Ist Musik ein Strange Tool? Eine kurze Antwort.

Als mich Manuel Zahn gefragt hat, ob ich mir vorstellen könnte, am Workshop zum Thema der ästhetischen und künstlerischen Praktiken als Reorganisation von Wahrnehmungsweisen teilzunehmen, habe ich zugesagt, ohne ein einziges Buch von Alva Noë gelesen zu haben.

Ich habe die Zusage zum Glück nicht bereut. Mindestens aus zwei Gründen fand ich die Lektüre von Noës Strange Tools (2015) anregend: Zum einen weil das Buch vor Ideen und Intuitionen nur so strotzt. Zum anderen, weil diese Ideen und Intuitionen auf eine Art und Weise präsentiert werden, die es Leser*innen wie mir vergleichsweise leicht macht, sie kritisch zu beurteilen. Mich hat das Buch vor allem angesprochen, weil es eine allgemeine ästhetische Theorie entwickelt und dabei auch Kapitel zur Musik enthält. Ich glaube, dass vor allem Musik für allgemeine ästhetische Theorien, Theorien der Künste oder der Kunst, den Härtefall darstellt.

Obwohl mir einige von Noës Thesen zur Musik einleuchten, sehe ich für andere bei ihm keine oder keine guten Gründe vorliegen. Insbesondere scheint er daran zu scheitern, die Hauptthese von „Strange Tools“ hinsichtlich von Musik überzeugend verteidigen zu können, nämlich dass Kunst Mittel oder „Werkzeug“ zu dem Zweck ist, unsere Organisation (als Organismen) darzustellen. In seinen Worten: „Art puts us on display“ (Noë 2015:101).

Warum das so ist, versuche ich im Folgenden zu zeigen, indem ich beantworte, ob Musik ein Werkzeug im Sinne Noës ist. Ganz kurz lautet meine Antwort: Nein. Die etwas längere Antwort folgt nun sowie ein knapper Ausblick, in welchem ich darauf eingehe, weshalb die Stoßrichtung Noës Überlegungen aber unter bildungstheoretischen Aspekten relevant sein könnte.

 

1 Nein

Noë schreibt zur Musik:

 

„There is sound, to be sure; just as there is when we talk. And there is rhythm, to be sure, just as there is when we talk and walk and do anything. This is the stuff of music. Music, as an art, puts these structures of tone and timing and intention and melody on display. (…) Why is music meaningful? Why does it enthrall? Because we are rhythmically and melodically and tonally organized; this is a fundamental feature of our embodied living. Music investigates these ways. And it does so, in part, by inventing new ways of entraining ourselves, new ways that build on, refer back to, and play with the old ways (both musical and nonmusical). And because every musician responds to the ways of the musicians before him or her, music refers to a vast body of collective understanding, collective intelligence, collective humor and insight, about all that.“ (Noë 2015:118)

 

Es ist auf den ersten Blick nicht leicht zu sehen, wie Noë begründen möchte, dass Musik die Art und Weise unserer Organisation darstellt bzw. sogar „untersucht“. Deshalb möchte ich mich an einer zumindest gültigen Lesart seiner Überlegung orientieren, die u.a. um die bereits angesprochene These als Prämisse (P3) ergänzt wurde, die Noë in „Strange Tools“ in der Hauptsache vertritt.

 

(P1) Wenn Musik für uns sinnvoll und anregend ist, dann ist sie Mittel zu einem Zweck

(P2) Musik ist sinnvoll und anregend für uns

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(K1) Also ist sie Mittel zu einem Zweck

(P3) Der Zweck der Kunst oder künstlerischer Praxis ist, unsere Organisation darzustellen

(P4) Musik(alische Praxis) ist Kunst oder eine künstlerische Praxis

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(K2) Also ist der Zweck der Musik, unsere Organisation darzustellen

(P4) Wenn der Zweck der Kunst ist, unsere Organisation darzustellen, dann bezieht sie sich auf etwas (anderes als auf sich selbst)

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(K3) Also bezieht sich Musik auf etwas (anderes als auf sich selbst)

(P5) Der Bezugsgegenstand (das Material) von Musik ist das, womit Musik etwas gemein hat

(P6) Musik hat Klang und Rhythmus mit klanglichen und rhythmischen Tätigkeiten (z.B. des Sprechens und Laufens) gemein

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(K4) Der Bezugsgegenstand von Musik sind klangliche und rhythmische Tätigkeiten (z.B. des Sprechens und Laufens)

(P7) Wir sind in grundlegender Weise rhythmisch und melodisch und tonal organisiert

(P8) Wenn wir in grundlegender Weise rhythmisch und melodisch und tonal organisiert sind und der Bezugsgegenstand von Musik klangliche und rhythmische Tätigkeiten sind, dann erforscht Musik diese grundlegende Weise unserer rhythmischen und melodischen und tonalen Organisation

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(K5) Also erforscht Musik die grundlegenden Weisen unserer rhythmischen und melodischen und tonaler Organisation

 

Mir geht es in der Kritik dieses Arguments insbesondere um die dritte Zwischenkonklusion, also um den Gedanken, dass sich Musik auf etwas bezieht (K3) und zwar auf rhythmische und klangliche Tätigkeiten (K4). Für unproblematisch halte ich wiederum Noës Überzeugung, dass sich Musiker*innen auf Musik (z.B. in ihrem Spiel und Kompositionen) beziehen und zwar in dem Sinne, dass sie sich daran orientieren, wie andere vor ihnen Musik gespielt oder komponiert haben und dass sie dadurch auf eine kulturelle und historische Menge kollektiver Verständnisse von Musik zurückgreifen. Wer würde das bestreiten?

Die These, dass sich Musik auf etwas (anderes als auf Musik) bezieht, ist hingegen alles andere als unproblematisch und wir können uns das an einem Beispiel vor Augen führen: Nehmen wir irgendein Stück wie z.B. Taylor Swifts „Shake it off“. Es ist klar, dass dieses Stück von etwas handelt, weil es einen Text hat, in welchem von Playern, Fakern und Herzbrecher*innen die Rede ist und das, was über sie gesagt wird, mehr oder weniger verständlich ist: zumindest könnte man bestreiten, ob Menschen, die uns täuschen, uns immer täuschen, Player immer nur mit uns spielen oder Herzensbrecher*innen nicht auch manchmal vom Herzensbrechen Ausnahmen machen. Wie dem auch sei.

Angenommen wir würden den Text aus „Shake it off[1] entfernen, indem wir entweder mittels eines Programms den Gesang entfernen oder indem wir das Stück so aufnehmen oder aufführen, dass wir statt des ursprünglichen Textes die Melodie auf Silben wie „du, du, du“ singen. Wenn wir diese Version nun jemandem, der das Stück nicht kennt, vorspielen und fragen: „wovon handelt es?“, welche zufriedenstelle Antwort könnten wir erwarten? Die Antwort darauf ist (vermutlich) offensichtlich: Gar keine. Denn im Unterschied zum Text von „Shake it off“ artikuliert die Musik nichts, was wir begründetermaßen ihre Bedeutung oder ihren Gehalt nennen können, denn wo wir behaupten, etwas habe Bedeutung oder Gehalt, müssten wir auch sagen und darüber streiten können, welche(n).

Natürlich können wir sagen, diese oder jene Musik hat eine Bedeutung für uns, weil wir mit ihr persönliche Erlebnisse verbinden, genauso wie mit Leberwurstbrötchen, Zugfahrten oder dem Lockdown während der Corona-Pandemie. Inwiefern uns solche Assoziationen Auskünfte über so etwas wie den Inhalt von Musik erteilen und nicht bloß über die Hörer*innenbiographien, ist für mich nicht zu sehen. Interessant sind diese Hörer*innenbiografen eher, weil sie erklären können, warum Menschen bestimmter Musik gegenüber ablehnend reagieren, etwa weil sie einen Habitus erworben haben, durch den sie Musik wie die Taylor Swifts für ästhetisch irrelevanten Kommerz halten.

Wenn Musik aber nichts bedeutet oder beinhaltet, worüber in musikphilosophischen Diskussionen doch ein selten breiter Konsens besteht, dann heißt das genauer, dass es nicht der Fall ist, dass irgendein Musikstück M „auf X referiert, dass M X denotiert, dass M X abbildet oder darstellt, und zwar schlicht deshalb nicht, weil Musik keine prädikative Struktur hat, sie also keinen Gegenstände herausgreifen kann, denen sie Eigenschaften zuweist“ (Becker & Vogel 2008: 17) – so wie der Text von „Shake it off“ Menschen die Eigenschaft, zu faken, mit uns zu spielen und Herzen zu brechen. Mit anderen Worten und kürzer: Musik fehlt scheinbar eine Aboutness.

Was ich dabei nicht bestreite und worauf Noë insistiert, ist, dass sich in der Wahrnehmung musikalischer Praktiken Klänge mit anderen sinnlichen Eindrücken verbinden können, so dass sich die Produkte kultureller Praktiken, die wir ‚Musik‘ nennen, nicht angemessen nur als rein klangliche Phänomene beschreiben lassen. Aber auch das ändert nichts daran, dass wir Musik scheinbar nicht um einer darstellenden Funktion wegen schätzen, noch schätzen können. Um uns davon zu überzeugen, liefert Noë auch keine Gründe. Wenn es aber stimmt, dass Musik (auch als intermodales Phänomen) eine Aboutness fehlt, dann muss man sich fragen, wie etwas, dass keine Repräsentationsbeziehung zu etwas anderem unterhält, Mittel der Darstellung oder irgendwelcher Untersuchungen von etwas sein sollte – sei es der von Rhythmen und Klängen, die wir beim Laufen oder Sprechen produzieren.

Es spricht nichts dagegen, solche Rhythmen oder Klänge als musikalische wahrzunehmen, aber erfahren würden wir dadurch nichts über sie. Wenn wir hingegen zwischen musikalischen Rhythmen und Klängen und Lauf- oder Sprechrhythmen oder -klängen Vergleiche ziehen oder zwischen der einen und der anderen Musik Bezüge feststellen, dann nicht mittels Musik, sondern mittels unserer Fähigkeit zu denken, die wir der Tatsache verdanken, dass wir Sprachen verstehen, die es uns erlauben, etwas Eigenschaften zu- oder abzusprechen.

Wenn ich damit richtig liege, dann ist Musik also kein geeignetes Werkzeug, um unsere Organisation (als Organismen) darzustellen: Musik ist kein „Strange Tool“.

 

2 Jein?

Auch wenn m. E. nichts dafür spricht, Musik als „Strange Tool“ im Sinne Noës zu betrachten, so ist damit noch nicht ausgeräumt, dass Musik uns Mittel oder – metaphorisch gesprochen – „Werkzeug“ zu einem Zweck zu sein scheint. Zu klären, zu welchem, würde eine Antwort auf die Frage geben können, wann und warum sie für uns sinnvoll und anregend ist. Diese Stoßrichtung, die Noës Philosophie ganz grundsätzlich verfolgt, scheint mir nicht nur von philosophischem, sondern auch von bildungstheoretischem Interesse: Wenn wir ein klares Verständnis davon gewinnen, warum wir uns überhaupt mit Musik auseinandersetzen, dann müsste das auch als Grundlage dienen können, nicht nur um z. B. Zielsetzungen von Musikunterricht (besser) begründen zu können, sondern auch musikalische Bildungsprozesse zu verstehen.

Dabei dürfte sich die Diskussion allerdings nicht, wie bisher oft, damit zufriedengeben, dass wir Musik um ihrer selbst willen hören und machen. Das ist wohl richtig, aber warum wir dann ein Interesse haben Musik oder Kunst (durch schulischen Unterricht) zu tradieren, bleibt so eine offene und spannende Frage für weitere theoretische musik- und kunstpädagogische Diskussionen.

 

Literatur

Becker, Alexander/Vogel, Matthias (2008): Einleitung der Herausgeber In: Becker, Alexander/ Vogel, Matthias (Hrsg.). Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-24.

Noë, Alva (2015): Strange Tools. Art and Human Nature. New York: Hill & Wang.

 

Anmerkungen

[1] Noës These (2015, Kap. 15), dass es bei Popmusik um die aufführenden Personen und ihre Stile geht, halte ich für empirisch unbelegt. Ich kann Taylor Swifts Musik z.B. durchaus einiges abgewinnen, obwohl ich kein „Swiftie“ bin und mich weder für die Person Taylor Swift noch ihre Auftritte interessiere. Wahrscheinlich bin ich kein Einzelfall.

Von Lukas Bugiel

Veröffentlicht am 11. Februar 2025

Zitiervorschlag

Bugiel, Lukas: Ist Musik ein Strange Tool? Eine kurze Antwort., in: Fatma Kargin, Manuel Zahn (Hg.): Ästhetik der Reorganisation, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2025. Quelle: https://zkmb.de/ist-musik-ein-strange-tool-eine-kurze-antwort/; Letzter Zugriff: 07.06.2025

Review-Verfahren

Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.

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