Ästhetische Bildung ist heute mit der wachsenden Einsicht konfrontiert, dass sich aisthestische Erfahrung als primäre Affektion und Wahrnehmung kulturrelativ vollzieht und deshalb auch kulturrelativ gelehrt und angeeignet werden sollte. Wir können nicht mehr von Konstanten und Universalien der Affizierung, Wahrnehmung und ästhetischer Formen ausgehen, wie von vielen psychologischen Handbüchern vorgetragen, die uns noch heute mitteilen möchten, dass ästhetische Urteile auf bestimmten Symmetriegesetzen beruhen und unhinterfragbaren Schönheitsstandards folgen; sie verkennen damit genau, was als spezifische und kontingente Ästhetiken die mittlerweile globalisierte Gegenwart charakterisiert.
Erste Affekte und Perzepte, wenn auch physiologisch mitbedingt, aktualisieren sich in Abhängigkeit von den umweltlich und gesellschaftlich gegebenen Verstärkern, von aisthetischen Eindrücken, von sprachlichen Kodierungen, von ästhetisch gestalteten Sitten und Gepflogenheiten, die wir heute, wenn nicht politisch funktionalisiert, eher gering veranschlagen und zu übersehen tendieren. Wir übersehen, dass sich unsere aisthetischen Präferenzen aus vielschichtigen, möglicherweise sogar phylogenetischen Eintragungen speisen und wir zwangsläufig Mischwesen sind. Wir aktualisieren die unterschiedlich gegebenen Daten aus lokalen, regionalen und globalisierten Quellen auf je spezifische Weise, in auch zeit- und erfahrungsabhängig unterschiedenen Teilhabeweisen, wie das die lebensweltliche Umgebung ihrerseits tut, die ebenfalls längst nicht nur im Kulinarischen, sondern auch im gestalteten Innen- und Außenbereich, von der Mode, den Musikgeschmäckern bis hin zur Architektur der Städte, zum kulturellen Hybrid geworden ist. Und doch unterscheiden sich die Hybride zumindest geringfügig in ihrer jeweiligen Zusammensetzung und Teilhabe, da sich die lokalen und regionalen Prägungen je anders mit den globalisierten Angeboten verbinden und überkodieren, so dass jede aisthetische Artikulation heute eine anders unterteilte, entindividuierte Amalgamierung aus verschiedenen Einflüssen, ein spezifisches, dividuell zu nennendes Komposit darstellt.
Das gilt auch für die einzelnen Personen, die je nach Erstprägung und nach Abstand zu den westlich normierten Standards heutiger Subjektivierung und zu deren finanziellen Voraussetzungen größere oder kleinere Abweichungen davon abgeben. Stammt eine Frau etwa aus Kampala in Uganda, so hat sie es zwangsläufig mit mehreren identitätsbestimmenden Referenzsystemen zu tun, die sie aisthetisch, affektiv und intellektuell in sich abstimmen muss, was sie zu einer besonderen dividuellen Persönlichkeit werden lässt: Sie ist zum einen in ein totemistisch-patrilineares System hineingeboren, das über ihre Filiation bestimmt und ihr den Nachnamen verleiht. Als Frau hat sie offensichtlich keine symbolische Potenz, da sie selbst dem Clan des Vaters, ihre Kinder dem Clan des Erzeugers angehören. Ist sie zudem in einer christlich geprägten Umgebung geboren, wird ihr ein christlicher Vorname verliehen, der ihre Zugehörigkeit etwa zur katholischen Kirche markiert. Die Kirche verlangt dann von ihr ein bestimmtes personales Verhalten, die Akzeptanz des Glaubens an einen dreifaltig-männlichen Gott und einen regelmäßigen Messebesuch, so sie in den Genuss bestimmter kirchlicher Privilegien kommen möchte, wozu ein Gutachten für den deutschen Katholischen Akademischen Austauschdienst gehören mag. Sie ist zudem ein Kind der heutigen Zeit, verfügt über elektronische Medien, rezipiert aisthetische Daten aus diversen Weltbereichen, kommuniziert mit Künstler*innen aus Uganda und dem afrikanischen Kontinent, um ihre ästhetische Arbeit als Kuratorin voranzutreiben, tauscht sich über künstlerische Artikulationsweisen und inszenatorische Gepflogenheiten mit anders dividuellen Personen und deren künstlerischen Angeboten aus, fliegt ins angolische Luanda, um dort an einer Ausstellung mitzuarbeiten und die Erfahrungen, die sie etwa bei der Berlin Biennale macht, miteinzubringen. Auf diese Weise dividuieren sich heute nicht nur künstlerische Praktiken und kuratorische Vorlieben, sondern die ästhetischen Gestaltungsformen der Biennalen weltweit, die häufig dieselben Künstler*innen ausstellen und sich immer stärker gegenseitig reflektieren. Die ästhetische Besonderheiten werden damit immer differenzierter und unscheinbarer.
Diese üblichen ästhetischen Vermischungen und Dividuationen gilt es im Rahmen ästhetischer Bildung zu berücksichtigen und zu analysieren, sofern man nicht davon ausgehen möchte, dass sie sich nicht mehr entwirren lassen und ein bestimmter globalisierter Stil sowieso bereits Allgemeingut geworden ist. Was Achille Mbembe als „afropolitane“ Ästhetik preist, worunter er die affirmierte Teilhabe afrikanischer Personen und Kunstproduktionen am globalisierten symbolischen Aushandlungsgeschehen versteht, kritisieren andere bereits als generalisierte „Hyperkunst“, da sie in der digitalen Kommunikation ästhetischer Präferenzen und hipper Präsentationsformen tendenziell alle Unterschiede verlorengehen sehen. Aber auch wenn wir uns auf eine Minorisierung oder Entdifferenzierung des ästhetischen Geschehens zubewegen, sollte doch nicht gering veranschlagt werden, dass nicht alle Personen gleichermaßen an den digitalen und vor allem finanziellen Möglichkeiten der globalisierten Gegenwart partizipieren.
Ästhetische Bildung sollte in diesem Sinn auf zeitgenössische Entwicklungen auch jenseits der westlichen Welt achten, die vielfältigen Tendenzen zunehmender ästhetischer Hybridisierung von Personen und Kunstpraktiken aufmerksam registrieren und detailliert analysieren, Ausprägungen zeitgenössischer westlicher Ästhetik und ihrer kunstmarktbestimmten Wirkung im Rahmen des globalen künstlerischen Geschehens kritisch beurteilen und gleichzeitig alle Arten der Differenzbildung – freilich nicht in Richtung politischer Ausgrenzung – wertschätzen und befördern, da sie eine wertvolle aisthetische und ästhetische Ressource bleibt.