Was heißt BILDUNG – ERZIEHUNG – UNTERRICHT – ENTWICKLUNG – VERÄNDERUNG eigentlich in einem auf Geschwindigkeit und wirtschaftliche Verwertbarkeit ausgerichteten Wirtschafts-, Staats-, aber eben auch Bildungssystem? Wie können wir wieder Platz schaffen und den Menschen in den Mittelpunkt stellen?
Dafür möchte ich einen so einfachen wie auch angestaubten und aus der Mode gekommenen Begriff reaktivieren: BEGEGNUNG.
Unter der titelgebenden Leitfrage der Springschool 2016 how to love? am Institut für Kunst & Kunsttheorie bot ich ein Seminar an, in welchem eine Auseinandersetzung mit dem Begriff BEGEGNUNG im Zentrum stand. Ich wollte mit den Studierenden einen kreativen sowie kollektiven Arbeitsprozess eröffnen, der ergebnisoffen BEGEGNUNG in den Fokus rückt, diesen Begriff sowohl als methodisches als auch als inhaltliches Lehrprinzip erforscht und darin Widersprüchlichkeiten zulässt.
BEGEGNUNG ist ein Begriff, der in der Kunst wie in der Bildung ,old fashioned’ und ,new’ zugleich ist. Er steht für etwas, an das wir in der heutigen Zeit nicht mehr glauben, der uns pathetisch und abgenutzt vorkommt. Schnelle Befriedigung, spiegelglatte Oberflächen, Makellosigkeit sind die Begriffe der Gesellschaft, der Politik, des Kapitalismus und auch der Kunst geworden. Und doch steckt im Begriff BEGEGNUNG eine progressive Sprengkraft, die wir für viele Situationen in der Lehre nutzen können. BEGEGNUNG heißt, sich Zeit nehmen. BEGEGNUNG heißt Reflexion.
BEGEGNUNG heißt, das Andere in den Blick zu nehmen. BEGEGNUNG heißt, von sich abzusehen.
BEGEGNUNG heißt Teilhabe der anderen und eben dadurch auch: Teilhabe durch sich selbst. Eine Utopie? – Vielleicht! Auf jeden Fall eine, an der man immer wieder arbeiten und für die man sich selbst überwinden muss.
(Bertold Brecht, zit. nach Wekwerth 2000: 72)
Im Kontext Ästhetischer Erziehung und Bildung bietet sich ein produktiver Rahmen für die Auseinandersetzung mit dem Begriff BEGEGNUNG, nämlich in der Begegnung mit Kunst und in einer Definition des Begriffes Kunst jenseits seiner Verwertbarkeit: BEGEGNUNG als Leitmotiv und Unterrichtsprinzip. Denn in der Kunst kann sie im besten Fall wertfrei, ohne Effizienzdruck, mit Zeit und Offenheit studiert und gelehrt werden und alle Menschen– jenseits von Bildungsbarrieren – mit einbeziehen, da hier die emotionale Ebene eine höhere Bedeutung für das Kognitive erhält, als das faktische oder prozedurale Wissen.
Szenische Beziehungen und Impulse ziehen wir bei BEGEGNUNG als Arbeitstechnik aus der Begegnung mit den ANDEREN, aus einem Blick, einer Aufmerksamkeit auf das Außen, aus einer Reaktion oder dem Erleben des oder der Anderen. So erreichen wir eine direktere Ausstrahlung auf die Partner*innen oder die Zuschauer*innen, eine intensivere Liveness durch den Bezug nach außen und eine größere Reaktionsvielfalt aus den Impulsen unseres Gegenübers. Voraussetzung dafür ist eine gewaltfreie, offene Begegnung, die sich nicht nur auf die eigenen Befindlichkeiten konzentriert, sondern die Anderen in ihrer jeweiligen Verfassung, ihren Bedürfnissen und Impulsen wahrnimmt.
Das lässt sich nicht nur auf das Spiel oder die Begegnung mit Partner*innen oder Zuschauenden beziehen, sondern auch und umso mehr auf den kreativen Schaffensprozess und die Arbeit in Gruppenbezügen. Kreatives und zugleich ethisches Handeln entsteht hier durch ein Erleben von kollektiven Gestaltungsprozessen, in einem Arbeitsprozess, in den jede*r einbezogen wird. So entsteht performatives, darstellerisches Handeln aus einer autonomen Haltung heraus.
Dabei geht es eben nicht ausschließlich um ein deliberatives Konzept, das auf Überzeugung und Konsens setzt, also ein Konzept, in dem wir so lange miteinander reden, bis wir alle die gleiche Meinung haben – sondern auch und gerade um das Andere, das Widersprüchliche.
Im Seminar der Springschool stellten wir uns die Frage: Was steht am Anfang einer Liebe, einer Beziehung? Zunächst eine Begegnung. Eine Begegnung, mit der wir einige Ideale verbinden. Das warf die Frage auf, wie wir uns die Gestaltung dieser Begegnung vorstellen und wünschen und welche Arten von Begegnungen wir aus unserem eigenen Leben kennen. In einem ersten Schritt untersuchten wir, welche Vorstellungen wir von einer idealen Begegnung haben. Gewaltfreiheit, eine gleiche Augenhöhe, Freiwilligkeit – aber eben auch: Den oder die Andere*n in den Blick nehmen, von sich absehen und Bedürfnisse und Grenzen der*des Anderen wahrnehmen.
Gleichzeitig beschäftigte uns das Gegenläufige, die Antagonisten einer gleichberechtigten, nicht manipulativen Begegnung. In diesem Kontext untersuchten wir die Techniken der sogenannten Pick-Up-Artists. Welche Methoden, Regeln und Fachbegriffe benutzen diese selbsternannten ,Aufreißkünstler’? Ihre Methoden, die darauf abzielen, meist Frauen für unverbindlichen Sex ins Bett zu bekommen, basieren auf Erniedrigung und sexueller Übergriffigkeit mit der Absicht, die Andere zu manipulieren und zu überrumpeln, um zum Ziel zu kommen. Dieses Denken wollten wir performativ aufbrechen und für das Publikum erlebbar machen. Aus dem recherchierten theoretischen Material, der Auseinandersetzung mit verschiedenen Performance-Techniken und Interviewmaterial entwickelten die Studierenden zwei unterschiedliche Performances, die diese beiden Pole von BEGEGNUNG ins Zentrum stellten:
Die Performance beschäftigte sich mit den Techniken der Pick-Up-Artists und der Lebensrealität vieler Frauen im Alltag: Der Begegnung mit Männern im öffentlichen Raum. Beim Betreten des Theaterraums wurden die Zuschauenden per Zufall mit einem Geschlechterpass ausgestattet, der sie als männlich oder weiblich auswies.
Unter Beobachtung der fast ausschließlich weiblichen Studierenden mussten sie den ihnen durch Mikrofondurchsagen angewiesenen Platz einnehmen. Dafür wurde der Raum in verschiedene Zonen eingeteilt. In der Mitte des Raumes befand sich eine aufgeklebte Fläche: Das ,Field’ (ein Begriff aus der Pick-Up-Szene, der für den Ort verwendet wird, an dem aufgerissen wird: die Bar, die Straße oder Diskothek). Dort sollten sich die als männlich gekennzeichneten Personen einfinden. Dieses ,Field’ wurde von den weiblich markierten Zuschauer*innen umgeben.
Aus den Boxen dröhnte ein bedrohliches Wummern, das Licht im Raum war düster und zwielichtig. Die Performer*innen saßen, mit schwarzer Kriegsbemalung im Gesicht und schwarz gekleidet, auf einem stufigen Podest, angeleuchtet von einer Neonröhre.
Über Mikrofone hörte das Publikum von den Studierenden erarbeitete Texte, die als Ich-Erzähler*innen von einer Aufreiß-Tour eines Pick-Up-Artists berichteten. Im Verlauf des Textes schwärmten die Performer*innen in das ,Field’ aus, starrten die Zuschauenden im männlichen Feld an, wurden z.T. auch handgreiflich und betatschten und begutachteten ihre ,Ware’. Sie flüsterten den Besucher*innen Dinge ins Ohr, die das Aussehen der Besucher*innen positiv oder negativ beschrieben. Diese Texte wurden im Vorfeld der Performance aus Selbstinterviews über die eigene Erlebnisrealität von Begegnungen dieser Art entwickelt. Die übrigen, weiblich markierten Besucher*innen hatten die Wahl, in ihrer Position zu bleiben, mitzumachen oder einzugreifen.
Es ging den Studierenden darum, die Verhältnisse dieser Art von BEGEGNUNG umzudrehen, in einem performativen Akt sichtbar und erlebbar zu machen und das Publikum für übergriffiges Verhalten zu sensibilisieren.
Die zweite Performance thematisierte eine von den Studierenden erwünschte Form der Begegnung: eine Begegnung, die die Bedürfnisse der Anderen in den Mittelpunkt setzt. In einer gemeinsamen Prozession zog das Publikum mit den Performer*innen durch die Flure des Instituts, bis sie wieder im nun lichtdurchfluteten Theaterraum ankamen. Auf dem Weg hörte das Publikum zu den Klängen von Björks All is full of love biografische Erzählungen der Studierenden, in denen sie von subjektiv idealen Begegnungen mit Menschen in ihrem Leben erzählten. Fünf Performer*innen stießen nach und nach zum Prozessionszug dazu und nahmen jeweils eine*n Zuschauende*n bei der Hand und erteilten Instruktionen zur Technik einer Übung, die den Schlusspunkt der Performance darstellte: Den Magic-Eye-Contact. Hierbei stellten sich Paare im Abstand von drei Metern gegenüber, verbunden durch das Ziel, sich so nah wie möglich zu kommen, und begannen unter den fortlaufenden Geschichten, der Musik und unter den Blicken des Publikums, sich Schritt für Schritt anzunähern. Verbunden durch die Regeln, dass der Blickkontakt nicht abbrechen darf und das schrittweise Annähern nur geschieht, wenn man das Gefühl des Einverständnisses hat, entwickelte sich ein ergreifender und emotionaler Moment zwischen Teilnehmer*innen aus dem Publikum und Performer*innen, der eine warme und die Grenzen der Anderen respektierende Alternative zur ersten Performance darstellte. Für mich ist der Begriff BEGEGNUNG ein ideales Leitmotiv und Forschungsparadigma in der Bildung generell und gerade im Kontext Ästhetischer Erziehung. Für die Herstellung eines geschützten Lehrraums, in dem mit den Mitteln der Kunst (Irritation, Konfrontation, Provokation etc.) gearbeitet wird, braucht es ein paar Rahmenbedingungen: Das Arbeiten auf Augenhöhe mit den Studierenden, Pluralität, Wertungsfreiheit in dem Sinne, dass verschiedene sich widersprechende Meinungen nebeneinander stehen dürfen und ihren gleichberechtigten Platz finden, und vor allem eine größere Prozess- als Ergebnisorientierung, die die gemeinsame Arbeit einer Gruppe in den Mittelpunkt stellt, in der jede*r eine Stimme hat.
[1] ARTUCATION soll in diesem Aufsatz ein Begriffsspiel sein, das den Begriff Arteducation oder ästhetische Erziehung weg von einer Technik der äußeren Steuerung der Lernenden hin zu einer Begegnung zwischen Lehrenden und Lernenden auf Augenhöhe durch BEGEGNUNG versteht. Dieser Schutz- und Freiraum, den die Kunst eröffnen kann, lässt ein gemeinsames Arbeiten zu, das mit den Mitteln der Kunst wie Provokation, Konfrontation und Irritation sowie dem Gegenüberstellen und Stehenlassen unterschiedlicher Meinungen arbeitet und gleichzeitig eine Sensibilisierung auf die Anderen zulässt.
Wekwerth, Manfred (2000): Erinnern ist Leben. Eine dramatische Autobiografie. Leipzig: Faber & Faber.