierungsanspruch einzulösen versucht. Diese methodische Wendung der Wertfreiheit geht allerdings nicht auf, wie Krinninger/Müller (2012) sowie Heinrich (2016) zeigen, da auch hier bestimmte erkenntnistheoretische Standpunkte den Blick anleiten und somit eine Perspektivität geprägt wird, die wiederum für bestimmt Aspekte sensibilisiert, für andere aber blind ist. Zugleich weisen die Autoren darauf hin, dass sich eine solche, quasi zwangsläufige Normativität, durchaus auch positiv begreifen lässt, hierfür aber eine entsprechend kritisch-selbstreflexive Haltung vonnöten ist. Wie auch immer man die formalen Theorien von Bildung wendet – es liegt auf der Hand, dass aus pädagogischer Sicht natürlich nicht jeder Transformationsprozess als Bildung zu bezeichnen ist. Wie Koller (2016: 154ff.) darlegt, zeigt sich ‚gelingende Bildung‘ in den formalen bildungstheoretischen Ansätzen etwa als gesteigerte Reflexivität (Marotzki), als Möglichkeit weiterer Transformationen (Nohl) oder als das Offenhalten von Widerstreit (Koller). Folgt man nun den Überlegungen einer postdigital verfassten Gesellschaft und nimmt diese als Hintergrundfolie bildungstheoretischer Betrachtungen, so wird schnell klar, dass die Frage, welche Prozesse der Veränderung bzw. Transformation als Bildung bezeichnet werden können, sich auch hier stellt – möglicherweise sogar in verschärfter Form. Wie soll Bildung verlaufen, wenn sie sich als ein auf sozio-mediale Konstellationen verteilter Prozess darstellt und nicht länger das handelnde und meist anthropozentrisch gedachte Subjekt in den Mittelpunkt rückt, das sich selbstreflexiv zur Welt verhält? Was sind die Kriterien, um von Bildung als eine Form der Re-Konstellation zu sprechen? Was unterscheidet dann Bildung von anderen Veränderungsprozessen?
Bevor eine erste Annäherung an die eben aufgeworfene Frage unternommen werden soll, scheint eine vorgeschaltete Klärung vonnöten. Wenn Bildung im Kontext des Postdigitalen nicht mehr als auf eine menschliche Entität begrenzt verstanden wird und sogar noch über die Vorstellung des dezentrierten Subjekts (Koller 2001) hinaus geht, muss zunächst erörtert werden, wer oder was sich eigentlich bildet. Hilfreiche Hinweise finden wir bspw. in jüngeren Arbeiten zu Ideen von Kollektivsubjekten (Alkemeyer/ Bröckling/Peter 2018), aber auch in Ansätzen zu einem relationalen Lernbegriff (Künkler 2011). Wesentlich für derlei Überlegungen zur relationalen Verfasstheit des Phänomenbereichs sind darüber hinaus die Studien der Akteur-Netzwerk-Theorie (Belliger/Krieger 2006; Latour 2007; 2008) bzw. deren Rezeption und Weiterführung (Dölemeyer/Rodatz 2010; Fenwick/Edwards 2010; Wieser 2012), aber auch die Arbeiten zur relationalen Soziologie von Norbert Elias (2004). Hier wird schnell deutlich, dass eine solche Perspektive ganz andere Analysedimensionen einfordert, die bspw. nach verteilter agency, Stabilität und Instabilität oder Formen der Faltung von sich in Prozessen der Subjektivierung zeigenden Kräften fragt (Alkemeyer/Bröckling 2018: 19ff.). Von klassischen reflexionstheoretischen Ansätzen von Bildung hin zu einem relationalen Verständnis ist es ein weiter Weg, der für einen zeitgemäßen Bildungsbegriff aber unerlässlich scheint. Inwiefern relationale Bildung z.B. noch von dem Dualismus von Selbst und Welt ausgehen kann, scheint zumindest fraglich. Unter anderem bieten hier Arbeiten zur relationalen Anthropologie (Krautz 2017) inspirierende Überlegungen, die in dieser Richtung anschlussfähig sind. Damit wird eine deutliche Abkehr von essentialistisch verstandener Subjektivität markiert, und stattdessen „Verwobenheit und Bezogenheit als zentrale Dimensionen des Zwischens“ (Künkler 2017: 72) in den Vordergrund gerückt. Damit wird das kritisch-reflexive Moment von Bildung zwar nicht aufgegeben, doch aber anders – nämlich nicht als individualistisch verstandene Selbstreflexivität, sondern als per se von den diese Reflexivität prägenden Bezogenheiten ausgehend – verstanden. Gewissermaßen haben wir es bei der relationalen Perspektive auf Bildung mit einer Zuspitzung der bereits in der poststrukturalistischen Wendung des Bildungsbegriffs eingelassenen Abkehr des sich selbst verfügbaren und mit sich selbst identischen Subjekts zu tun. Mit dieser Verschiebung ändert sich auch der normative Anspruch an Bildung, da die Frage der Verantwortlichkeit sich anders stellt. Statt dem (mehr oder weniger) moralisch agierenden Individuum steht die Frage im Raum, welche Moralität sich in Formen und Prozessen verteilter agency (d.h. als Form von Handlungsmacht, die nicht zwangsläufig personengebunden ist) zeigt und worin die Möglichkeiten und Grenzen liegen, in diese einzugreifen, Positionen zu generieren, diese einzunehmen, bestehende Positionen zu affirmieren oder zu unterminieren.
Um abschließend zumindest eine Richtung anzudeuten, in die sich eine solche Auseinandersetzung mit relationaler Bildung und Normativität bewegen kann, soll hier vorläufig von Bildung als emanzipatorischer Modus der Assoziation in Prozessen der Subjektivierung von Kollektiven ausgegangen werden. Diese Überlegung schließt unter anderem an Fragen nach ethischen Implikationen an, die im Feld des ‚new materialism‘ und besonders unter dem Signum des Posthumanismus aktuell diskutiert werden. Wie Hoppe (2017: 12) darstellt, werden hier bspw. die Positionen von Braidotti und Stengers verhandelt, die im Sinne einer relationalen Ethik „in der einen oder anderen Weise eine Neubegründung und alternative Ausformulierung von Ethik [versuchen], die weder ein abgeschlossenes ethisches Subjekt annimmt noch durch den Bezug auf universale Maßstäbe Beziehungen bewerten will“. Der hierbei konturierte Verantwortungsbegriff stellt nicht das Individuum als Träger*in von Verantwortung in den Mittelpunkt, sondern versteht Verantwortung „als Fähigkeit (in) der Welt zu antworten, als response-ability oder ability to respond [Herv. i. O.]“ (ebd.). Schlägt man diesen Weg ein, zeigt sich ein erheblicher Unterschied zum individualistischen Bildungsbegriff Humboldt’scher Prägung. Der Erhalt oder die Generierung von agency avanciert hier zu einem entscheidenden Moment im Bildungsprozess, wobei die Möglichkeit der Re-Konstellation hybrider Formationen als Anker fungieren kann, um über die Normativität von Bildung nachzudenken, d. h. darüber, wann bei Transformationen relationaler Verhältnisse von Bildung gesprochen werden kann. Normative Ansprüche erstrecken sich dabei – und das ist möglicherweise der größte Unterschied zu klassischen bildungstheoretischen Positionen – auch auf neue, nichtmenschliche epistemische Akteure, die sich als Softwarecode, Datenbanken oder Interfaces in Sozialität eingeflochten haben. Der Diskurs über die in einem relationalen Bildungsbegriff zugrunde gelegten Werte steht noch am Anfang, scheint aber unumgänglich, wenn Bildung dem Anspruch gerecht werden soll, Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen bieten zu können, die sich in postdigitalen Zeiten auf unvorhergesehene Weise neu und anders stellen.
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