Fasziniert von den Bilderwelten der Neuen Medien verbleibt die allgemeine Debatte meist in der kulturhistorisch interpretierbaren Blickbeschränkung auf die Augen und das Sehen.[1] Unter den Bedingungen der technischen Apparaturen findet derzeit eine Umorientierung statt. Neue auditive Praxen im Verbund mit taktilen, visuellen, räumlichen Medien bringen auf eine andere Weise das Zusammenspiel von Schrift, Bild, Ton, welche kulturhistorisch hierarchisch und isoliert voneinander betrachtet werden, in den Blick. Erfahrungsvollzüge wie das Hören und das Sehen thematisieren das grundlegend medial angelegte Verhältnis des Menschen zur Welt. Die Technik bricht nicht von außen in z. B. die Stimme oder das Auge bzw. Bild ein, „Künstliches“ ist bereits von Anfang an in ihr am Werk. „Künstlichkeit“ und „Natürlichkeit“ ist von daher integraler Bestandteil jeder Erfahrung. Jede Erfahrung und Wahrnehmung ist durch strukturelle Differenzen gekennzeichnet. Wenn nun alle Erfahrungen medial strukturiert sind – so unsere These – dann setzt sich diese Strukturierung auch auf neue und andere Weise in den Medien fort. Künstlerische Projekte greifen in jüngster Zeit zunehmend diese Modalitäten, Welt zu hören und sehen auf. Sie tragen auf ungewöhnliche Weise dazu bei, Hör- und Sehordnungen zu befragen, um auf diese Weise Verschiebungen im Raum durch Performances anzustellen (Waldenfels 2010; Westphal 2010a/b; 2011).
Wenn wir Bilder von der Welt entwerfen, entsteht notwendig eine Differenz von Welt und Weltbild, mit allen erkenntnistheoretischen Risiken und Gefahren, Täuschungen und Trugbildern. Dem Bild, von dem wir uns ein Bild machen, glauben wir dabei in der Regel mehr, als dem Bild, das wir uns von etwas Gesagtem machen. Auch sind wir überrascht, wenn die Telefonstimme, von der ich mir ein Bild mache, sich nicht mit der Person deckt. Manipulationen sind in beiden Bereichen gleichermaßen technisch realisierbar. Demzufolge haben wir es in doppelter Hinsicht mit Trugbildern zu tun: den technisch hergestellten und unseren eigenen. So ist weder unserer Wahrnehmung zu trauen, noch den Bildern, wie sie sich durch Medien vermittelt zeigen.[2]
Die Stimme steht in der Zeit, sie ist im Charakter eher flüchtig und steht dem Gedächtnis und Erinnern und damit verbunden auch Vergessen anheim. Beim Zuhören kann ich auch etwas überhören. Ein Bild kann ich mir immer wieder ansehen und aus verschiedenen Blickwinkeln befragen, es beansprucht eher den räumlichen Sinn, grenzt aber auch aus und überdeckt etwas anderes zu Sehendes. Das Hören und Zuhören ist als traditionelles Erkenntnismodell dem Visuellen untergeordnet und von geringerer Bedeutung. Die Flüchtigkeit des Phänomens der Stimme unterläuft eine traditionelle Vorstellung von Wissenschaftlichkeit, die in objektivierbaren Ergebnissen ihren Rückhalt findet, während mit dem Phänomen der Stimme Kontrollverlust einhergeht. Diese Auffassung betrachtet das Sehen als etwas, das feststellt und auf Bilder aus ist. Sich ein Bild machen bedeutet in dieser rational orientierten Logik, Bilder zu entwerfen, Begrenzungen vorzunehmen und auf Distanz zu gehen (Westphal 2002, 40). Diese herrschaftskritische Sichtweise beschäftigt sich mit der Frage, wer sieht und hört und darüber bestimmt.
Der Zugang, den wir hier verfolgen, verweist uns darüber hinaus auf Formen, wie uns z. B. Sprechen/Sehen gegeben ist. Sie zeigen sich performativ und prozesshaft als Artikulation von Sinn in der Angewiesenheit auf den Hörenden bzw. Sehenden als den anderen, der hört/sieht und den Sprechenden/Sehenden, der sich hört/sieht. Mit diesem Erkenntnisinteresse verbindet sich eine Hinwendung zu den Prozessen der Aufnahme und Aneignung von Gegenständen, auf die Wahrnehmung von Selbst und Welt.
Wir gehen mit Merleau-Ponty (1966) davon aus, dass jede Wahrnehmung grundsätzlich situativ und kontextuell gebunden ist. Es gibt keine reine Wahrnehmung eines wahrgenommenen Gegenstandes. Kant hatte angenommen, dass jede mögliche Wahrnehmung ein sich selbst begründendes, ursprüngliches und synthetisches Vereinheitlichungsprinzip, das grundsätzlich über empirische Sinneserfahrungen wie dem Sehen stehe, zur Voraussetzung habe (Kant 1993, 161). Wir gehen hier von Grundstrukturen des Sehens und Hörens aus, zu denen die Gestaltbildung, Horizontalität, Zeit- und Raumstruktur gehören, die unsere Wahrnehmung organisiert. Wir haben es immer mit einer gestalt- und bedeutungshaften Wahrnehmung zu tun. Auch ist unsere Wahrnehmung gebunden an den Kontext mit etwas Anderem. Wir nehmen Dinge immer schon in einer bestimmten Weise wahr. Wir nehmen nicht nur etwas Bestimmtes wahr, sondern immer Anderes mit wahr. Wir können außerdem davon ausgehen, dass die Wahrnehmungsregister untereinander, wie das Sehen und Hören etc., verbunden sind. Das findet in der Sprache der Synästhesie seinen Ausdruck. Wenn z. B. eine Farbe als schrill bezeichnet wird, also eine Farbe mit einem Ton verglichen wird. Wahrnehmung ist in personaler und sozialer wie auch historischer Hinsicht eine Strukturierungsleistung in einem bestimmten zeitlich und räumlich vermittelten Kontext.
Seit 100 Jahren befinden sich die Modalitäten und Formen der Wahrnehmungen nachweislich mit Hilfe der Medien selbst in einer kontinuierlichen Transformation. Crary kommt zu dem Schluss, wenn es im zwanzigsten Jahrhundert ein bleibendes Charakteristikum des Sehens gäbe, dann das, dass ein solches fehle (Crary 199, 22). Es unterliege der Adaptierbarkeit an technologische Beziehungen, neuen sozialen Konfigurationen und neuen ökonomischen Zwängen im Zuge eines Modernisierungsprozesses.
Mit Blick auf den Rezipienten sind unsere Wahrnehmungen engstens verknüpft mit ihrer Erfahrungsgeschichte. Wie wir sehen, hören, riechen etc., wird nicht allein von uns hervorgebracht. Sie sind verbunden mit dem, was gesehen oder gehört etc. wird. Darüber hinaus sehen wir ein Bild immer als ein Bild. Es macht einen Unterschied, ob ich einen Rembrandt im Deutschen Museum betrachte oder im Netz. Es macht einen Unterschied, ob ich einen Gesangsvortrag in einem Konzertsaal, in einem Park oder zu Hause auf CD höre. Atmosphäre, Akustik, Techniken (Mikrofon, Lautsprecher) prägen die Aufnahme des Gesangs. Und nicht zuletzt nehmen wir immer auf dem Hintergrund einer Erfahrungsgeschichte mit den Dingen der Welt wahr. Das Telefon, welches selbst immer wieder virtuelle Räume zwischen den Menschen schafft und damit verbindet und trennt zugleich, hat sich z. B. in den letzten 100 Jahren als Apparatur und im Umgang damit gewandelt (vgl. Münker 2006). Und nicht zuletzt: Jeder Mensch lebt in anderen Verweisungsbezügen, die seine Wahrnehmung von sich und Welt beeinflusst (vgl. Meyer-Drawe 2001, 11f.). Die Frage stellt sich hier nun insbesondere, wie sich diese grundlegenden Annahmen in Hinsicht auf die neuen Medien behaupten bzw. neu stellen. Oder verlieren sich diese Bezüge im „Überall“ des Netzes? Am Beispiel Stimme soll dies im Weiteren erörtert werden.
Die Stimme ist wesentlicher Bestandteil und Träger von Information und darüber selbst an Kommunikation beteiligt, sie ist also auch Information, Geste und Ausdruck. Über Stimme zu sprechen findet in und mit der Stimme statt. Darin ist ein Moment der Doppelung enthalten, das jedoch nicht zur Deckung kommt. Stimme entzieht sich einer eindeutigen Verortung. Sie erscheint als Selbstpräsenz, indem ich mich selbst sprechen höre und zugleich als Fremdheit, indem ich mich selbst sprechen höre, wie ein anderer mich hört. Hören ereignet sich als Antwort auf einen Anspruch, der vom Anderen ausgeht, das auch das eigene Andere sein kann. Es gibt eine Differenz zwischen der gehörten und gesprochenen Stimme. Stimme unterliegt nicht nur einem ständigen Wandel und Anpassungsprozeß, sondern sie ist auch vielschichtig. Sie erscheint in ihrer Körperlichkeit, hat Alter, Geschlecht und Identität, sie hat Klang und Sinn, Ton und Bedeutung gleichzeitig. Über Stimme lässt sich nur reden, wenn man das Hören mit bedenkt. Reflektiert wird von daher die Stimme als vergesellschaftete, technisch-medial reproduzierte, als leibliche in lebensweltliche Bezüge eingebettete Stimme und als Thema unserer Hörgewohnheiten. Im technischen Medium wird eine andere Wirklichkeit der Stimme produziert. Medien machen diese Differenz bewusst. Stimmen können medial verändert werden, das Hören jedoch nicht. Stimmen – wie auch immer medialisiert – müssen gehört werden und bedürfen gerade deshalb des Rückgriffs auf die kommunikative Situation des leiblich-sinnlichen Zuhörens.
Medien hat der Mensch immer schon verwendet, um sich über seinen Körper hinausgehend Ausdruck zu verschaffen, sich zu inszenieren oder seine Arbeit zu erleichtern. D. h. der Zugang zur Welt ist immer schon vermittelt und medial. Medien bringen das Wie ins Spiel, nämlich die Mittel, Wege und Verfahren, um sich zu entäußern und auszudrücken. Waldenfels weist auf die Grundsituation des Menschen als Lebewesen hin, das auf der Schwelle von Natur und Kultur existiere (Waldenfels 1999, 94). Weder geht der Mensch gänzlich in die Natur ein, noch lässt ihn seine leibliche Zugehörigkeit zur Natur aus dieser gänzlich heraustreten. Diese Ambivalenz verweist uns auf die grundlegende Medialität unseres Zugangs zur Welt, wie sie sich z. B. schon über den Körper oder die Sprache vollzieht. Medien sind materiale Formen, ohne die es das in einem Medium Artikulierte nicht gäbe. Medienwelten sind so gesehen nicht allein als Ersatz für leibliche Vorgänge zu sehen, sondern als etwas, das für etwas Anderes steht und dadurch etwas Eigenes vorstellt. Beispiele sind technische Apparaturen, abstrakte Symbolsysteme etc.
Mich interessiert nun im Besonderen die zu Beginn des 21. Jahrhunderts bestehende alltägliche Grundsituation des Menschen zu verstehen, die sich speziell angesichts „künstlicher“, technologisch erzeugter Medien herstellt und die leibliche Präsenz des Menschen weit überschreitet. Mit fortschreitender Technisierung lässt sich beobachten, dass sich der Charakter der Medien in einer spezifischen Weise verändert hat. Die Medien zeigen sich in körper-analogen Formen, die sich im Vollzuge der Ausdifferenzierung immer mehr von einer leiblichen Organisation entfernt haben. Die Maschine bzw. Technik ersetzt leibliche Vorgänge, indem sie den leiblichen Umgang mit ihnen nicht außer Kraft setzt, sondern auf einer reduktionistischen Stufe konserviert: Das Handwerkliche verschwindet im Bedienen einer komplexen Maschine; das Live-Orchester wird konserviert und synthetisiert, das abstrakte Sehen über Menüs und Anzeigen auf Bildschirmen, das rudimentäre Bedienen von Hebeln und Schaltern oder Tastaturen und der „Maus“ kennzeichnen den Umgang mit Medien. Wird der Leibkörper zum Anachronismus? Es findet eine Verkörperung in die Medien statt und gleichzeitig eine Entkörperung leiblicher Vorgänge. Für den Prozess der technischen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert heißt es, dass die explorativen Wahrnehmungsprozesse immer mehr den Weg über die abstrakte metrisch visualisierte Realität der Instrumentenwahrnehmung nehmen müssen. Die unhintergehbare Situation der Anwesenheit des anderen bzw. die materiale Welt der Dinge, die an sinnliche Wahrnehmungen gebunden sind, wird über virtuelle Einflüsse und Manipulation abgeschnitten. Im Umgang mit elektronischen Medien kann man nicht immer wissen, welchen Präsentationsstatus Texte, Reden, Klänge oder die Bilder in dem Medium haben. Handelt es sich um eine Live-Aufnahme? Oder um eine Aufzeichnung, die gekürzt oder geschnitten wurde, oder um eine fingierte Situation? Haben wir es mit einer Computersimulation zu tun? Sind die Worte, die wir hören, in einer realen Zeit hintereinander gesprochen oder bereits technisch zusammengesetzt, etc.?
Wir erleben keinen völligen Ersatz der Sinne, sondern auf der Seite des Rezipienten eher eine Reduktion und zugleich symbolisch-abstrakte Verdichtung der sinnlichen Wahrnehmungsgehalte, wie sie sich z. B. über Zahlenskalen für Zeitdauer, Lautstärke u. a. zeigen. Zugleich geschieht auf der Seite der Medien die Substitution, die jedoch ohne die organischen Vornormierungen (damit überhaupt etwas gesehen werden kann) der sinnlichen Wahrnehmung nicht existieren kann. Zu unterscheiden sind in diesem Zusammenhang die Wahrnehmungsakte von dem Wahrgenommenen. Es sind dann die Wahrnehmungsakte, deren sinnliche Fülle sich entleeren, wie wir es schon in der Literalisierung der Erfahrung beobachten können. Stattdessen nimmt die kognitive Struktur zu. Es müssen Skalen, Anzeigen und Symbole interpretiert und entschlüsselt werden, um Auskunft über das zu erhalten, was sie repräsentieren bzw. messen. Von daher lässt sich die These aufstellen, dass sich eine technische Welt ohne humane leibliche Referenz und Wahrnehmungsregister schwerlich vorstellen lässt. Sie ist ohne den leiblich präsenten Leser/Hörer/Zuschauer nicht möglich.
Die Erfahrungen, die in den neuen Technologien aus ihren ursprünglichen Kontexten gezogen werden und zu neuen Wirklichkeiten in künstlichen Bezügen hergestellt werden, verändern unsere Wahrnehmungsweise und auch die Bedingung der Möglichkeit zu erfahren. Die erlebbare Welt zeichnet sich darin aus, dass ihre Möglichkeiten innerhalb konkreter Situationen gewonnen werden. Die virtuellen Welten hingegen basieren auf kalkulierten und kontextunabhängigen Situationen (Waldenfels 1998, 232). Die Medien „lockern die Verankerung im Hier, indem sie Möglichkeiten des Dortseins freisetzen und den Spielraum der Erfahrung teils erweitern, teils vervielfältigen“ (233). Das unmittelbare Erleben, das wir nicht zum Gegenstand haben, wird zum Gegenstand eines Metawissens und von Beobachtung (ebd.)
Im Zentrum für Medien und Neuere Technologien in Karlsruhe hat mich eine Installation besonders täuschen können. Auf einer Wand in einem kleinen verdunkeltem Raum wird eine Tür projiziert, die sich irgendwann mal öffnet und ein Kind scheint hereinzuhüpfen, die Tür verschließt sich wieder. Für einen Moment habe ich geglaubt, es sei wirklich eine echte Tür, die sich öffnet. Die Dunkelheit des Raumes versperrte mir für diesen Moment die Möglichkeit der dreidimensionalen Sichtweise. Die „Täuschung“ gelingt hier nur, wenn der Wahrnehmungsmodus auf das „Sehen“ eingeschränkt ist. Die Simulation ist dann als immanente Steigerungsmöglichkeit zu betrachten, die vorhandene Strukturen nutzt und einseitig perfektioniert. Unsere Wahrnehmung ist immer schon verknüpft mit konstruierten oder künstlichen Eingriffen. Schon in der einfachen sinnlichen Erfahrung sehen wir mehr, als wir direkt sehen. Wir nehmen einen Menschen in bestimmten Ausschnitten wahr, haben aber trotzdem nicht einen „halben“ Eindruck von der Person, sondern eine ganze Wahrnehmung. Es sind die „Überschüsse“ von Sprache, Klängen etc., die dazu beitragen, sich ein ganzes Bild von einer Situation, einer Person etc. zu machen. D. h. Phänomene überschreiten immer schon die Grenzen ihrer Sichtbarkeit (vgl. auch die Horizonthaftigkeit, die Abschattungen etc.). Somit ist Präsenz zugleich auch Appräsenz und Absenz. Genau in diese Struktur nistet sich die Virtualität und Idealität ein: z. B. die Idee einer standpunktlosen All-Sicht, oder aber das Mögliche an einer Erfahrung, die sich schon im Wirklichen vor-zeichnet und die Verselbstständigung dieses Möglichen zu einem zukünftigen Wirklichen und Vollkommeneren. Maschinenhaftes ist nicht allein äußerlich. Meyer-Drawe schreibt davon, dass Maschinen nicht das absolut Andere im Vergleich zu uns sind. „Sie konfrontieren uns mit regelhaften Zusammenhängen, von denen auch unsere Existenz nicht frei ist.“ (Meyer-Drawe 1996, 22f.) In uns und an uns selbst ist auch Maschinenhaftes zu beobachten, das sich in starren biologischen Abläufen, der Wiederkehr des Gleichen, in Routinisierungen und „mechanisierten“ Gewohnheiten zeigt.
Nun sind die Neuen Medien in der Multimediaanwendung darauf aus, die Stimme nicht, wie noch beim Funk, isoliert erscheinen zu lassen, sondern die Kunst dieser Anwendung besteht in dem virtuell verschmelzenden, synästhesierenden und interaktiven Aspekten bzw. Effekten. Die Stimmen sollen möglichst „echt“ wirken. Stimmen erhalten virtuell einen Raum, Farben, Bilder, Bewegung und auch Schrift. Die „Wirklichkeiten“ der verschiedenen Medien werden virtuell vernetzt, und die neuen Medien tun das, was wir in der Realität auch herstellen. Wir erschließen uns Welt individuell in der Verschränkung all unserer Sinne und unseres Begehrens. Die Digitalisierung hat jedoch nur höchst vermittelt Sinnliches zum Gegenstand. Sie ist auf der Ebene der Maschinensprache zunächst weder auditiv, noch visuell, sondern völlig abstrakt durch die Tatsache, dass ein Sprachfeld z. B. in kleinste Informationseinheiten geteilt wird, in Bits (Vief, in: Scholz 1998, 43 f.). Und es sind auf der Ebene der Rezeption und der Produktion die Interagierenden, die über eine Rückübersetzung all ihre Sinne benötigen, um die abstrakte, elektronische Sprache zu bedienen und zu verstehen. Ohne diesen Bezug bleibt jedes Medium stumm und leer. Auch die digitalisierte Computerrealität wird sinnlich wahrgenommen und unterliegt in ihrer Ästhetik, Perfektion, ihren Gestalten etc. den sinnlichen Kriterien des Wahrnehmenden. Der Wahrnehmende sieht nicht Bits und Bytes, er rechnet auch nicht, er sieht Bilder. Demzufolge lässt sich unterscheiden zwischen der Ebene der Maschine bzw. Konstruktion und der Ebene der „phänomenalen Welt“. Wir haben es zum einen mit der Sprache der Maschinen zu tun, die auf der Basis binärer Codes, Bits arbeitet und zum anderen mit der Darstellungssprache, die bewegte Bilder erzeugt und vom Anwender bedient wird. Ohne einen Rückbezug in der leiblich-sinnlichen Welt könnte der Anwender diese nicht bedienen.
Es ist die These zu verfolgen, dass sich die Medien (Codes) und sinnlich leibliche Erfahrung wechselseitig beeinflussen. Letztere müssen mediengerecht umgebaut werden, erstere bedienen sich vormedialer, nicht-technologischer Parameter. Auf diese Weise entsteht eine eigene bzw. eigentümliche „neue“ Zwischenwelt, wie sie im Prozess der Literalisierung bereits in anderer Weise auch schon zu beobachten ist.
Elektronische Medien simulieren unsere lebendige Kommunikation in der Weise, dass „Technisch-Künstliches“ und „Sinnlich-Leibliches“ sich durchdringen und wechselseitig beeinflussen. Grundsätzlich lässt sich bestimmen, dass auch die elektronische, künstliche oder medialisierte Stimme ein „Phänomen“ ist, das als gehörte Stimme in Erscheinung tritt. „Phänomenal“ heißt hier die vortechnische, leiblich-sinnliche bzw. „natürliche“ Stimme. Dem steht die technisch-medialisierte „künstliche“ Stimme nicht gegenüber, vielmehr ist diese als eine Modalität der „natürlichen“ phänomenalen zu betrachten, solange sie noch als Stimme hörbar und identifizierbar ist. Eine medialisierte und konservierte Stimme löst sich nicht nur von ihrem leiblichen Stimmträger, sondern zugleich auch von dessen Lebenszeit. Sie kann zu einem selbst gewählten Zeitpunkt von dem Rezipienten gehört werden. Es entstehen auf diese Weise neue Kommunikationsräume, in denen die leibliche Präsenz des Hörenden dominiert.
Die neuen Medien dezentrieren das Subjekt, durchdringen, rhythmisieren und individualisieren es. Je nach Interesse, Wunsch und Bedarf kann darüber verfügt werden, welche Stimme und welche Bilder gehört und gesehen werden wollen. Sie dienen der Selbstinszenierung der Subjekte in hohem Maße. Die elektronische Stimme führt zu vielfältigen Entdeckungen. Die Doublage, wenn Filme nachsynchronisiert werden, vereint eine verborgene Stimme mit dem Körperbild im Film. Im Play-Back-Verfahren fügt sich der Körper mimetisch einer vorgegebenen Stimme, die von ihm auf diese Weise vereinnahmt wird und umgekehrt (Lehmann 1999, 279). Schnitte mit live gesendeten Stimmen und konservierten Stimmen sind mittlerweile eine gängige Form der Nachrichtenübermittlung. Lehmann beschreibt in seiner Arbeit über das postdramatische Theater Versuche auf der Bühne mit diesen Mitteln:
„Die Stimmen sind oft durch unsichtbare Mikrophone entwendet und tönen von anderswo her. Die Sätze fliegen hin und her, ziehen Bahnen, schaffen Felder, die mit dem optisch Gegebenen Interferenzen bilden. Die maschinelle Schnelligkeit des Sprechens und der Anschlüsse läßt die Worte wie Pfeile oder Bälle wirken, die zwischen den Personen und Bildern so fix wie in der Screwball-Comedy hin- und hergeschossen werden. So ziehen sie Kraftlinien durch die vom Zuschauer erblickte Szene, in der sie sich einnisten und das Visuelle überdeterminieren. Wer spricht, wer antwortet? Der Blick sucht. Wer ist es, der gerade spricht? Man entdeckt die Lippen, die sich bewegen, assoziiert die Stimme mit dem Bild, setzt das Zerbrochene zusammen, verliert es wieder. Wie der Blick zwischen Körper- und Video-Bild hin und her wandert, sich selbst reflektiert, um zu erfahren, wo Faszination, Erotik, Interesse sich festmachen, sich also als Video-Blick erfährt, so konstruiert das Hören einen anderen Raum in den optischen hinein: Bezugsfelder, Linien, die die Barrieren überspringen. Während die Bilder die Präsenz spalten, indem sie das Jetzt des auf der Bühne Geschehenden mit möglicherweise ganz anderen Zeit/Bildern auf dem Video-Bildschirm durchsetzen, fügt die Sprache im Frage-Antwort-Spiel das zerfallende Bild momentweise wieder in die Präsenz einer Imagination zusammen.“ (Lehmann 1999, 280 f., über ein Stück von John Jesuran, New York, das als „kinematographisches“ Theater bezeichnet wird.)
Lehmann schildert hier das Aufbrechen konservativer Erfahrungen und Muster, indem neue Erfahrungen im Verhältnis von Ton und Bild gemacht werden. Es wird die Gewohnheit thematisiert, das Hören dem Sehen anzugliedern. Die Irritation, die solche Szenen auslösen, vergegenwärtigt, wie sehr wir in unserer Wahrnehmung eine Stimme an einen konkreten Körper binden. Die „Entwendung“ der Stimme vom Träger lässt die über Stimmen – Hören – Sehen neu geschaffenen „Räume“ als zerrissene Klangräume, die nicht mehr richtungsuniform sind, erscheinen. Deutlich werden aber auch die gleichsam „konservativen“ Elemente von Stimme als Stimme. Der Zuhörer und -schauer wird mit vielen Möglichkeiten, Zuordnungen von Reizen, Bildern, Tönen, die im gleichen Moment erfolgen, konfrontiert. Die Inszenierung reißt ihn mit in ein multiperspektivisches Geschehen hinein. Die Augen der Zuschauer, die Ohren, die Bewegungen werden mitgerissen, verführt, parzelliert, aufgestört und finden keine Verankerung mehr, irren herum. Sie sind dem Subjekt „fern“. Dass das als irritierend erlebt wird, zeigt, wie relativ konservativ unsere sinnlichen Gewohnheiten sind. Die über die Medien vermittelte Gleichzeitigkeit, die unsere Erlebniszeit und Raummuster aufstören, bestimmt unsere Wahrnehmung und Leiblichkeit. Sie verweist uns auf die Widerständigkeit unserer Leiblichkeit, die uns an einen bestimmten Ort, an die Schwerkraft, an die Notwendigkeit zu atmen etc. bindet.
Die Demonstration, die Lehmann bespricht, ent-kontextualisiert. Als Zuhörer sind wir bemüht zu re-kontextualisieren, um zu verstehen und einen Sinn zu entdecken. Ein Vorgang, der uns den alltäglichen Umgang mit Medien vor Augen führt. Auf diese Weise wird die Differenz zu den Erfahrungen, die wir im konservativen Umgang mit Körper und Stimme als phänomenale haben, bewusst gemacht. In differenten Erfahrungsfeldern ver-rücken die Phänomene. In einem groß angelegten Projekt mit 100 Schülern anlässlich des Schultheaters der Länder 2009 in Hamburg erarbeitet die Radio- und Performancegruppe LIGNA mit den Schülern ein Hörstück, anhand dessen entsprechende mediale Erfahrungen gemacht werden können.
Die in Hamburg ansässige Radiogruppe LIGNA experimentiert seit 1995 auf lokaler und überregionaler Ebene mit innovativen Theater- und Performanceproduktionen, in dem sie das Radiohören als gemeinschaftliche Aktion im öffentlichen und privaten Raum thematisiert. Untersucht werden Situationen der Rezeption (Ligna 2011). Die darin enthaltenen performativen Potenziale werden offen gelegt. Patrick Primavesi beschreibt den politischen Anspruch der Gruppe: „Skeptisch gegenüber Versuchen, gerade das Freie Radio zum Ort der Wiederaneignung einer individuellen, unzensierten Stimme zu machen, verweist LIGNA darauf, dass durch das Radio stets das Unheimliche in der Erfahrung des Mangels an Präsenz vermittelt wird: keine ursprüngliche Identität und Authentizität der Stimme, vielmehr ihre Heterogenität und Flüchtigkeit.“ (Primavesi 2011, 9)
LIGNA begreift und organisiert die HörerInnen als „zerstreutes Kollektiv“. Wer Radio hört, ist Teil einer Konstellation mit vielen anderen – so die Ausgangsthese der Gruppe. Indem nun das gemeinsame Radiohören aus dem privaten Raum nach draußen getragen wird, wird diese Gemeinschaft direkt für die teilnehmenden Hörer erfahrbar. Die künstliche Trennung wie noch oben beschrieben, wird also in eine Umkehrung gebracht. Das Besondere dieser Projekte ist der Gedanke, dass das Hören aktiv erfolgt und in diesen Projekten verräumlicht wird. Beim Radioballett in Fußgängerzonen, auf öffentlichen Plätzen wie Bahnhöfen und wie in unserem Falle als „Auftragsarbeit“ für das Schultheater der Länder auf den vier Terrassen der Landungsbrücken in Hamburg konzipiert, wird Raum mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse verbunden erkundet, das sich insbesondere auf die Frage nach der vorhandenen Macht im Raum richtet. Besonderes Interesse haben von daher „umkämpfte, politische“ Räumlichkeiten. In unserem Falle wird die Ortsspezifik untersucht auf ihre unsichtbar gewordene Geschichte in Hinsicht auf Auswanderung und unter aktueller Bezugsnahme auf Tagestouristen und Hafenarbeit und utopischer und theatraler Hinsicht als Ort für die Jugendlichen selbst untersucht (BV Theater an Schulen 2009). So werden Fragen erforscht wie: Wie begibt man sich in einen bestimmten Raum? Wie ist ein Raum strukturiert? An welche Verhaltens- und Bewegungsformen appelliert der Raum und welche nicht? Wer betritt diese Räume und wie und woraufhin? Mit Blick auf die Arbeit mit Jugendlichen steht die Frage besonders im Raum: Wer bin ich, und wer bin ich an welchem Ort? Wie sind die Ordnungen solcher Räume? Wieviel Fremdes finde ich im eigenen Raum? Wem gehört die Straße, der Bahnhof, der Hafen? Die Recherche erfolgt mit verschiedenen SchülerInnen von vier Hamburger Schulen, die als „Botschafter“ ausgesandt werden, um die Grundidee 100 SchülerInnen jeweils zu vermitteln. In weiteren Workshops wird mit den Botschaftern an einem Hörstück mit dem Titel „Große Freiheit Landungsbrücken“ gearbeitet. In der Schlussphase erst treffen alle Akteure auf Kampnagel für eine erste Probe zusammen und werden mit den entsprechenden Requisiten wie einer Einwegkamera ausgerüstet, um Situationen der Umwandlung des Ortes in eine Liegewiese (Plastiktüten), in einen Wunschbrunnen (Münzen) und die Unterbrechungen der Alltagswege mit Absperrbändern zu fotografieren. Die SchülerInnen hören das Hörstück durch ein Radio MP3 Player und setzen die darin enthalten Anweisungen und Assoziationen in Gesten und Aktionen gemeinsam um.
Für Bildungsprozesse heißt das, dass diese Vorgehensweisen dazu herausfordern, verschiedene Sichtweisen zu erfahren, Körperlichkeit als ein Involviertsein in Raum und Zeit im Sinne einer spezifischen Umgebung zu erfahren und zu reflektieren und auf diese Weise sich Räume wieder (neu) zu vergegenwärtigen (Westphal/Liebert 2009, 9f.).
Bundesverband Theater an Schulen: Fokus Schultheater 09. Spielraum. Stadtraum. Hamburg 2010
Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt/M. 2002
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg. Felix Meiner 1993
Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt/M. 1999
LIGNA: AN ALLE. Radio Theater Stadt. Hamburg 2011
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. München 1966
Meyer-Drawe: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München 1996
Meyer-Drawe: Leibhaftige Vernunft – Skizze einer Phänomenologie der Wahrnehmung. In: Beck/Rauterberg/Scholz/Westphal (Hg.): Die Sache(n) des Sachunterrichts, Frankfurt/M. 2001, 11-23
Münker, Stefan/Roesler, Alexander (Hg.): Telefonbuch. Frankfurt/M. 2000
Primavesi, Patrick: LIGNA. Freies Radio und öffentlicher Raum. In: LIGNA: AN ALLE. Radio Theater Stadt. Hamburg 2011, 7–18
Vief, Bernhard: Medientheorie und Geldtheorie, in: Beck/Rauterberg/Scholz/Westphal (Hg.): Die Sache(n) des Sachunterrichts, Frankfurt/M. 2001, 41–49
Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt/M. 1998 Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des fremden 2. Frankfurt/M. 1998
Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen, Frankfurt/M. 1999
Waldenfels, Bernhard:Ortsverschiebungen. In: Tom Fecht et.al. (Hg.): Vier Versuche über Raum. München 2000
Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Frankfurt/M. 2010
Westphal, Kristin: Wirklichkeiten von Stimmen. Grundlegung einer Theorie der medialen Erfahrung. Frankfurt/M. 2002
Westphal, K./Liebert/W.-A. (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Perspektiven der Künste auf Bildung und Wissenschaft. 2009 http://www.uni-koblenz.de/~westphal/sym/
Westphal, Kristin: Von der Unersetzbarkeit der Sinne in der Welt der Medien am Beispiel der Stimme. In: Kapust, Antje/Waldenfels, Bernhard: Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick. Merleau-Ponty zum Hundersten. Fink Verlag München 2010a
Westphal, Kristin: Mediale Erfahrungen. Reflexionen über neuere Räume des Hörens und der Stimme am Beispiel des Radioballetts der Gruppe Ligna.“ In: Korrespondenzen Schibri Verlag Milow Berlin 2010b Heft 56. Zeitschrift für Theaterpädagogik hrsg. von Dieter Linck/Florian Vaßen
Westphal, Kristin: Von der Notwendigkeit, Fremdes zu erfahren. Auf/Brüche von Wissenschaft und Künsten im Dialog über Bildung. Am Beispiel einer Performance mit Kindern. In: Brinkmann, Malte (Hg.): Erziehung. Phänomenologische Perspektiven. Königshausen & Neumann: Würzburg 2011, 203–213
Abb. 1 Landungsbrücke Hamburg. Schultheater der Länder 2009 ©Günter Frenzel
Abb. 2 Radioballett © Spotredaktion SdL 2009
[1] Der vorliegende Text ist in einer ersten Fassung mit dem Titel: Vom Ver-Rücken der Phänomene – über neue Räume der Stimme und des Hörens erschienen in: Der Blaue Reiter hrsg. von Siegfried Reusch, Stuttgart 2001
[2] Christoph Wulf und Bernd Hüppauf gehen der Frage nach, was Bilder sind, was sie tun und welche Bedeutung sie für das individuelle und kollektive Handeln und Phantasieren haben. Sie können abbilden; sie sind aber auch Ereignisse und als solche performativ. Sie sind an Wahrnehmung, Erinnerung und Projektionen von Zukunft entscheidend beteiligt. Bilder machen präsent, bringen Abwesendes nahe und simulieren virtuelle Welten. Sie machen Unsichtbares sichtbar und lassen Sichtbares verschwinden. In: Bild und Einbildungskraft. Bild und Text. München 2006
Der Text ist durch ein partizipatives System der Begutachtung und Kommentierung von wissenschaftlichen Beiträgen durch die Fachcommunity („Open-Peer-Review“) gegangen, das die zkmb bis September 2019 verwendet hat. Für die Dauer von zwölf Monaten konnte der „Text im Diskurs“ von allen Personen der Fachcommunity durch öffentliche und namentlich gekennzeichnete „Reviews“ kommentiert werden. Nach Ablauf dieser Zeit hatten die Autoren/innen die Möglichkeit, ihren Artikel zu überarbeiten und dabei gegebenenfalls Hinweise der Reviews einzuarbeiten. Die endgültigen Publikationen wird hier zusammen mit den daran geknüpften Reviews veröffentlicht.