Die Autorinnen des Beitrags „Chancen und Risiken einer kompetenzorientierten Kunstpädagogik“ führen zunächst in die allgemeine Diskussion um die Kompetenzorientierung ein, um dann in einem zweiten Abschnitt die spezifische Situation der Kompetenzdebatte in der Kunstpädagogik zu beleuchten. Im dritten Teil entwickeln sie einen Vorschlag, wie sie sich Standards im Kunstunterricht vorstellen können, um dann abschließend die Umsetzung dieses Konzepts an einem konkreten Projekt, dem Hamburger Schulversuchsprojekt „AllesKönner“ (Laufzeit 2009-2013), zu diskutieren.
Gleich zu Beginn des Textes fällt der sachliche Ton, in dem die Autorinnen das Thema „Kompetenzorientierung“ diskutieren, äußerst positiv auf, ein Ton, der im Diskurs zu selten ist (s.u.). Werden doch Beiträge (noch) oft genug von einer polemischen Haltung bestimmt, die behauptet, mit der Kompetenzorientierung würde Bildung zur Ware, „die in zertifizierten Fertigungsprozessen hergestellt, nach Standards quantifiziert, getestet und im Hinblick auf das, was sie einbringt, evaluiert werden kann. Bildung wird so zum Teil der wirtschaftlichen Verwertungszyklen“ (Parmentier 2011). Mit hohem Pathos vorgetragen kommt es so – in diesem und oder in ähnlichen Fällen – zum finalen Showdown zwischen „Kompetenzorientierung“ auf der einen Seite und „Bildung“ auf der anderen, Bildung, deren Bezugspunkt meist Schillers Ästhetische Briefe sind. In der häufig noch beigegebenen Mischung allgemeiner System- und Herrschaftskritik stößt dies leider auch heute noch bei vielen Kunstpädagogen/innen offenbar auf offene Ohren – so die Erfahrung etwa bei Tagungen.
Dabei kann man oft nur vermuten, dass die vehementen Kritiker/innen die entsprechenden Ausgangstexte offensichtlich gar nicht gelesen haben, ein Vorwurf, den man den Autorinnen nicht machen kann. Und sie haben diese auch vorurteilsfrei und mit kritischem Blick gesichtet, überprüft, welche Potenziale und welche Sackgassen (der Titel lautet „Chancen und Risiken“) sich für die Kunstpädagogik hier auftun.
Deutlich wird das gleich zu Beginn bei der grundsätzlichen, realistischen Einschätzung des ökonomischen, bzw. gesellschaftlichen Kontextes der Debatten.(1) Gleich im zweiten Absatz erwähnen die Verfasserinnen, dass alle aktuellen Bildungsdebatten einen ökonomischen Kontext haben und sie stellen die Auswirkungen einer Qualitätsverbesserung in diesem Sinne differenziert dar.
Wichtiger erscheint mir jedoch eine Marginalie in diesem Zusammenhang, eine Anmerkung zu Beginn des zweiten Abschnitts mit der realistischen Einschätzung, dass „kunstpädagogisches Lernen volkswirtschaftlich uninteressant“ (Aden/ Peters 2012: o.P.) sei. Dies deckt sich mit meiner Erfahrung, dass die Menschen, die ein Interesse an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit moderner, kreativer Bildung haben (z.B. bei der OECD), gleich auf die relevanten MINT-Fächer setzen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) und nicht etwa auf die Kunst. Das ist der tiefere Sinn der enorm wichtigen Studie „Arts for art‘s sake“ (OECD 2013). Die Sorge, Kunstunterricht könnte funktionalisiert werden, zeugt aber von einer Fehleinschätzung, bzw. Selbstüberschätzung der Kunstpädagogen á la Parmentier. Es gibt schlicht kein ökonomisches Interesse an unserem Fach. Für eine „neoliberale Vereinnahmung kreativer Techniken“ suchen die ominösen Bildungsverwerter/innen nicht den Umweg über ein marginales Fach wie Kunst, sondern peppen die Naturwissenschaften („ihre Naturwissenschaften“) lieber entsprechend auf, was die großen und wirklich teuren Innovationsprogramme wie Sinus oder Fibonacci deutlich zeigen. Daher ist auch die Befürchtung falsch, Schülerinnen und Schüler könnten zu neoliberal ausbeutbaren, kleinen Selbstunternehmern/innen werden.(2)
In diesem Zusammenhang muss auch die Betonung der Autorinnen, dass der Begriff Kompetenz an und für sich ein „anspruchsvoller geistesgeschichtlicher Begriff“ ist, genannt werden. Ernst genommen passt dieser Begriff gar nicht zu einer ökonomischen Verwertbarkeit, da er Bildung im breiten Sinne im Blick hat. „‚Kompetenzen‘ beschreiben nichts anderes, also solche Fähigkeiten der Subjekte, die auch der Bildungsbegriff gemeint und unterstellt hatte: Erworbene, also nicht von Natur aus gegebene Fähigkeiten, die an und in bestimmten Dimensionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfahren wurden und zu ihrer Gestaltung geeignet sind, Fähigkeiten zudem, die der lebenslangen Kultivierung, Steigerung und Verfeinerung zugänglich sind.“ (Klieme 2003: 65) Und wenn man ihn in einem noch umfassenderen Sinne ernst nimmt, dann ist damit auch noch die Ermächtigung der Schülerinnen und Schüler gemeint. „Kompetent sein“ bedeutet eben nicht nur, etwas zu können, zu wissen und auch zu wollen, sondern eben auch, die Macht zu besitzen, Entscheidungen zu fällen (Liebau 2014). Deshalb ist der Hinweis der Autorinnen ernst zu nehmen, zu erwägen „ob sich die ästhetischen Fächer nicht vielmehr problematisierend zu hegemonialen Kompetenzdiskursen verhalten sollten, statt sie zu negieren. […] Gerade weil der Kompetenzbegriff sich in seiner Bedeutungsdynamik nicht einfach zähmen lässt, eignet er sich in besonderer Weise, seine Möglichkeiten nicht nur politisch qua Macht und Mehrheit, sondern auch qua Phantasie und Beweglichkeit auszufechten. Dazu braucht es Phantasie und Mut, Position zu beziehen.“(Aden/ Peters 2012: o.P.) Und sie führen vollkommen richtig fort: „Dabei lassen sich in dem bildungstheoretischen Konstrukt ‚Kompetenz’ dann auch Potenziale ausmachen, die gerade für die künstlerisch-ästhetischen Fächer produktiv gemacht werden können“.(ebd.) Die sich daran anschließende Liste ist exzellent und sollte in jedem einschlägigen Fachdidaktikseminar einen Katalog möglicher Hausarbeitsthemen bilden.
Wie sich die heutige politische Praxis problematisieren lässt, zeigen die Autorinnen selbst, wenn sie z.B. den wichtigen Hinweis geben, dass die tatsächlich erfolgte, letztlich parteipolitisch motivierte Orientierung an Regelstandards nicht im Sinne der Väter der deutschen Kompetenzorientierung (Klieme, Baumert, Weinert) war. Und sie zeigen überzeugend die Konsequenzen auf, die nur als Rückfall in alte, inputorientierte Denkweisen gesehen werden können. Ähnlich begründet ist der Hinweis auf die problematische Dominanz des Kognitiven in den gängigen Kompetenzdefinitionen (Klieme 2003). Hier fehlt es an einer klärenden Diskussion in der Kunstpädagogik, wie sich das „Bildnerische“ (als Spezifikum des Fachs) mit dem in der Kompetenztheorie vorliegenden „Kognitionsbegriff“ verhält.(3)
Bei dieser exzellenten Grundanlage des Textes wäre es dann auch nicht nötig gewesen – auch noch im Rückgriff auf eine Grafik A.R. Pencks – eine eigene Standar(t)d-Theorie zu konstruieren. Die Autorinnen tappen hier in eine, für unser Fach leider sehr typische Falle, die Kunst als das jeweils „ganz Eigensinnige“ definieren zu müssen, um daraus kaum verständliche Capricci zu entwickeln: „Wenn kompetenzorientierte ‚Standarts’ für den Kunstunterricht formuliert würden, hieße das, dass künstlerisch-ästhetisches Lernen von einem bestimmten ‚Stand’ allgemein zu vereinbarter Notwendigkeiten und Bestimmtheiten auszugehen hat bzw. auf ihn bezogen ist.“ (Aden/ Peters 2012: o.P.) – Was, bitte, steht da? Und was unmittelbar danach folgt, sind weitgehend Allgemeinplätze, denen jeder mit dem berühmten gesunden Menschenverstand nur zustimmen kann.
Über solche Kapriolen, auf die ich gerne verzichtet hätte, kann man jedoch leicht hinweglesen, wenn man die Verdienste dieses Texts bedenkt. Etwa wenn er z.B. die Theorie der Metakognition thematisiert. Gemeint ist das, was in bisherigen Fachdidaktiken meist als „Reflexion“ (neben „Produktion“ und „Rezeption“) unscharf bezeichnet wurde und immer eine Schieflage aufwies, da es weder Produktion noch Rezeption ohne Reflexion geben kann. Hier vermag das Konzept der Metakognition einen echten Ausweg anbieten, der zugleich an die allgemeine Diskussion in der Pädagogik anschließt. (Wagner 2014)
Eine intensivere Reflexion dieses Aspekts hätte auch geholfen, eine gewisse Schieflage zu vermeiden, wenn die Autorinnen die (messbaren) Kompetenzen im Widerspruch zur Unplanbarkeit, Unvorhersehbarkeit offener dynamischer Räume in der Kunstpädagogik sehen. Die genaue Bestimmung metakognitiver Dimensionen in entsprechenden Kompetenzstrukturmodellen sowie die Bestimmung von Kompetenzniveaus würden deutlich machen, dass der Umgang mit solchen unplanbaren, unvorhersehbaren Strukturen schlicht die höchste Stufe der Kompetenz („Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll“ entwickeln) darstellt und als solche natürlich bewertbar ist (nichts anderes macht die Kunstkritik bzw. der Kunstmarkt), ja messbar ist (wenn auch „schwer“, weil eben komplex).
Deutschlandweit wurden und werden weiterhin Curricula für das Fach Kunst neu geschrieben, allesamt kompetenzorientiert – aber ohne wissenschaftliche Fundierung und fachliche Koordination.(4) Die bildungspolitische Konzentration auf die Entwicklungen in den „Hauptfächern“ und der Mangel an Ressourcen paart sich mit der distanten Haltung vieler Fachdidaktiker, produktiv mitzugestalten. Das ist fatal und führt zu einem beklagenswerten Desiderat an Theoriebildung. Und dies führt zu einer weiteren Marginalisierung des Fachs Kunst im Fächerkanon.
Lange überfällig ist deshalb die Bündelung von Kräften mit dem Ziel, ein gemeinsames, wissenschaftlich fundiertes Kompetenzmodell zu entwickeln. ENVIL (www.envil.net), eine Gruppe von Forschern und Lehrplanentwicklern aus elf europäischen Ländern, geht – unterstützt durch das Long Life Learning Programm der Europäischen Union – mit der Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für das Fach Kunst einen entscheidenden Schritt in diese Richtung. Dass es sich bei diesem Modell um ein integratives Modell handelt (ja handeln muss, da ein „Referenzrahmen“ alle relevanten, ernstzunehmenden Ansätze abdecken muss), ein Modell, das die Bandbreite der verschiedene Verständnisse berücksichtigt, macht deutlich, dass gerade durch die Fokusverschiebung von der Inputorientierung zur Orientierung an Schülerkompetenzen ein weitreichender Konsens in der Fachcommunity erreicht werden muss und auch kann.
1 Eine erfolgreiche Ökonomie ist von gesellschaftlichem Interesse. Von starker Ökonomie profitieren nicht zuletzt die Künste, vor allem aber die Menschen, die einen Lebensstandard erreichen und halten können. Ich frage mich immer, was eigentlich gegen gute, intelligente, kreative Menschen in der Produktion, in der Ökonomie spricht, Menschen, die einen entsprechenden Mehrwert schaffen, von dem die Künste und die Kunstvermittler leben.
2 Ich habe mir als Lehrer immer Schüler gewünscht, die inspiriert, kreativ, selbstverantwortlich, unternehmerisch, entscheidungsfähig und strategisch waren, d.h. einen entsprechenden Pepp besaßen, einen Pepp, den gute Künstler schließlich auch haben (müssen).
3 Eine solche Diskussion müsste wohl an die Diskussion nach Bredekamp z. B. um den Aspekt des „Zeichnens als Erkenntnis“ anschließen
4 Eine genaue Analyse der deutschen Situation wird demnächst von Kati Zapp und dem Verfasser in den BDK-Mitteilungen vorgelegt.
Aden, Maike / Peters, Maria (2012): Chancen und Risiken einer kompetenzorientierten Kunstpädagogik. In: zkmb | onlineZeitschrift Kunst Medien Bildung, Text im Diskurs, www.zkmb.de/index.php?id=78; Zugriff: (09.09.2014).
Klieme, Eckhard et al. (2003): Bildungsforschungsband 1. Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Bonn/Berlin (BMBF). Liebau, Eckart (2014): Limitations of the Competence-Approach; In: International Yearbook for Research in Arts Education – Vol. 2, Münster/New York.
OECD (2013): Art for art’s sake? The impact of arts education, Co-authored by E. Winner, T. Goldstein and S. Vincent-Lancrin, Paris.
Parmentier, Michael (2011): Ästhetische Lust; In: Schroedel Kunst Portal, Didaktisches Forum Juli 2011, www.schroedel.de/kunstportal/didaktik_archiv/2011-07-parmentier.pdf ; Zugriff: (09.09.2014).
Wagner, Ernst (2014): Wo entsteht die Bildung beim Bild? – Metakognition und Kunstunterricht. In: Lutz-Sterzenbach et al. (Hg.): Bild und Bildung. Praxis, Reflexion, Wissen im Kontext von Kunst und Medien: Festschrift für Johannes Kirschenmann, München, i.D.