Bild(e)bewegungen. Annäherungen an jugendliche Artikulationen des Selbst in den Social Media

Soziale Netzwerke dienen der sozialen Orientierung, indem sie mittels eines individualisierbaren virtuellen Raums verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Grundsätzlich werden Praktiken, die in Face-to-Face Situationen flüchtig sind, in Social Media digital dokumentiert und können somit als Chance für die Jugendforschung begriffen werden (Manovich 2012; Schreiber/Kramer 2016). Mit der alltäglichen Verbreitung der Digitalfotografie seit dem Jahr 2000 und der Smartphones mit integrierter Kamerafunktion seit 2010 findet alltägliche Kommunikation zu einem hohen Grad mittels Bilder statt (Rettberg 2017: 13). Bilder selbst zu produzieren und über zahlreiche Plattformen auszutauschen gehört selbstverständlich zum (jugendlichen) Alltag (Schreiber/Kramer 2016; Kanter/Pilarczyk 2018). Diese Bilder sind als Bilderperformativ und spielen für die Konstitution des Ich eine zentrale Rolle, da sie zwischen Außen und Innen vermitteln und es dem Individuum ermöglichen, „sich in seiner Einmaligkeit zu konstituieren“ (Wulf 2014: 83).

Zeitgenössische Jugendwelten können als grundsätzlich post-digital verfasst verstanden werden. Das Präfix ‚post‘ meint hier nicht, dass die Phase der Digitalisierung schon abgeschlossen ist, sondern dass vor dem Hintergrund einer vielfältigen und komplexen digitalen Transformation aller Aspekte des Alltagslebens die Unterscheidung zwischen analog und digital nicht mehr hinreichend ist. Zeitgenössische (Jugend-)Kulturen (Jörissen 2018; Hugger 2013) werden in diesem Sinne erforscht, wenn digitalen Medien in ihrer Verwobenheit mit kommunikativen und soziokulturellen Praktiken nachgegangen wird. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf ihrer identitätsstiftenden und subjektivierenden Funktion, die in ihrem bildungstheoretischen Potential untersucht wird (Jörissen 2018; Bublitz 2014; Allert/Asmussen 2017).

Vor dem Hintergrund dieser (post-)digitalen Verfasstheit (jugendlicher) Lebenswelten (Richard/Krüger 2010; Mey 2011; Kanter/Pilarzcyk 2018) aktualisieren und transformieren sich klassische erziehungswissenschaftliche und soziologische Fragestellungen. Im Anschluss an Mollenhauer (2003) ist im Folgenden die Frage nach den Zugängen zu jugendlichen Verhältnissetzungen in Bildern zentral. Daraufhin soll sein Konzept der Spur aufgegriffen werden und weiterführend zur Entwicklung eines Annäherungsverfahrens ausgebaut werden. Der folgende Text systematisiert den theoretischen wie methodischen Annäherungsprozess an die Bildungs- und Subjektivationsprozesen von Jugendlichen, wie sie sich beispielhaft in Facebook-Profilfotos dokumentieren.

 

Selbstbilder als relationale Artikulationen

Den Stand der Forschung zu Social-Media-Bildpraktiken zusammenzufassen, gestaltet sich durchaus schwierig. So beziehen sich die umfangreichsten Studien (Boyd 2008; Neumann-Braun/Autenrieth 2011; Richard u.a. 2010) teilweise noch auf Bildpraktiken in Netzwerken, die aktuell von Jugendlichen nicht mehr genutzt werden oder aber gar nicht mehr in der untersuchten Form existieren. So kann diese Studie sich leider nur darauf beschränken, kulturelle Muster festzuhalten, die vielleicht im Moment der Veröffentlichung wieder verschwunden sind (Lovink 2013: 15). Für den untersuchten Forschungsgegenstand sind vor allem zwei Forschungsschwerpunkte relevant: Im Anschluss an Schreiber und Kramer (2016: 83) liegen erstens zahlreiche Studien zu identitäts- und sozialitätsstiftenden Potentialen der Social Media vor (u.a. Turkle 2012; Miller 2012b, Miller 2012a; Wagner/Brüggen 2013; Boyd 2014). In den meisten dieser Studien werden die Bildpraktiken jedoch nur mittelbar berücksichtigt (bspw. Schmidt 2013). Zweitens erweisen sich diejenigen Untersuchungen, die sich aus einer kunst- und/oder medienwissenschaftlichen Perspektive explizit mit den Bildern und Social Media Plattformen auseinandersetzen, als anschlussfähig (u.a. Frosh 2015; Reichert 2014; Saltz 2015). Hierbei zielen quantitativ orientierte Ansätze jedoch eher auf die Klassifikationen von Profilen oder Bildsorten (z.B. Hochmann/Manovich 2013).

Die Fokussierung von jugendlichen Identitäten und Selbstbildern als Forschungsgegenstand ist historisch zu betrachten und in seiner Genese eng mit der Herausbildung einer begrifflichen und theoretischen Fassung des Jugendalters verwoben. Parallel zur Betrachtung dieses Jugendalters als eigenständige Lebensphase wurde auch Identitätsentwicklung als Problemstellung zur spezifischen Bildungsaufgabe stilisiert (Erikson 1988: 87; Mollenhauer 2003: 173) – eine Entwicklung, die Mollenhauer zur Formulierung folgender quasi-anthropologischer Grundkonstante zuspitzt, auf die der Titel dieses Beitrages zurückgeht: „Das Spiel des Jugendlichen mit Selbstentwürfen, deren symbolische Repräsentation in Bildern von Einzigartigkeit und Zugehörigkeit ist seitdem [im Verlauf des 19. Jhdt., V.F.] eine kulturell notwendige Komponente seiner Bildebewegung.“ (ebd.: 173).

Daran anknüpfend bestimmen Mietzner und Bilstein (2018) die Bildebewegung bildungstheoretisch nicht als „einen rational reflexiven Prozess“, sondern als „eine Auseinandersetzung mit der Welt […] ein permanentes Durchdrungensein von Ich und Welt“ (ebd.: 287). Im Anschluss an diesen radikal relational verfassten Moment des Durchdrungenseins sollen Selbstbilder von Jugendlichen als „artikulative Relationierungen“ untersucht werden, als Dokument eines Subjektivationsprozesses, „insofern das Subjekt nicht nur >etwas< artikuliert, sondern es aus artikulativen Prozessen überhaupt erst hervorgeht“ (Jörissen 2018: 54). Vor dem Hintergrund dieser Doppelfigur der Artikulation – ich artikuliere/ich werde artikuliert – und Mollenhauers (2003) Bildebewegung sollen die Bilder im weiteren Verlauf nicht als Kristallisationspunkt einer definitiven Erzählung des Selbst, sondern in Anschluss an Butler (2007) als eine performative Gelegenheit zur Selbsttransformation verstanden werden. Ihre Bemerkungen über die sprachliche Erzählung gilt für die – hier ins Bild gesetzte – Relationierung des Selbst: „Das bedeutet, dass meine Erzählung in medias res beginnt […] Immer bin ich dabei, etwas einzuholen, zu rekonstruieren, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als jene Ursprünge, die ich nicht kennen kann, zu fiktionalisieren und zu fabulieren.“ (ebd.: 56)

Die Verbindung zum Bild ist Mollenhauers Postulat, das besagt, dass sich eben jener Prozess der Fiktionalisierung oder Fabulierung als Eigentlicher nicht beobachten lässt, sondern nur die Spuren dieses Prozesses, die sich im Äußeren niederschlagen (Mollenhauer 2003: S. 160). Das Bild als Medium ist insofern prädestiniert, da es in seiner ikonischen Verfasstheit nach Imdahl (1996: 461) „Übergegensätzlichkeit“ vermittelt, es also vermag, Gegensätzliches in-eins-zusetzen. Vor dem Hintergrund dieser strukturellen Verortung, schließt sich die Frage an, ob der Balanceakt zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, der als das Selbst verstanden werden kann, auch in den Selfiewelten und Häschenohren-Bildern, die Plattformen wie Instagram oder Facebook füllen, zu finden ist.

Als Antwort auf diese Frage wird im folgenden Text ein Verfahren vorgestellt, dass zum einen auf eine Erweiterung der seriell-ikonografischen Fotoanalyse zurückgeht und zum anderen die soziotechnische Verfasstheit der untersuchten Bilder – ihre Netzwerklogik – systematisch berücksichtigt. Da sich im Forschungsgegenstand mehrere disziplinäre Felder überschneiden, wird zunächst der Forschungsstand zu Social Media im Allgemeinen und Facebook im Speziellen vorgestellt, um dann auf die Bildpraktiken zu fokussieren.

 

Strukturbedingungen einer Bild(e)bewegung in Social Media

Allgemein können Social Media als spezielle Netzwerkkulturen verstanden und auf Ebene der Informationsverarbeitung als Artikulation einer Protokolllogik, die im Sinne von Gallowayund Thacker (2007) durchaus auch als hegemoniale Struktur agiert, beschrieben werden. Insbesondere Facebook hat über Metawissen1 im Sinne von Big-Data-Analysen eine asymmetrisch verlaufende Machtbeziehung etabliert (Reichert 2014), und der von Seiten des Netzwerkes vorgegebene Code als Algorithmus und Software artikuliert sich auf der Ebene des Interfaces z.B. in Sprache, Bildern, Rahmungen, die Artikulationen produzieren und provozieren: „Um personenzentriertes Wissen über die User/-innen herzustellen, offeriert die Social-Software von Facebook standardisierte E-Formulare für Subjekte, die sich in Selbstbeschreibungs-, Selbstverwaltungs-, und Selbstauswertungsprozeduren eigenständig organisieren sollen.“ (ebd. S. 169) Das ist ein medientechnisch-infrastruktureller Hintergrund des untersuchten Feldes, der – obwohl er implizit bleibt – dessen Bedingungen vorstrukturiert.

Auch wenn das Untersuchungsmaterial als zweidimensionale Bilder vorliegt, die an anderer Stelle schon als Kristallisationspunkte jugendlicher Vergemeinschaftung identifiziert werden konnten (Reißmann 2014) und der Bildaspekt im Rahmen der sogenannten Profilfotos innerhalb der Webseitenarchitektur nochmals eine hervorgehobene Rolle spielen (Flasche 2017b: 42), wäre es stark verkürzend, sie lediglich als Bilder zu untersuchen. Levin beschreibt sie vielmehr als „Netzwerk-Knoten“, die „Online-Identitäten“ kreieren und filtern, als digitale Objekte, die durch Chiffrierungs- und Erweiterungssysteme bestimmt werden (Levin 2015: 108). Im Anschluss untersuche ich die Facebookprofilfotos somit nicht nur als (Selbst-)Portraits, sondern vielmehr „als Teil der Netzwerke, durch die sie online artikuliert werden“ (ebd.: 104). Frosh (2015: 1607) weist darauf hin, dass insbesondere Selfies stärker als andere Fotografien als Geste zu untersuchen sind, da sie die performative Seite einer kommunikativen Handlung betonen. Es erweitert den klassischen indexikalischen Gestus einer Fotografie ‚sieh, so war es hier und jetzt‘ zu einem ‚sieh, so zeige ich mich dir‘ (ebd.; Rettberg 2017: 17, 18).

Die vernetzten Bildtechniken konstituieren das Verhältnis zwischen Aufnahmeapparat als Interface und Aufnehmenden. Die Funktion der Netzwerke – unterstützt durch Filter-Funktionen der App-Anbieter – bietet die Möglichkeit, traditionelle Rollen fallen zu lassen, durch Maskeraden in neue Rollen zu schlüpfen sowie diese „durch Exzentrizität zu intensivieren“ (a.a.O.). Führend sind hier Snapchat oder Instagram also vornehmlich auf den Austausch von Fotografien spezialisierte Angebote (MPFS2017: 34), die seit ca. 2012 zahlreiche Filter anbieten. Während die klassische Medientheorie analoge und digitale Fotografie-Filter grundsätzlich als eine Störung bzw. Entstörung des Bildes verstand und sie im Sinne eines Enhancement-Skripts (Rosenfeld/Kak 1976) diskutierte, werden sie in den Apps im Sinne einer Augmented Reality zu einer zentralen Kamerafunktion (Flasche 2020).

Um Facebook abschließend als eine Social Media Plattform und deren spezifische Sozialfunktion zu präzisieren, wäre eine ausführliche Analyse der formalen Strukturmerkmale in Anlehnung an die Online-Ethnographie notwendig (Jörissen 2007), die den Rahmen dieses Textes deutlich überschreiten würde. Stattdessen werden zentrale Merkmale schlaglichtartig in Verschränkung mit dem Stand der Forschung dargestellt: Facebook war bis ca. 2015 nicht nur das mitgliederstärkste soziale Netzwerk im Internet, sondern vom Anspruch her die Gegenwart und Zukunft des Sozialen schlechthin (Miller 2012a: 10).2 Facebook war nach Lovink (2011: 183) maßgeblich daran beteiligt, eine „Kultur der Selbstpreisgabe” und das Management des Selbst als zentralen Modus der Social Media Nutzung zu etablieren. Im Verlaufe des Jahres 2014 verlor das Netzwerk jedoch seine Marktführerschaft für (amerikanische) Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren (Piper Jaffray Survey 2014) und aktuell ist Facebook nur noch auf Platz 8 der liebsten Internetangebote der 12- bis 19-Jährigen Deutschen (MPFS2018: 35). Während zunächst jeweils einzelne Plattformen, wie etwa Myspace, StudiVZ oder Facebook die Marktführerschaft in bestimmten Altersgruppen innehatten, verteilt sich die Aktivität aktuell auf mehrere Plattformen und Netze. Zum Zeitpunkt der Erhebung der untersuchten Bilder (2013) hatte Facebook eine Art Monopolstellung in der (jugendlichen) Mediennutzung und diente dazu, diverse Subsysteme, wie zunächst z.B. Instagram, zu vernetzten und verwalten. Obwohl Facebook als Unternehmen aktuelle Marktführer wie Whatsapp und Instagram formal besitzt, hat die Plattform Facebook als Social Media und context collaps Manager (Boyd 2014: 31) seine Vormacht verloren. Auf der konkreten Interaktionsebene ist Facebook auf die Hinterbühne zurückgetreten, von der aus die aktuellen Vorderbühnen organisations- und informationstechnisch gesteuert werden. Insofern müssen die Ergebnisse der hier vorgestellten Studie in Bezug auf diese veränderten Grundbedingungen des Feldes reflektiert werden, was im Anschluss an die Methoden- und Falldarstellung geschehen wird.

 

Die Studie

Dieser Text stellt das Verfahren vor, das im Rahmen meines Dissertationsprojektes erprobt wurde. Der Studie liegt ein Bildkorpus von 428 Facebook-Profilfotos Jugendlicher zu Grunde, die Mitte 2013 erhoben wurden. Zur Festlegung der Stichprobe dienten Gruppen auf Facebook, die sich unter dem Namen einer (Gesamt-)Schule formiert hatten.3 Die Profilbilder der Teilnehmer/-innen dieser Gruppen wurden alle gespeichert, insoweit sie für jemanden ohne Facebook-Zugang sichtbar waren. Im Hinblick auf die im Kontext der Fragestellung entwickelten Heuristik wurde nun der gesamte Korpus mit der Unterstützung des Programms MAXQDA codiert. Hierbei handelt es sich um eine Software zur computergestützten qualitativen Daten- und Textanalyse, das den Zugang und Kodierung zum Korpus gewährleistet. Alle Facebookprofilbilder wurden in eine Datenbank des Programms übertragen, die es ermöglicht, sowohl das Bild als Ganzes zu codieren, als auch einzelne Elemente davon.

Um der spezifischen Medialität der Profilbilder und ihrer Einbettung in (Post-)digitalen Jugendwelten gerecht werden zu können, wird im Folgenden eine Methode vorgestellt, die bis jetzt insbesondere in der historischen Bildungsforschung verwendet wurde. Sie knüpft an die Vorarbeiten vonPilarczykund Mietzner (2005) zur seriell-ikonografischen Fotoanalyse an. Die Autorinnen streben mit der von ihnen entwickelten Methode einen Mittelweg zwischen einer qualitativen und einer quantitativen Forschungslogik an: „Reproduzierbarkeit und massenhafter Gebrauch gehören zum Wesen des Fotografischen, wer sich daher ausschließlich auf das einzelne fotografische Bild bzw. auf wenige ausgewählte Fotografien konzentriert, läuft Gefahr, dieses Spezifische der Quelle zu ignorieren.” (ebd.: 131)

Der Kern des Verfahrens ist der wechselseitige Bezug zweier Verfahren zueinander: Zum einen die ikonografisch-ikonologische Interpretation einzelner Bilder und zum anderen die serielle Analyse ganzer Fotobestände. Ziel dieser Zusammenführung ist es, die in der Feinanalyse gewonnenen Hypothesen an einem größeren Bildbestand zu prüfen und zu quantifizieren.

Die Autorinnen setzten ein Minimum an expliziten und zuverlässigen Kontextinformationen als erste Orientierung beim Anlegen eines fotografischen Untersuchungskorpus voraus. Dieses Minimum kann sich auf die Zeit, den Ort, den Autor/die Autorin oder den Verwendungszusammenhang beziehen, und diese Informationen können auch dem Bild selbst entnommen werden. Diese als extern bezeichneten Kriterien dienen einer ersten Klassifizierung des Korpus nach forschungsrelevanten Merkmalen. Vor dem Hintergrund der oben geschilderten Strukturbedingungen der untersuchten Fotos wird klar, dass die aus historischen Fragestellungen abgeleiteten Kontextinformationen hier nicht zur Anwendung kommen können. Angesichts der Plastizität der digital vernetzten Bilder muss das Moment der Autorenschaft im Anschluss an einen Aspekt der dokumentarischen Fotoanalyse (Bohnsack 2017: 166), die eng mit der ikonografisch-ikonologischen Analyse verwandt ist, erweitert werden. Die Methode unterscheidet drei Autorenschaft, deren Wissensgehalte im Bild dokumentiert sind: Erstens der/die im Bild abgebildete Autor/Autorin, zweitens der/die das Bild abbildende und drittens der/die das Bild autorisierende Autor/Autorin. An letzteren wird hier angeschlossen, allerdings muss der Begriff des Autors/der Autorin im Hinblick auf die oben genannte Doppelfigur artikulieren/artikuliert-werdenausgespart werden. Untersucht werden also Artikulationen, die sich aufgrund der „tiefgreifenden Verschiebung des Verhältnisses von Mensch, Bild und Imagination“ in der postdigitalen Kultur durchaus auch als „neue epistemische“, hybride Akteure herausstellen können (Jörissen 2018: 52).

Unter Einklammerung der Besonderheit dessen, was hier die externen Kriterien sind – alle Bilder sind Facebook Profilbilder – kann nun der zweite methodische Schritt zur Anwendung kommen: Eine Verschlagwortung des Korpus nach internen Kriterien wie Themen, Motiven, technischen Daten oder Stilen (Pilarzcyk/Mietzner 2005: 27).

Der dritte methodische Schritt wird von den beiden Autorinnen als Qualifizierung des Untersuchungskorpus bezeichnet und die internen und externen Kriterien sollen miteinander verknüpft werden (ebd.: 2). Dieser Schritt wird hier in Bezug auf den untersuchten Fall nur kurz angerissen und im Hinblick auf die Argumentation des Textes zugespitzt: Im Gegensatz zu vielen anderen Bildpraktiken, die sich in den Sozialen Netzwerken beobachten lassen, wie zum Beispiel Alben, sogenannten Storys oder Memes, verbindet alle Profilfotos die klare Rahmung innerhalb der algorithmisch angelegten Kommunikationsstruktur. Das Profilbild ist neben dem Namen das einzige Element, das nicht durch Einstellungen, die Sicherheit oder Privatsphäre betreffen, verborgen werden kann. Im Sinne der performativen Anrufung des Selbst (Butlers 2007) – der artikulierenden Seite der Doppelfigur – ist die Aufforderung zur ikonischen Artikulation des Selbst auf Facebook klar formuliert4: „Lächle, du bist auf Facebook! […] Darüber hinaus bietet das von dir ausgewählte Bild eine weitere Möglichkeit, deine Persönlichkeit gegenüber Freunden und Familie auszudrücken. Wenn du ein Profilbild auswählst, empfehlen wir dir ein Bild zu nehmen, das dich am besten repräsentiert. […]“ (Facebook zitiert nach Wiedemann 2011: 167). Dies ist eine Anrufung, die beispielhaft für die neoliberale Vermarktungslogik stehen kann, wie sie insbesondere in Bezug auf die Plattform Facebook bereits vielfach rekonstruiert und untersucht worden ist (ebd.; Lovink 2011; Warfield 2015; Bublitz 2014).

Diese sozio-technische Hervorhebung des Profilbildes legt nahe, die zweite Seite der Doppelfigur – das Artikulierte– als Fassade im Sinne Goffmans (2003) zu untersuchen. Mollenhauer (2003: 162) sprach von der „Vorderbühne der Identitätsrepräsentation“, die in Porträts als „Äußerungen“ zu finden seien. Im Anschluss daran hat sich in der Einzelbildanalyse eine Segmentierung der Bilder als allgemeine Heuristik herausgebildet, die theoretisch an Goffmans (1982) Territoriendes Selbstrückgebunden wird. Diese Einteilung in Territorien ist an dieser Stelle keine theoretische Fokussierung der Analyse des untersuchten Korpus, sondern Ergebnisderselben. Er verknüpft Selbstdarstellung und Räumlichkeit mit dem Begriff des Territoriums, das als symbolischer Raum zur Erzeugung und Sicherung von Identität definiert wird. Das Selbst als Ergebnis einer Interaktionsordnung ist bei Goffman (2003: 23) unmittelbar an materiale/mediale Kontexte gebunden, die gemäß der jeweiligen Fallstruktur zum notwendigen oder hinreichenden Attribut werden.

Der vierte Schritt ist schließlich die ikonografisch-ikonologische Bildinterpretation, die in einer Erweiterung der Panowskyschen (2002) Tradition direkt durch Reihen und Typenbildungen ergänzt werden soll. In diesem Zusatz nehmen die Autorinnen den Ansatz vorweg, den Müller (2012, 2016) im Anschluss an Imdahl (1996) in seiner Figurativen Hermeneutik detailliert ausgearbeitet hat. Die Verschlagwortung des Korpus nach externen wie internen Kriterien verlangt interpretative Instrumente, die nicht erst nachgelagert angesetzt werden dürfen. Die serielle Analyse wird also um die Analyseschritte der Figurativen Hermeneutik erweitert, um schon auf der Ebene des Einzelbildes die Vernetzung mit anderen Bildern im Medium der Social Media zu berücksichtigen. Ein Instrument dieser Methode, das die Serialität methodisch besonders berücksichtigt, ist das Erstellen von Bildclustern als „Parallelprojektionen“ (Müller 2012: 156), welche die ikonische Evidenz nicht illustrieren, sondern im Moment der Anschauung erst erzeugen (siehe Abb. 02).

Formale Kategorien, die aus der erweiterten ikonischen Analyse einzelner Bilder entwickelt wurden, werden dann seriell innerhalb des Korpus geprüft. Inhaltliche oder externe Kategorien werden nur mit großer Sensibilität für die Verschlagwortung genutzt und im Sinne des „Sehenden Sehens“ Imdahl (1996) kritisch reflektiert. Diese Sensibilität ist sowohl geboten, um die Auswertungsmethode nicht zu einem inhaltsanalytischen Verfahren zu verflachen, als auch die unterschiedlichen Medialitäten, d.h. den Übergang von ikonischen zu typografischen Logiken reflexiv zu berücksichtigen. Erst dann können Hypothesen gebildet werden, die in einem fünften Schritt geprüft und gesichert werden, was dann erst mit Rückgriff auf den Kontext der Bilder geschehen soll.

 

Der Fall

Mit dem Schlaglicht auf ein Beispiel für den vierten Analyseschritt kann der Mehrwert dieser methodischen Annäherung herausgearbeitet werden. Die Doppelfigur des Facebookprofilfotos zeigt sich hier in der doppelten Einschreibung des Mediums in das Bild. Das Artikulierende der Anrufung Facebooks dokumentiert sich genauso, wie die artikulierte Relationierung zu eben jener.

Abb. 1 Facebook Profilbild, hier anonymisiert und zu Analysezwecken nummeriert

Bei dem hier untersuchten Facebook-Profilfoto (siehe Abb. 1) handelt es sich um eine digitale Collage aus mehreren Einzelbildern, die durch einen Rahmen bzw. Hintergrund zusammengefasst werden. Zur leichteren Orientierung im Verlauf der Analyse wurden die Bilder im Uhrzeigersinn und beginnend bei dem größten durchnummeriert. Das Bild verfügt über einen Übertitel „Ich“ und einen Untertitel „Langeweile xD“. Das Bild ist auf mehreren Ebenen mit Filtern versehen worden. Die offensichtliche Modifizierung des Bildes ist die Ordnung des ‚Rahmen‘, der sich in seiner groben Form an einem Passepartout orientiert, das sich über die einzelnen Teilbilder legt und sie so zu einem zusammenfasst. Im Gegensatz zu diesem ordnenden Charakter besteht das Passepartout jedoch aus groben Pinselstrichen, die lediglich die Fotos freilassen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei diesen vier Bildern um Selfies (Saltz 2015: 34), da Aufnahmewinkel und der angeschnittene Arm im Bild den Vorgang der Aufnahme dokumentieren. Die vier Bilder folgen der Logik des klassischen Portraits, der Helligkeitsfokus liegt auf dem Gesicht, das von herabhängenden Haaren links und rechts gerahmt wird. Zwischen dem eher groben, skizzenhaften Rahmen und der klassischen Portraitpose besteht ein formaler Bruch. Bild 2 und 5 sind keine Portraits: Bild 2 zeigt ein aus Quadraten zusammen gesetztes Herz und Bild 5 die Nahaufnahme des unteren Teils eines Gesichtes mit gespitzten Lippen. Bild 5 legt nahe, dass es sich hier um dieselbe Person wie aus Bild 1, 3, 4 und 6 handelt, da Kleidungsfarbe und -form, Haarfarbe und Frisur die gleichen sind. Bild 2 und Bild 5 in ihrer typisierten Liebes-Symbolik attribuieren die Porträts diffus positiv. Herz und Kussmund sind häufig verwendete Emojis, deren gestische Verwendung auf gebräuchliche Alltagspraxen zurückgeht und die hier personalisiert und individuell nachgestaltet worden sind und in Analogie verwendet werden.

Abb. 2 Parallelprojektion zur Rahmung

Der Rahmen stellt trotz dieser skizzenhaften Form eine Kohärenz zwischen den Einzelbildern her, die auf narrativer Ebene nicht gegeben ist. Die Parallelprojektion (Müller 2012: 156) (siehe Abb. 03) macht deutlich, dass sich die Anordnung verschiedener analoger Formate bedient: Zum Beispiel erinnert sie einerseits an ein Fotoalbum, wo diverse Fotografien, die sich innerhalb eines Kontextes bewegen, zusammen auf eine Seite geklebt und mit typografischen Kommentaren oder Fundstücken kombiniert werden. Andrerseits erinnern das quadratische Format und die Wiederholung des Motivs an Kontaktabzüge (oder deren digitale Äquivalente), die dabei helfen, aus einer Bilderserie diejenigen Bilder auszuwählen, die veröffentlicht oder weiterverarbeitet werden. Das Facebookprofilfoto oszilliert also zwischen dem Ausstellenden, Rahmenden, Fixierenden und dem Vorläufigen, Skizzenhaften, Entwerfenden.

Die Anordnung als Untertitel macht „Langeweile xD“ zum Epilog der Bildcollage, der in diesem Fall die Motivation explizit macht, indem der affektive Impuls benannt wird, der zu Erstellung der Collage führte. Hier sollen andere Lesarten ausgeschlossen werden, damit die Collage nicht als obsessive Selbstinszenierung oder angeberische Inszenierung eines ästhetischen Vermögens missverstanden wird. In diesem Sinne wird parallel zur Relativierung des ästhetischen Ausdrucks auch der Übertitel „Ich“ relativiert, indem auf den spielerischen, nicht ernsten und nicht eindeutigen Umgang mit dem eigenen Ich verweist. Ich wählt aus allen Filtern mit der Rahmung solch einen, der das skizzenhafte, den Entwurfscharakter des eigenen Ichs betont. Die gesamte Zusammenstellung dokumentiert einen spielerischen Suchprozess nach dem richtigen Ausdruck, der hier sorgfältig kuratiert wird.

 

Fazit

Auch wenn Facebook seine Monopolstellung verloren hat und gerade von den Jugendlichen nur noch wenig genutzt wird, findet sich doch das rekonstruierte Artikulationsmuster auch auf anderen Plattformen. Plattformen wie Instagram oder Pinterest begegnen der Zunahme des Austauschs von Bildern, indem sie seit 2010 ihre gesamte Infrastruktur auf Bilder ausgerichtet haben und typografische Strukturen ausschließlich auf ebendiese Bilder bezogen werden können. Dabei spielt auch das eine Profilbild nur eine untergeordnete Rolle, da es neben vielen anderen Bildern, sowohl auf die Medien und Plattformstruktur, als auch auf die Interaktion bezogen, nachrangig wird. Dabei ermöglichen diese Plattformen mittels Bildclustern und zeitlich begrenzten Zusammenstellungen vielfältigere Bildkommunikationen. Dazu kommen Plattformen wie Snapchat, die erstens nur zeitlich begrenzte Bilddarstellungen zulassen und zweitens die Verwendung von Filtern so erleichtert haben, dass der spielerische, karnevaleske Modus (Levin 2014) gesteigert auftritt, der weder in der Medienstruktur des Profilbildes, noch in der rigiden Identitätspolitik Facebooks angelegt war. Dass dieser Modus in vielfältigen Bricolagen und Clustern trotzdem schon dort zu finden war, weist auf den produktiven – in manchen Fällen auch subversiv artikulierten – Charakter der Leerstelle Profilbild hin (Flasche 2017b). Die ikonische Bearbeitung der identitären Unbestimmtheit im Sinne eines performativen Selbst, das entwirft und entworfen wird, kann mit Allert und Asmussen (2017) als „produktive Verwicklung“ interpretiert werden und verweist somit auf die Bandbreite von dynamischen Bildungsprozessen in einer Kultur der Digitalität. An der Schnittstelle zwischen Bild und Bildung sprach Mollenhauer (2003) von der Bildebewegung, die den tranformatorischen Moment jedes Bildungsgeschehens zentral setzt. In diesem Sinne dokumentiert sich auch im beschriebenen Fall das, was Koller (2018: 9) im Sinne seiner Bildungstheorie als Andersdenken oder Anderswerden beschreibt.

 

Anmerkungen

[1] Für den Senat der USA stellte Facebook im Juni 2018 einen Bericht zusammen, der offenlegte, welche Daten das Unternehmen sowohl über seine Nutzer/-innen, als auch über die mit den aktiven Nutzer/-innen verbundenen Nicht-Nutzer/-innen speichert. Um beispielsweise die Anzeigeoptionen zu optimieren, d.h. zu personalisieren, speichert Facebook über die Webseiteneinstellungen, Interaktionen und dort hochgeladenen Dateien hinaus u.a. auch Browserdaten, Mausbewegungen, GPS Koordinaten oder Angaben über Mobilfunkprovider und IP-Adressen (United States Senate 2018).

[2] Ende 2018 verfügte Facebook über 2,32 Milliarden aktiver Nutzer/-innen weltweit und über 30 Millionen deutschlandweit (Facebook 2018; statista 2019).

[3] Die Stichprobe besteht also aus „natürlichen“, d.h. auch im Alltag bestehenden Gruppen von Jugendlichen der Sekundarstufen I bis II. Um auf die soziale Herkunft bezogenen Ikonografien zu nivellieren, wurden diese an Gesamtschulen erhoben. Als nicht-selektive Schulform mit spezieller Eingangsselektivität, die sich aus der Koexistenz zu anderen Schulformen des deutschen Schulsystems ergibt, werden in der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft weniger sekundäre Herkunftseffekte wirksam als an Schulformen des traditionellen dreigliedrigen Systems (Lorenz 2017: 245).

[4] Dieser Text war zum Zeitpunkt der Erhebung noch aktuell, wurde mittlerweile jedoch mehrfach geändert. Da Facebook seine Anmeldeseiten nicht öffentlich archiviert, kann hier keine nach verfolgbare Internetquelle angegeben werden.

 

 

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Abbildungen

Abb. 1: Autorin

Abb. 2: Parallelprojektion/Modifizierte Zusammenstellung der Autorin: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.spurensuche-in-berlin-david-bowies-heldenzeit.8a5c8349-8682-4279-8b20-23222fd344b9.html; https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/alltagskultur-fotoalbum-zivildienst.html

 

Von Viktoria Flasche

Veröffentlicht am 21. November 2019

Zitiervorschlag

Flasche, Viktoria: Bild(e)bewegungen. Annäherungen an jugendliche Artikulationen des Selbst in den Social Media, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2019. Quelle: https://zkmb.de/bildebewegungen-annaeherungen-an-jugendliche-artikulationen-des-selbst-in-den-social-media/; Letzter Zugriff: 04.12.2024

Review-Verfahren

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