Im Gespräch mit Bildern. Über die Rolle von Anderen in der Verflechtung mit Kunst bei Alva Noë

Wenn ich mit Studierenden der Kunstpädagogik über mögliche Arten der Auseinandersetzung mit Bildern spreche, begegnen mir immer wieder zwei konträre Zugänge. Grob gesprochen lassen sich diese in einen der beiden Bereiche einordnen: Einerseits kreisen manche Vorstellungen dessen, was eine Auseinandersetzung mit Bildern in Vermittlungskontexten sein kann und soll, um ein Erschließen der Bildbedeutung. Es geht hier in den allermeisten Fällen um den kunst- oder kulturwissenschaftlich objektivierbaren Gehalt eines Bildes, der keine individuelle Meinung widerspiegelt, sondern das Ergebnis einer strukturierten Analyse ist. Andererseits orientieren sich viele Zugänge an einem Sich-affizieren-lassen durch das Bild, das nicht objektivierbar ist, sondern sich als ein subjektives Empfinden äußert. Gerade mit Bezug hierauf betonen Studierende immer wieder das Potential der Auseinandersetzung mit Bildern für das Bildungsanliegen der Individualisierung, das mit einer gefühlsoffenen Form der Annäherung in Zusammenhang zu stehen scheint. An dieser sehr schematisch dargestellten Zwiespältigkeit der Auseinandersetzung mit Bildern lassen sich zwei in ästhetischen Debatten gar nicht so selten anzutreffende Auffassungen ablesen: Rational-analytische Verfahren der Auseinandersetzung mit Bildern (z.B. Panofsky 2006) legen wenig Wert auf den individuellen Zugang zum Bild, sondern orientieren sich an allgemein (mit)teilbaren Auslegungen von Bildern. Sie lassen sich entsprechend problemlos versprachlichen und in gemeinschaftlichen Vermittlungssettings anwenden, weil die Blicke der Einzelnen auf dieselben (formalen und inhaltlichen) Aspekte des Bildes gelegt werden. Emotional-intuitive Verfahren der Auseinandersetzung mit Bildern dagegen (z.B. Kämpf-Jansen 2012) fokussieren den individuellen Zugang zum Bild und betonen gerade die möglicherweise nicht mit anderen teilbaren Ansichten und Affektionen, die in der Begegnung mit Bildern situational spezifisch auftreten können. Sie lassen sich durch ihren teils nur schwer zu versprachlichenden Gehalt schlecht in gemeinschaftliche Vermittlungssettings integrieren, es sei denn, in der Vermittlung wird auf ein Nebeneinander unterschiedlicher Wahrnehmungen zugesteuert.

Im Lichte dieser freilich stilisierten, doch aber für die Ästhetik und die Kunstpädagogik theoretisch ebenso wie praktisch nicht unwesentlichen Zwiespältigkeit, die allerlei Implikationen für das Verhältnis von Ich und Anderen in Prozessen des ästhetischen Erfahrens enthält, möchte ich mich in meinem Beitrag der Position von Alva Noë zuwenden. Mit seiner Betonung der Rolle des Gesprächs (conversation) in der Verflechtung (entanglement) mit Kunst nämlich markiert er einen Zwischenweg, indem er rational-analytische mit emotional-intuitiven Verfahren verwebt und damit das Ich mit Anderen in einen Prozess des (Mit)Teilens bringen könnte, ohne dass dieser einen verallgemeinerbaren Ausgang nehmen muss. Inwiefern und mit welchen Mitteln dieses Gespräch geführt wird und in welcher Weise es auf Andere angewiesen ist, soll dabei die Frage sein, die an Noës Thesen gerichtet wird.

Um Noës Position in Bezug auf die Rolle von Anderen in der Verflechtung mit Kunst zu untersuchen, werde ich im Folgenden zunächst (1) sein enaktivistisches Verständnis von alltäglichen Formen des Wahrnehmens darlegen. Das phänomenologische Erbe, das Noë antritt, ist für mich als phänomenologisch sozialisierte Theoretikerin besonders spannend, weswegen ich seine Thesen mit den Überlegungen von Maurice Merleau-Ponty parallelisieren werde, um spezifische Schwerpunktsetzungen des Enaktivismus herleiten und aufzeigen zu können. Auf Basis des erarbeiteten Verständnisses einer normalisierten Form alltäglichen Wahrnehmens, Denkens und Handelns, die sich in praktizierten Organisationen (organizations) äußert, werde ich in einem zweiten Teil (2) auf das reorganisierende Potential der Kunst eingehen und dabei genauer auf die Überlegungen zu Bildern der Kunst (artwork pictures) bzw. zur bildenden Kunst (pictorial art) achten. Bilder der Kunst können laut Noë die Grenzen der normalisierten Bildwahrnehmung herausfordern und dabei Transformationen anstoßen. Das im ersten Abschnitt bereits begonnene und von mir vermittelte Gespräch mit Merleau-Ponty wird mit Blick auf den entnormalisierenden Charakter ästhetischen Erfahrens fortgesetzt. Schließlich wende ich mich in einem letzten Part (3) den möglichen Arten von Auseinandersetzung mit Bildern der Kunst zu, wie sie von Noë in seinem conversation model beschrieben wird. In diesem Teil werde ich kritische Nachfragen an die Rolle der Anderen in den Gesprächen mit Bildern der Kunst stellen und damit auch Rückbezüge zum Transformationscharakter der Kunst machen. Die Überlegungen in diesem Abschnitt orientieren sich einerseits an einer Untersuchung und Befragung der Verflechtung von Ich und Anderen, wobei Andere sowohl als konkrete körperliche Andere, als mögliche imaginierte Andere als auch als nicht-menschliche Andere gedacht werden. Andererseits zielen sie auf das Ausloten potentieller Anknüpfungspunkte der philosophischen Theorie Noës für kunstpädagogische Reflexions- und Praxisfelder ab.

 

1. Organisationen, Alltag, Normalität

Ich verstehe Alva Noë im Folgenden als einen Vertreter des Enaktivismus[1], der Motive aus der kontinentalen Phänomenologie aufnimmt, dabei aber hauptsächlich im Rahmen des Diskurses der analytischen Philosophie operiert. Noë betont die Untrennbarkeit von Körper, Geist und Umwelt und stellt einen dynamischen menschlichen Organismus ins Zentrum der Diskussion, der weder als völlig autonom handelnd noch als durch Dispositionen und Umgebung determiniert verstanden werden kann (vgl. dazu auch Noë 2004). Die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Abhängigkeit, d.h. von spezifisch menschlichen Gestaltungsräumen, ist in seiner Philosophie wesentlich. Anders als in rein kognitivistischen Debatten wird die Frage nach den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten nicht an den Menschen als Raum und Zeit enthobener Entität gestellt; sie wird dagegen formuliert an den Menschen in seiner Umwelt lebend und mit dieser verflochten. Insofern ist für ihn die Bedeutung der Lebenswelt zentral, wie sie im phänomenologischen Denken von Edmund Husserl (1993) als ein Kernkonzept bereits Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert wurde. Während Husserl aber auf die Lebenswelt nicht zuletzt im Sinne einer sich historisch und kulturell verändernden Situation verweist, legt Noë den Fokus auf die konkrete körperliche Orientierung in spezifischen Zeiten und Räumen, die sich in Form von alltäglichen Praktiken und Formen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, Gewohnheiten und Habitualitäten äußert. Das Prinzip der Organisation (organization) ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Bestandteil seiner Theorie: Menschliche Aktivitäten sind organisiert, was so viel bedeutet wie, dass sie einerseits durch anatomische und hierin genetisch sich entwickelnde und andererseits umweltliche, d.h. historisch, kulturell, gesellschaftlich veränderbare Strukturen geprägt sind. Diese Strukturen erlauben uns eine Orientierung in der Welt (Noë 2023: 18f.). Als körperliche Dispositionen und als Gewohnheiten bilden sie einen Rahmen, innerhalb dessen sich alltägliches Sein und Tun vollzieht. Damit wir also überhaupt Orientierung erhalten und entsprechend gezielt wahrnehmen, denken und handeln können, setzen die Organisationen, mit und in denen wir leben, unserem Erfahrungs-, Denk- und Handlungsraum Grenzen.

In Noës Theorie der organisierten Lebensweise zeigt sich eine starke Parallele zu den frühen Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty, mit dem er zudem das erklärte Interesse an einer Einbindung der (neuro-)psychologischen Erkenntnissen seiner Zeit teilt.[2] Für den französischen Phänomenologen gilt in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung der Körper als der dynamische Dreh- und Angelpunkt eines Seins, in welchem sich ein Ich vor dem Hintergrund seines ererbten Wissens und seiner Dispositionen zu jeweils konkreten Situationen verhält. Dabei spielen die Dimensionen von Geschichtlichkeit und Tradition eine wichtige Rolle bei der Prägung von Wahrnehmungsvollzügen: „Derjenige, der wahrnimmt, ist nicht vor sich ausgebreitet, wie ein Bewußtsein [sic] es sein soll, er hat seine geschichtliche Dichtigkeit, übernimmt eine Wahrnehmungstradition und sieht sich konfrontiert mit einer Gegenwart.“ (Merleau-Ponty 1966: 281f.) Jedes Ich ist ein körperliches Wesen in einer spezifischen lebensweltlichen Lage, die eine Vergangenheit impliziert, welche nicht bloß vergangen ist, sondern in die Gegenwart hineinwirkt und damit auch Zukunft mitgestaltet; als geschichtlich geprägtes Wesen war, ist und wird es zur Welt hin sein. Merleau-Ponty versteht das körperliche Ich als Teil eines historisch gewachsenen Milieus, das jedes Bewusstsein als faktisch rückgebunden, gleichsam aber individuell gestaltend ausweist. Jede Wahrnehmung, jedes Denken, jedes Handeln erweist sich als abhängig von einer Erfahrungsgeschichte, zu der sich ein Ich verhalten, aber von der es sich nicht losreißen kann. Konkret handelt es sich um Habitualitäten, Gewohnheiten, implizites Wissen, motorischen sowie perzeptiven Erwerb und andere – immer in die Körperlichkeit sich einschreibende und diese prozesshaft zeichnende – Sedimentierungen, die alle gegenwärtigen und künftigen Bezüge des Seins mitgestalten (vgl. ebd.: 172–177). Erfahrung ist für Merleau-Ponty daher nicht als souveräne Konstitutionsleistung zu verstehen, sondern ist als „Rekonstitution“ zu begreifen, die mit „einem latent bleibenden Wissen“ (ebd.: 251) in Zusammenhang steht. Das „latent bleibende Wissen“ bündelt den gewohnten, alltäglichen, körperlich eingeübten Umgang mit der Welt – in Form von Habitualitäten und Sedimentierungen verschiedenster Art –, ohne den keinerlei Wahrnehmen, Denken oder Handeln möglich ist, auch wenn er – daher bleibt dieses Wissen auch latent – niemals als solcher thematisch wird.

Organisationen, so könnte in Anschluss an Merleau-Ponty dargelegt werden, stellen von Individuen, aber auch von Gemeinschaften geteilte Formen des latenten Wissens über alltägliche und in spezifischen Zeiten und Räumen etablierte Weisen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns dar. Als solche haben sie gleichsam eine eröffnende und eine begrenzende Funktion für alle Vollzüge: Durch das Bereitstellen einer sinnhaften Rahmung der Welt geben sie Orientierung und ermöglichen gezielte und in spezifischen Zeiten und Räumen bedeutungsvolle Akte. Die Gesamtheit der Bedeutung dieser Akte lässt sich mit den Begriffen „Alltag“ und „Normalität“ in Zusammenhang bringen: Es sind die alltäglichen Vollzüge, die wir in den Zeiten und Räumen, in denen wir leben, als normal empfinden. Mit dem Blick auf das Smartphone von A nach B zu navigieren, ist eine organisierte Form der Verflechtung von Technik, Bild, Wahrnehmung und Bewegung im Raum, die für Mitteleuropäer*innen in den 2020er Jahren alltäglich und normal ist. Durch die Verfügbarkeit der technischen Mittel und deren regelmäßigen Gebrauch ist sie zu einer Aktivität geworden, die nicht zuletzt die Art der räumlichen Wahrnehmung und der Orientierung mitbestimmt. Mit Blick auf andere Räume und Zeiten, in denen Smartphones und Navigationssysteme nicht (regelmäßig) verfügbar sind, kann diese Organisation allerdings weder als alltäglich noch als normal gelten.

Für die enaktivistische Positionierung von Noë ist die Betonung der komplexen Verschränkung von Körper, Geist und Umwelt ein zentraler Theoriebaustein (Noë 2004). Sie zielt auf das Aushebeln von intellektualistischen Ansätzen, die an die uneingeschränkte Freiheit des Geistes glauben. Insofern sind die „Einschränkungen“, die mit organisierten Praktiken einhergehen, nicht als grundsätzlich problematisch zu betrachten. Mit dem zunehmenden Interesse für Kunst geht bei Noë allerdings auch die immer lauter werdende Frage nach einer möglichen Auflösung der Grenzen von Alltag und Normalität einher. Sie führt schließlich sogar zur Betonung der Notwendigkeit, die Beschränkungen, die mit unseren organisierten Praktiken einhergehen, aufzuweichen. Das Konzept der Freiheit spielt dabei eine zentrale Rolle: „[G]iven that we are moving embodiments of organization and habit, we need to free ourselves from all that.“ (Noë 2023: 38). Die Befreiung aus den organisationalen Begrenzungen des Alltags und der Gewohnheit kann über die Auseinandersetzung mit Kunst erfolgen.

2. Bilder, Reorganisation, Kunst

Kunst und Alltag, ästhetisches Erfahren oder „aesthetic seeing“ (Noë 2017: 246) und gewohnheitsmäßiges, habitualisiertes Wahrnehmen, Denken und Handeln stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Noë beschreibt dieses als eine Verflechtung (entanglement) zweier Ordnungen. Praktiken erster Ordnung, zu denen auch alltägliche Wahrnehmungen zählen, zeichnen sich durch die Organisationen aus, die ihren Vollzug als habitualisiert und für uns normal strukturieren. Bilder (pictures) erster Ordnung sind entsprechend als Abbildungen zu verstehen: Sie zeigen etwas, sie stellen etwas dar, sie kommunizieren Ideen und Inhalte. „[A] picture is an instrument for showing, or putting on display. And the relevant context in which pictures succeed or fail to perform their function of showing is a communicative one. We use pictures to show.“ (Noë 2017: 239) In Alltagssituationen, wie etwa beim Überprüfen eines Passfotos durch eine Grenzbeamtin oder beim gemeinsamen Betrachten der Urlaubsfotos, nehmen wir Bilder als Gegenstände wahr, die etwas zeigen. Bilder zweiter Ordnung oder Bilder der Kunst (artwork pictures, pictorial art) verhalten sich dazu nun komplementär. Sie thematisieren die alltägliche Art des bildlichen Zeigens und damit die Kommunikationsweise von Bildern erster Ordnung. Durch diese Thematisierung öffnen sie einen Raum des Fragens. Der Moment, in dem Bilder Fragen an uns richten und fragwürdig werden, kann laut Noë organisierte Formen der Wahrnehmung irritieren. Dort, wo nicht mehr etwas gezeigt wird, sondern wo das Zeigen selbst zum Gezeigten wird, wo Fragen über unseren alltäglichen Umgang mit Dingen wie Bildern auftauchen, eröffnet sich nämlich ein Raum für andere Weisen der Auseinandersetzung: „[A]rtwork pictures do this, they put us and our picture making activities on display, in a way that enables us to do it all differently.“ (Noë 2017: 240)

Das Potential, das Noë der Kunst zuschreibt, ist immens. Es ist die Kunst, die normalisierte und eingeschränkte Weisen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns stören kann, indem sie das für uns Selbstverständlichste in den Fokus rückt und fragwürdig werden lässt. Sie kann organisierte Praktiken unterwandern und über den Umweg einer Desorganisation zu Reorganisationen anregen: „Art shines forth and loops down and disorganizes and thus, finally, enables the reorganization of the life of which it is the representation and against which it is a reaction.“ (Noë 2023: 12)

Das Motiv der Irritation normalisierter Wahrnehmung durch und mittels der Kunst kann einmal mehr mit Merleau-Pontys Phänomenologie in Zusammenhang gebracht werden. Dieser beginnt bereits in einer frühen Phase seines Werks, die Bedeutung der Kunst für unser Wahrnehmen und Erfahren zu erörtern. Der Bezug zum Alltag ist dabei ebenso ein wesentlicher Aspekt. Mehr als die Möglichkeit einer Reorganisation steht für Merleau-Ponty aber das Brechen mit etablierten und eingeübten Weisen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns im Vordergrund. Kunst drängt auf das Hervorbringen von Neuem und kann insofern als freier Schaffensraum verstanden werden. Für den Phänomenologen kann es entsprechend „keine gesellig-unterhaltsame Kunst“ (Merleau-Ponty 2004: 17) geben, die bloß dem Auge schmeicheln und dem Geist wohltun würde. Kunst muss dagegen ein Ausdrucksgeschehen sein, d. h. sie muss etwas zum Hören, Sehen oder Fühlen bringen, was zuvor so noch nicht gehört, gesehen oder gefühlt wurde und hierin die bestehenden Strukturen unterwandert. Bestehende Strukturen, die Wahrnehmungen, Denken und Handeln als normalisierte unterfüttern, werden dabei als etablierte, ererbte und eingeübte Weisen des Seins verstanden. Wenn diese durchbrochen werden, kann von einem Ausdrucksgeschehen gesprochen werden. Das Ausdrucksgeschehen – für Merleau-Ponty sowohl auf Seiten des Ausdrucks (expression) als auch auf Seiten der Ausdruckskraft (expressivité) angesiedelt – wird als ein Bereich des Phänomenalen verstanden, in welchem das, was gegeben ist, ebenso wie das, was jemals gegeben wurde, unterwandert wird (vgl. Merleau-Ponty 2011: 48). So bricht sich im Ausdruck etwas Bahn, etwas anderes, das die Ordnung des Gegebenen in Richtung von Neuem revidiert. Etwas auszudrücken, ist für Merleau-Ponty ein „paradoxes Unterfangen, da es einerseits den Hintergrund verwandter, schon festliegender und unbestrittener Ausdrücke voraussetzt und da sich andererseits die jeweils gebrauchte Figur von diesem Grund abhebt und so neuartig bleibt, daß [sic] sie die Aufmerksamkeit weckt“ (Merleau-Ponty 1984: 57). Wie Noë betont Merleau-Ponty die Verflechtung zwischen den normalen Praktiken des Alltags und den andersartigen Praktiken der Kunst. Die Art ihrer Bezogenheit wird von den beiden Philosophen mit einer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung ausbuchstabiert: Während Merleau-Ponty den Fokus auf das Durchbrechen von Ordnungen setzt, steht für Noë die Reorganisation als ein Neuordnen im Zentrum, welche freilich die Irritation des Gegebenen voraussetzt. Mit dieser Pointe benennt er eine doppelte Bedeutung von Kunst als eine desorganisierende Kraft einerseits und als eine reorganisierende Arbeit an anderen Arten der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns andererseits. Beide Bedeutungen betreffen schließlich uns selbst (ourselves). Kunst eröffnet sowohl im Desorganisieren als auch im Reorganisieren einen Reflexionsraum, in welchem wir uns zu uns selbst verhalten (müssen). Es ist unsere Begegnung mit Kunst, die uns – entlang des Kunstwerks und in diesem Sinne mit Hilfe der Kunstschaffenden – unsere eigenen Wirklichkeiten befragen lässt:

 

„The thesis is: we make art out of organized activities. Art is not about organized activities (unless of course it happens to be). And in making art out of organized activities, in making art with these raw materials, the artist enables us to know ourselves better in relation to those bio-cultural – to borrow a term of John Protevi’s – behavioral substrates. Art lets us know ourselves better because it does its work, where, as a matter of habit, we find ourselves.“ (Noë 2017: 242)

 

Mit diesem Zitat wird sehr klar, dass es nicht zuletzt eine epistemische Kraft ist, die Noë der Kunst attribuiert: Kunst ermöglicht es uns, uns selbst besser in unserer Rückgebundenheit an organisierte Aktivitäten zu verstehen. Wir erwerben in der Auseinandersetzung mit Kunst also Wissen. Dieses Wissen hat seinen Ursprung in einem vorübergehenden Unwissen oder Unverständnis, womit eine paradoxe Bewegung angedeutet ist, die der von Merleau-Ponty nicht unähnlich ist:

 

„Art induces, in a sense, a temporary illiteracy or, even more, a temporary blindness. […] Art in this sense interrupts the arc – or disturbs. It unveils us to ourselves. It forces us to recognize all that we take for granted that ordinarily makes it possible to know, without even thinking about it, what something is or what is happening. Art precludes, maybe only momentarily, the skillful fluency that ensures intelligibility.“ (Noë 2021: 138)

 

3. Andere und die Auseinandersetzungen mit Bildern der Kunst

Die Hinterfragung des Alltags, welche die Kunst provoziert, während sie sich auf diesen implizit oder explizit bezieht, steht also laut Noë mit einem Erwerb von Wissen über uns selbst in Zusammenhang. Um genauer zu verstehen, wie dieses Wissen erworben wird und woher es sich letztendlich speist, möchte ich in diesem letzten Abschnitt nun die Frage stellen, wie sich die Auseinandersetzung mit Kunst seinem Verständnis nach vollzieht, wer hier mit wem ins Gespräch (conversation) tritt und wie die enaktivistische Position entsprechend als ein Mittelweg zwischen den beiden eingangs erwähnten Varianten der Beschäftigung mit Bildern – rational-analytischer Verfahren auf der einen Seite und emotional-intuitiver Verfahren auf der anderen Seite – begriffen werden könnte.

Seit seinem ersten Buch, das die Kunst ins Zentrum rückt, betont Noë unermüdlich, dass eine Auseinandersetzung mit Kunst sowohl emotional affizieren als auch kognitiv herausfordern kann, ohne dass dabei Gefühle intellektuelle Prozesse verhindern müssen oder umgekehrt. Mit Bezug auf ein Gedicht von Walt Whitman, welches selbst als Kunstwerk die Begegnung mit Kunst zum Thema macht, bringt er auf den Punkt: „Whitman reminds us that the encounter with art can be both cultural, cognitive, perceptual, and, at the same time, bodily and passionate and even, in a sense, biological.“ (Noë 2017: 244) Körperlich-sinnliche Involvierung, aber auch historischer Kontext und die jeweilige Literalität, die in einer spezifischen Gesellschaft als Grundlage für das Verstehen von Kunst vermittelt wird, spielen ebenso eine Rolle für eine Begegnung mit dem Kunstwerk wie unsere Leidenschaften. Mit dieser Verbindung einer körperlich-sinnlich-emotionalen, einer rational-kognitiven und einer kulturell-historischen Ebene werden die für den Enaktivismus zentralen Grundpfeiler benannt, innerhalb deren der menschliche Organismus aufgespannt ist: Körper, Geist und Umwelt. Kunstbetrachtung ereignet sich, wie alle anderen Aktivitäten, in diesem Spannungsfeld. Anders als organisierte Aktivitäten aber wirkt sie gleichzeitig auf dieses Spannungsfeld ein, indem sie bestimmte Aspekte in Schwingung versetzen und schließlich transformieren kann.

Das Spannungsfeld, in dem sich Kunstwerke manifestieren, bringt Noë in seinem conversation model folgendermaßen auf den Punkt:

 

„According to the conversation model, works of art are gestures, or utterances, or moves in an ongoing dialog or conversation. The value of a work consists, then, in the originality of its contribution to this ongoing exchange, or perhaps just in the wit with which it takes up the play of ideas. The work is valuable, on this view, because it is a datable foray into an ongoing and historically changing conversation.“ (Noë 2021: 157)

 

Kunst wird hier verstanden als eingebettet in einen geschichtlich fortdauernden, sich situational ändernden, aber dennoch über Zeiten und Räume zusammenhängenden Dialog. Ein Werk zeichnet sich als ein origineller Beitrag zu diesem Gespräch aus. Auch wenn es in der Entwicklung des conversation model nicht vordergründig um die rezeptive Auseinandersetzung mit Kunst geht, spielt diese doch auch hier eine Rolle. Noës Theorie, die zunächst eine Antwort auf die in der analytischen Debatte zentrale Frage nach dem Verhältnis von Original und Fälschung darstellt, impliziert, dass das Entstehen von Kunstwerken in einen Prozess der rezeptiven Auseinandersetzung mit Kunst verwickelt ist, wobei das einzelne Kunstwerk selbst eben einen möglichen Gesprächsbeitrag darstellen kann. Welche anderen Formen von Gesprächsbeiträgen in diesem Modell denkbar sind, bleibt aber weitestgehend unbestimmt. Auch wer (potentiell) an diesen Gesprächen teilnimmt, wer in Gesprächsführungen ein- und wer eventuell ausgeschlossen ist, wird nicht näher erläutert. Klar ist immerhin, dass die Art der Teilhabe am Gespräch sich über die Beziehung zu Anderen (others) definiert (vgl. ebd.: 158). Welche Rolle spielen also die Anderen in der Auseinandersetzung mit Kunst? Und wie verhält sich diese Rolle zur Art der Auseinandersetzung mit Kunst?

Die Art der Auseinandersetzung, die eine Reorganisation, wie sie oben bereits beschrieben wurde, möglich macht, wird von Noë als ein Prozess beschrieben, wobei ästhetische Erfahrung sich unterschiedlich vollziehen kann. Der Austausch in Form des Gesprächs ist neben dem Kritisieren ein charakteristisches Setting für den prozesshaften Vollzug ästhetischer Erfahrung: „Aesthetic experience varies, […] but it does so, typically, in the setting of conversation and criticism. We bring artworks into focus through shared thought and talk and through shared culture.“ (Noë 2023: 166) Im Prozess des ästhetischen Erfahrens teilen wir unsere Gedanken mit, wir sprechen miteinander. Es bleibt allerdings unbestimmt, wer mit „we“ gemeint ist, ebenso wie, wer die Anderen sind, mit denen „wir“ unsere Gedanken teilen und mit denen „wir“ sprechen (können). Wer sind diejenigen, die an dem Teilen von Gedanken und insofern an dem Führen eines Gesprächs beteiligt sind oder werden können? Noë scheint von einem konjunktiven Erfahrungsraum auszugehen, in welchem innerhalb einer nicht näher bestimmten Form von Begrenzung, die im angeführten Zitat mit „shared culture“ umrissen wird, Wissen ausgetauscht werden und damit auch neues Wissen entstehen kann. Dabei wird dem Versprachlichen von in diesem Kontext gemachten Erfahrungen viel Raum zugesprochen, in einem Prozess, der dem ästhetischen Erfahren nicht nachfolgt, sondern der dieses prägt. In einem solchen Kontext des Austausches sind eine Reihe von Bedingungen für das Teilen von Erfahrungen und das Fortschreiben einer geteilten Kultur gegeben: Die Möglichkeit des Mitteilens von Gedanken und des Gesprächs („talk“) erfordert einen gemeinsamen Vorstellungsraum ebenso wie eine für alle am Prozess des Teilens Beteiligten von vornherein verständliche Sprache, sei es eine Verbalsprache oder eine andere Form der symbolisch-zeichenhaften oder körperlichen Kommunikation. Das Einbeziehen der Sichtweisen von Anderen, wie sie im radikaleren Sinne Autor*innen wie Gayatri C. Spivak gerade für die ästhetische Erfahrung einfordern, scheint dadurch aber aus dem Gespräch ausgeschlossen: Geteilte Kultur geht von der Teilbarkeit kultureller Phänomene aus. Eine solche Teilbarkeit aber, darauf weist Spivak mit Nachdruck hin, impliziert gemeinsame Sprache, Literalität, Verständnis und Ausdrucksvermögen (vgl. Spivak 2012: 10ff.). Müssen die Grenzen, die durch ästhetisches Erfahren in Frage gestellt werden können, also innerhalb einer „shared culture“ verbleiben und wenn ja, worin besteht diese?

Noë geht auf diese Frage nicht näher ein, sondern setzt ein Verständnis dessen voraus, was eine geteilte Kultur sein könnte. Das Teilen und die Teilbarkeit von Erfahrungen sind für ihn indes ein wichtiges, explizites Thema. Ästhetische Erfahrungen nämlich sind nicht solipsistisch; im Gegenteil vollziehen sie sich als Elemente eines kritischen und diskursiven Entfaltungsprozesses im aktiven Austausch mit Anderen: „Aesthetic experience, insofar as it is a unitary phenomenon at all, is essentially a critical or discursive one – that is, it unfurls in a space of thought and talk, a space of criticism […] – and so, in an important sense, it is not private or individual.“ (Noë 2023: 166) Durch ihre Prozesshaftigkeit, die sie von einer momentanen, rein affektiven oder emotionalen Antwort unterscheidet, übersteigt die ästhetische Erfahrung den Geltungsraum des Individuellen. Das bedeutet für Noë auch, dass die Auseinandersetzung mit Kunst auf Andere angewiesen ist, als Gesprächspartner*innen über konkrete Werke etwa. In diesem Sinne konzeptualisiert er die Begegnung mit Kunst als „aesthetic work“, denn eine Reaktion auf ein Kunstwerk entspricht noch keiner ästhetischen Erfahrung. Die Auseinandersetzung ist ein aktives Sich-einlassen, ein Untersuchen, ein Befragen, ein Nachgehen und wird daher als Arbeit, als eine Tätigkeit im starken Sinne, gefasst. Einmal mehr tritt das Gespräch in den Blick als zentraler Bestandteil der „aesthetic work“ (vgl. ebd.: 171f.). Dass Noë ästhetische Erfahrung als Arbeit fasst, hängt mit seinem Verständnis des Kunstwerks als Affordanz (affordance) zusammen. Die Affordanz ist die Aufforderung, die ein Objekt an die Erfahrenden stellt, ihm nachzugehen: „[T]he artwork is the experience the object affords […]. [E]xperiences are made; they are transactions with the world around us; they are, in fact, exercises of a kind of criticism or critical seeing.“ (Noë 2021: 153) Affordanz ist ein Konzept, das in der enaktivistischen Theorie vor allem dazu dient, Erfahrungen sowohl als angewiesen auf und eingebettet in die Umwelt als auch als gleichsam selbstgestaltend, also als aktiven Prozess zu beschreiben. Ein Objekt bietet sich der Erfahrung an, wobei es einen Möglichkeitsraum aufreißt, der den Erfahrenden abverlangt, diese Möglichkeiten abzuwägen und sich für eine zu entscheiden. Im alltäglichen Zusammenhang vollzieht sich dieses Abwägen von Möglichkeiten selten als Arbeit, sondern ereignet sich auf Basis von Gewohnheiten. In der Konfrontation mit Kunst aber tritt die Vielfalt an Möglichkeiten, die Objekte unserer Erfahrung darbieten, als Aufforderung zur ästhetischen Arbeit auf. Entsprechend kann etwa auch das Sehen zur Arbeit werden: „The world is not a given. We need to work for it, as we need to work to build a painting or reason out a drawing. First you look here. Then you look there. The visible world outstrips what can be taken in at a glance. Seeing is active and thoughtful. It requires a philosophical eye.“ (Noë 2021: 99)

Schließlich also kann die Auseinandersetzung mit Kunst laut Noë mit der philosophischen Betrachtung parallelisiert werden. Der enge Zusammenhang zwischen diesen beiden Praktiken, die beide als reorganisierend verstanden werden, wird immer wieder betont. Sowohl in der Begegnung mit Kunst als auch in der Philosophie arbeiten wir an uns selbst: „Art and philosophy require of us that we work ourselves over and make ourselves anew, individually and ensemble.“ (Noë 2023: xii) Was künstlerische und philosophische Tätigkeiten miteinander verbindet, ist das Aufwerfen von Fragen, die uns in unserem Kern treffen und die das Potential haben, uns durch eben dieses Befragen unserer selbst zu ändern. Aufschlussreich in Bezug auf Noës Verständnis von ästhetischer Erfahrung ist diese Parallelisierung, wenn sie mit der Position Merleau-Pontys verglichen wird. Auch der Phänomenologe bringt die Beziehung von Kunst und Philosophie zur Sprache. Gerade in seinem späteren Werk aber ist es für ihn der Unterschied, nicht die Nähe zwischen den beiden Praktiken, die es herauszuarbeiten gilt. Merleau-Ponty nämlich unterstreicht, dass jenen Fragen, die die Kunst aufwirft, und jener Art der Auseinandersetzung, zu der sie auffordert, gerade nicht mit Mitteln der Sprache, der Begriffe und der Konzepte begegnet werden kann, wie sie für die Philosophie charakteristisch sind. In diesem Zusammenhang spielen bei ihm die Anderen eine wichtige Rolle: Werke der bildenden Kunst setzen eine Konfrontation mit Anderen ins Bild, welcher sprachlich nicht beizukommen ist (vgl. Merleau-Ponty 2004: 281).

Die Sprache ist für Noë im Gegensatz zu dieser Betonung des begrifflich nicht fassbaren und damit auch die Philosophie transzendierenden Charakters der Kunst ein wesentlicher Baustein in der Ausgestaltung des Prozesses der ästhetischen Erfahrung. Sie ist Medium einer Räume und Zeiten vermittelnden Konversation und eröffnet hierin nicht zuletzt den überindividuellen Geltungsraum von Kunst innerhalb eines konjunktiven Erfahrungsraums. Sie ermöglicht das Teilen und die Teilbarkeit einer Erfahrung, die sich nicht zuletzt im Rahmen ihrer sprachlichen Mitteilung prozesshaft ausgestaltet. Auch wenn nicht-sprachliche Elemente zum Austausch beitragen und diesen wesentlich mitgestalten, versteht das conversation model Sprache als Mittel zur Verständigung als zentrale Instanz des Gesprächs. Mit seiner offenen Thematisierung der wichtigen Rolle der Sprache beschreibt Noës Theorie so einerseits eine sehr konkrete Form des Austauschs mit Anderen, die als integraler Bestandteil ästhetischen Erfahrens zur Geltung gebracht wird. Andererseits aber relativiert er, gerade im direkten Vergleich mit Merleau-Ponty, mit dieser Betonung die Reduktion jener medialen Eigenheiten künstlerischer Praktiken, welche die Kommunikationsweise von Kunstwerken von philosophischen Abhandlungen unterscheiden. Beide mit Blick auf ihre Funktion des Befragens gleichzusetzen, verwischt die Spezifität jener Verfahren, Methoden und Techniken, mittels derer in der Kunst Fragen aufgeworfen und abgehandelt werden – so divers und vielfältig künstlerische Arten der Auseinandersetzung freilich sind.

Noës Ästhetik zeichnet die Auseinandersetzung mit Kunst als ein Gespräch, das Andere bereits begonnen haben und das mit Anderen (weiter)geführt wird, wobei dieses Gespräch der Erfahrung nicht nachfolgt, sondern Teil von ihr ist. In seinem Ansatz versteht er emotional-intuitive Antworten auf Kunstwerke als Einsatzpunkt für einen Prozess, in dessen Verlauf auch rational-analytische Formen der Befragung von Werken eine Rolle spielen. Der gesamte Prozess des ästhetischen Erfahrens vollzieht sich in einem Gesprächsraum, der für Andere offensteht, weswegen sich seine Theorie sehr gut für Vermittlungskontexte eignet. Sie erlaubt es nämlich, Vermittlung und Erfahrung von Kunstwerken nicht als losgelöst voneinander zu denken, sondern Vermittlung als einen Teil des ästhetischen Erfahrens selbst verständlich zu machen. Dieses Verständnis hat für die Vermittlungsarbeit eine Reihe von Konsequenzen: Für Vermittler*innen bedeutet es, dass sie mit den Personen, mit denen sie in die Vermittlungsarbeit gehen, denselben Erfahrungsraum teilen und keinen Erfahrungsvorsprung besitzen. Sie können dadurch nicht bloß erste emotional-intuitive Reaktionen thematisieren oder aber einen rational-analytischen Austausch über das Wahrgenommene führen: Dadurch, dass sie sich in einem Raum mit den Lernenden begegnen, in welchem sich der Prozess des ästhetischen Erfahrens quasi peu à  peu vollzieht, können sie mit unterschiedlichen Phasen, unterschiedlichen Stufen des Erkennens, dem Wechsel von Blickpunkten und den diversen Fragen, die auftauchen, aber auch wieder verschwinden, arbeiten. Diese Arbeit bietet ein Spektrum an Annäherungsmöglichkeiten zwischen spielerisch-kreativen und analytisch-rigiden Verfahren, welches Vermittler*innen einsetzen können. Letztendlich muss es ihnen, wenn sie den Überlegungen Noës folgen, um einen kontinuierlichen Austausch gehen, der nicht über gemachte Erfahrungen sinniert, sondern Teil der Erfahrung selbst ist. Die Sprache, welche im conversation model ein zentrales Medium des Austauschs darstellt, bietet sich für viele Zugänge der Vermittlung an. Da Noë nicht-sprachliche Formen des Mitteilens nicht ausschließt, sondern als ebenso wichtige Elemente im Gespräch über Kunst versteht, sollte in der Vermittlungsarbeit auch die Beziehung von sprachlicher und nicht-sprachlicher Artikulation reflektiert werden. Je nach Zielgruppe, Alter, Milieu und Bildungsgeschichte können die Voraussetzungen dafür, diese in einen eventuell bereits bestehenden konjunktiven Erfahrungsraum zu integrieren, hilfreich sein. Gerade auch das Überwinden sprachlicher Hürden durch das bewusste Integrieren weiterer Ebenen der Kommunikation ist hier mitunter eine der Kernaufgaben von Kunstvermittlung.

Trotz der reizvollen Perspektive, die Noës Ansatz bietet, bleiben doch eine Reihe von offenen Fragen, die am Ende dieser Darstellung stehen: Wie weit reicht das Einbeziehen von Anderen in das Gespräch über Kunst bei Noë? Welche Anderen können überhaupt einbezogen werden? Welche Grenzen werden überschritten und welche geraten nicht einmal in den Blick (Stichwort: „shared culture“)? Und schließlich: Wie und mit wem kommen wir in einen Austausch über jene Aspekte der Begegnung mit Kunst, die wir nicht in Worte fassen können? Um diese Frage zu beantworten und den wertvollen Gedanken, Vermittlung und Erfahrung von Kunst als einen verschränkten und gemeinschaftlich teilbaren Prozess zu denken, auch mit Blick auf postkoloniale Bedenken nicht verwerfen zu müssen, ist vielleicht eine Reorganisation der Ästhetik der Reorganisation anzustreben, die zu lesen ich sehr gespannt wäre.

 

Literatur

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Anmerkungen

[1] In der Philosophie und in den Kognitionswissenschaften gibt es eine Reihe von Ansätzen, die als enaktivistisch bezeichnet werden oder diese Selbstbezeichnung wählen. Ich verwende den Begriff „enaktivistisch“ in diesem Aufsatz als Verweis auf die Verflechtung von Körper, Geist und Umwelt. Neben Noë verstehe ich als phänomenologisch orientierte Enaktivisten in diesem Sinne Dreyfus & Wrathall (2014) oder Gallagher (2005; 2017). Zentral für deren Überlegungen ist u.a. die Theorie der affordance, die von Gibson (1977) geprägt wurde.

[2] Zur Diskussion der phänomenologischen Bezugnahmen und spezifisch auf Merleau-Ponty siehe Bar 2020 oder Matherne 2017. Noë selbst hält unter anderem durch Kurse zu Merleau-Ponty an der UC Berkeley die Bedeutung des französischen Phänomenologen hoch.

Von Iris Laner

Veröffentlicht am 11. Februar 2025

Zitiervorschlag

Laner, Iris: Im Gespräch mit Bildern. Über die Rolle von Anderen in der Verflechtung mit Kunst bei Alva Noë, in: Fatma Kargin, Manuel Zahn (Hg.): Ästhetik der Reorganisation, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2025. Quelle: https://zkmb.de/im-gespraech-mit-bildern-ueber-die-rolle-von-anderen-in-der-verflechtung-mit-kunst-bei-alva-noe/; Letzter Zugriff: 07.06.2025

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