Ein Samstagvormittag im Dezember. Wir sitzen in einem der Räume der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Es ist still. Die Tische im Raum sind zu unterschiedlich großen Gruppen zusammengestellt. An ihnen sitzen momentan etwa 15 Studierende, lesen, schreiben oder denken scheinbar nach. Manche haben Kopfhörer auf. Ich weiß nicht, was sie hören, nur manchmal glaube ich eine leise Grundmelodie zu erahnen. Ab und an steht jemand auf, um sich Tee nachzuschenken. Überall stehen Kekse – der Jahreszeit geschuldet gerade auch Lebkuchen und Spekulatius. Eigentlich müssten wir noch Kerzen anzünden, denke ich, aber aus Brandschutzgründen ist das sicherlich verboten. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, wie gemütlich das Forschungskolleg, das eine Kollegin und ich gemeinsam leiten, überhaupt sein darf. Es wurde seit seiner ,Gründung’ 2016 sowieso immer gemütlicher. Geht durch Gemütlichkeit die Ernsthaftigkeit verloren?
Als das Kooperationsprojekt AEiT 2015 begann, war ich Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienkultur & Theater und sollte von da an für die Dauer des auf zwei Jahre angelegten Projektes dieses Institut darin vertreten. Ein Teil meines Aufgabenfeldes war die Konzeption eines gemeinsamen Forschungskollegs – einem kooperativen Lern- und Arbeitsort für Studierende des Instituts für Kunst & Kunsttheorie und der Medienkulturwissenschaft. Die Studierenden konnten sich hierfür mit einem eigenen Projekt, welches auf vielfältige Weise wissenschaftlich, künstlerisch oder pädagogisch verortet sein konnte, bewerben. Die Dauer der Teilnahme war nicht beschränkt – aber natürlich konnten bei einer Verlängerung über ein Semester hinaus nicht für jedes Semester Credit Points vergeben werden. Doch erstaunlicherweise nutzten viele das Seminarangebot auch ohne die begehrten Punkte, auch über mehrere Semester hinweg. So kam jedes Semester eine interdisziplinäre Gruppe aus durchschnittlich 20 Studierenden zusammen. Hierbei waren nicht nur die Studiengänge der Kollegiat*innen gemischt – auch kamen wir zwei Dozentinnen aus den beiden unterschiedlichen, in dem Projekt vertretenen Instituten.
Am Anfang der Kolleggründung dachten wir, dass es gut wäre, würde jede*r Student*in das eigene Projekt, gleich einem Referat, vorstellen. Doch so spannend die einzelnen Projekte auch waren: für die zuhörenden Teilnehmer*innen war der Erkenntnisgewinn jeweils nur mäßig und für die Durchführung ihrer eigenen Vorhaben fehlte in dem Seminar letztlich die Zeit. Gerade für diejenigen, die erst in der letzten Sitzung vortrugen, kamen manche Hinweise und Kommentare (zu) spät. In der Konsequenz wurde das Präsentieren der eigenen Projekte immer weiter abgespeckt – bis schließlich 2017 die Teilnehmer*innen nur noch in der ersten Sitzung innerhalb von fünf Minuten ihr Projekt skizzenhaft vorstellten. Danach wurde im Kolleg ausschließlich selbständig gearbeitet, eng betreut durch meine Kollegin und mich. Auch hier, so wurde klar, mussten wir nochmal nachjustieren, mittlerweile mit einem Keks im Mund: Auf freiwilliger Basis können die Studierenden nun nach Bedarf in der letzten halben Stunde ihre Arbeit vorstellen, konkrete Fragen an ihre Kommiliton*innen richten und ein kollektives Feedback einfordern. Einige brauchen Unterstützung bei der Bilderauswahl für ein Fotoprojekt, andere benötigen Literaturempfehlungen und wieder andere wollen wissen, wie ihre Performance bei Zuschauer*innen ankommt. Weiterhin gibt es durchgehend das Angebot für Einzelgespräche, so dass meine Kollegin und ich immer auf dem Laufenden über die jeweiligen Projekte sind.
Ich blicke auf die Uhr. Es ist 12 Uhr. Meine Kollegin macht Musik an. Manche schauen genervt, andere erleichtert, einige ergeben sich schlicht ihrem Schicksal – doch egal wie: alle stehen auf und versammeln sich im Kreis. Wir machen etwa 15 Minuten ,Sport’.
Ist das ernst zu nehmender Unterricht? Nein, wahrscheinlich nicht, überlege ich, während ich versuche mit den Fingerspitzen auf den Boden zu kommen. Nach links schielend sehe ich, wie eine Studentin nicht nur die Hände flach auf dem Boden, sondern auch die Nase am Knie hat. Wenn uns so jemand sieht …
Doch ich mag das so. Und ich finde es gut. Ich finde gut, dass ich mich scheinbar nicht mehr darum kümmern muss, wie ,guter’ Unterricht auszusehen hat, Unterricht, der den Lehrinhalt konkret vorgibt und ein gemeinsames Tempo bestimmt. Denn guten Unterricht machen die Studierenden hier selbstständig. Zu Beginn des Kollegs war das natürlich anders. Zu Beginn war ich nicht so entspannt und dachte, es müsse einen richtigen Semesterplan geben, eine Struktur, so wie ich sie aus meinem eigenen Studium kannte und wie ich es als Dozentin jahrelang praktiziert hatte. Ich hatte den Anspruch, den Studierenden Wissen zu vermitteln – und vor allem, mehr als sie zu wissen. Als nun aber die Studierenden plötzlich mit pädagogischen Projekten, oder gar mit praktischen Arbeiten aus dem Bereich der Bildenden Kunst kamen, war mein Wissensvorsprung mehr als begrenzt. Trotzdem versuchte ich lange, bei jedem Projekt Oberwasser zu erlangen (von behalten konnte nicht die Rede sein). Doch irgendwann gab ich mich geschlagen. In ihren eigenen Projektvorhaben hatten die Studierenden oft die größere Expertise. Trotz dieses scheinbaren Defizits kamen die Studierenden, mehr als ich das aus anderen Seminaren gewöhnt war, am Semesterende und bedankten sich für das Seminar, für die Unterstützung und – zu meinem großen Erstaunen – auch für die hilfreichen Hinweise. Und immer wieder dafür, dass sie endlich mal die Zeit und den Raum für ihre eigenen Gedanken und Projekte hatten.
Ich entspannte mich und fing an, vor den Seminarblöcken morgens gemeinsam mit meiner Kollegin Brötchen zu schmieren, fing an, Tee zu kochen, um 12 Uhr alle zum Sport zu verdonnern, hörte auf, ständig einen Wissensvorsprung haben zu wollen und begann, mit ernsthaftem Interesse und nicht mit dem Gefühl, eine ,Lösung’ bereit halten zu müssen, zuzuhören. So nahm ich auf, nahm Anteil und lernte. Das reflexartige Gefühl, dass dabei etwas schiefliefe, weil es schließlich nicht darum ginge, dass ich etwas lerne, ließ glücklicherweise nach – denn selbstverständlich ist es wichtig, dass auch Dozent*innen weiter lernen. Wo, wie und vor allem von wem, ist dabei nebensächlich. Es wäre vielmehr schade, wenn man in eigenen Seminaren nichts von Studierenden lernen würde. Dies stellt in keiner Weise das Potential des Frontalunterrichts, der direkten Wissensvermittlung in Frage. Aber schließlich ist man weder allwissend, noch muss man das sein – ebenso wie die eigenen Themen wahrscheinlich nicht die wichtigsten sind. In Zeiten, in denen die ökologische, politische und gesellschaftliche Entwicklung so unsicher ist, muss es an Universitäten den Raum für Studierende geben, sich mit der Sinnhaftigkeit ihrer beruflichen Zukunft auseinander zu setzen. Sie müssen, angeregt durch Dozierende, die Möglichkeit haben, sich zu bilden.
Hinzu kommt, dass ich persönlich in keinem Seminar einen so großen Output erlebt habe, wie im Forschungskolleg. Das liegt zu einem großen Teil natürlich daran, dass die Studierenden sich mit selbstgewählten Projekten beschäftigen, die für sie persönlich bedeutungsvoll sind und daher das eigene Engagement dementsprechend größer ist. Aber warum denn auch nicht? Warum haben sie während des Studiums nicht viel mehr Raum für Kreativität und selbstständiges Arbeiten? Hier ist der Begriff der Kreativität natürlich nicht auf künstlerisches Arbeiten begrenzt. Bei einer solchen Arbeitsweise kann es vermutlich gar nicht gemütlich genug sein. Für meinen Teil hoffe ich, dass ich mich nicht schämen werde, wenn jetzt um 12:16 Uhr jemand in den Raum tritt und sieht, wie ich gerade mit rotem Kopf einen Hampelmann mache. Denn ein Hampelmann ist eine gute Sache für den Kreislauf, sodass einem die Außenwirkung egal sein sollte.
Um 12:20 Uhr setzte ich mich mit dem Versuch, mein schweres Atmen zu unterdrücken, wieder hin. Ich schaue mich um und denke mir, dass ich genau so hätte lernen wollen: Mit Keksen und räumlicher und zeitlicher Struktur und jemandem, der*die meine Ideen ernst nimmt und mit dem*der man diese gemeinsam (weiter-)entwickelt und ausarbeitet. Ideen, die die eigenen sind und mit denen man sich, wenn es besonders gut läuft, sogar schon beginnt, beruflich zu positionieren.
Während sich meine Atmung normalisiert kommt eine Studentin und bittet um ein kurzes Gespräch. Sie kommt aus dem Ausland, einem sogenannten Drittland. Dort hat sie viel Theater gemacht. Sie möchte über die Position von Frauen in der Kulturszene ihres Landes schreiben. Wir hatten ihr im Kolleg vorgeschlagen, zunächst ihre eigenen Erfahrungen niederzuschreiben. Nun zeigt und erklärt sie mir, was sie bisher geschrieben hat, wie sie vorgegangen ist und weiter vorgehen wird. Es macht Freude, zu sehen, wie ihr durch das Aufschreiben und Reflektieren ihrer Erfahrungen die eigene Leistung immer bewusster wird. Man merkt schließlich oft selbst nicht, was man über die Jahre hinweg geschaffen hat. Vielleicht wird daraus später eine Arbeit, die einen ganz kleinen, weiteren Beitrag für das Verständnis anderer Kulturen, anderer Situationen leistet, vielleicht sogar minimale Veränderungen einleitet. Bevor man anfängt, das große Ganze wissenschaftlich oder künstlerisch zu beschreiben, scheint es wichtig, zu sortieren, wo man selbst steht – besonders in diesem Fall. Denn sicherlich hilft es ihr, in all dem Durcheinander, in dem sie sich in ihrem Land befindet, dass sie sich vergewissert, was sie macht, was sie leistet und warum sie all die Anstrengung auf sich nimmt. Das ist wichtig, um weiter zu machen und gilt nicht nur für sie, sondern für eine Vielzahl der Teilnehmer*innen. Vielleicht gilt das auch für die Dozentinnen.
Nach dem Gespräch schaue ich schnell in meinen Mailaccount. Ich sehe, dass T. geschrieben hat. Sie schrieb, dass sie heute nicht ins Kolleg komme. Sie war bis gestern im Ausland gewesen, um Flüchtlingen zu helfen. Das Ganze hat sie filmisch dokumentiert. Im Kolleg beschäftigte sie sich bereits mit Politik und künstlerischen Interventionen. Ich denke darüber nach, warum ich das nicht auch mache: wirklich bedürftige Menschen unterstützen, statt in der Uni zu sitzen. Klar kann ich nicht so einfach wie Studierende der Uni fernbleiben, um ehrenamtlich ein paar Tage irgendwo mitzuhelfen. Und vielleicht ist das auch gar nicht meine Art. Ich überlege, dass ich aber möchte, dass die Universität ein Raum ist, an welchem Studierende die Freiheit haben, sinnvollen Projekten beizuwohnen, ohne dass ihnen Schaden daraus entsteht. Selbstredend kann die Universität nicht der Ort sein, an welchem jeder nach eigenem Gutdünken tun und lassen kann, was ihm oder ihr beliebt. Da ich aber das Privileg habe, es im Forschungskolleg mit einer relativ kleinen Gruppe zu tun zu haben, kann ich mir von jeder*m Teilnehmer*in ein Bild machen und somit zu einem gewissen Grad einschätzen, wann es, unter anderem auch für die Biographie der Studierenden, wichtiger ist, kurzfristig etwas außerhalb der Universität zu unternehmen. Die Nähe zu den Studierenden gibt mir in der sonst notwendigen Bürokratie des Unibetriebes eine enorme Freiheit. Diese zu nutzen, sehe ich als meine Verantwortung. Denke ich und hoffe, dass ich mir damit das Ganze nicht einfach nur schönrede. Wobei ich durchaus der Überzeugung bin, dass dieser scheinbar laxe Umgang mit der Anwesenheitsregelung nichts mit dem längst überholten Laissez-faire zu tun hat. Vielmehr melden sich die Studierenden immer persönlich ab, wenn sie verhindert sind. Ich habe es kaum erlebt (wie ich es durchaus von anderen Seminaren kenne), dass Studierende aus Bequemlichkeit oder Desinteresse nicht zum Seminar kamen. Immer hatten sie gute Gründe, nicht anwesend zu sein – meist arbeiteten sie außerhalb der Universität an ihren Projekten weiter oder verfolgten andere, in diesem Moment für sie relevantere Vorhaben. Mir scheint es, als ob sich die Studierenden durch die Freiheit im Kolleg verantwortlicher im Umgang mit dem Seminar zeigten. Ich schaue mich im Raum um, schaue mir jede*n einzeln an und frage mich, ob sie das auch so sehen. Ich müsste sie das eigentlich mal fragen … Aber heute ist keine Zeit dazu, denn nun, zwanzig Minuten vor Ende des Seminars, stellt ein Student seine Arbeit vor: Er folgte heimlich fremden Menschen durch Köln und hat so die Stadt anders, neu kennengelernt. Daraus sind Karten entstanden, die verbunden mit Ton und Videoaufzeichnungen die Zuschauer*innen an seinen Spaziergängen teilhaben lassen und auch ihnen einen neuen Blick auf die Stadt ermöglichen. Ich mag die Arbeit unglaublich gerne, wir haben diese Arbeit im Vorfeld aber oft kritisch besprochen – denn fremde Menschen zu verfolgen ist nicht unproblematisch; für beide Seiten. Daher hatten wir Regeln aufgestellt, um das Ganze möglichst komplikationsfrei zu gestalten. Die Arbeit ist sehr gelungen. Ganz komplikationsfrei war sie jedoch nicht. Bei einem ähnlichen Projekt würde ich daher die Regeln noch enger setzten. Das Ergebnis betrachtend bin ich allerdings in diesem Fall froh, das nicht getan zu haben.
Es ist 14 Uhr. Das Seminar ist vorbei. Während des Zusammenpackens fragt eine Studentin, ob das Forschungskolleg im kommenden Semester wieder stattfinden wird.
Nein, leider nicht. Nach sechs Semestern pausieren wir, um uns neu zu sortieren. Aber die Zeichen stehen gut, dass wir im Winter wieder weitermachen. Und sicherlich wird das Forschungskolleg dann wieder ein bisschen anders aussehen. Wie, das wissen wir noch nicht, aber hoffentlich wieder ein wenig besser. Auf jeden Fall soll im Kolleg auch weiterhin der Raum für Unwissenheit auf beiden Seiten da sein. Und es soll weiterhin darum gehen, Fragen zu stellen, gemeinsam zu überlegen und darum, Brötchen zu schmieren. Manchmal sollte man als Dozent*in Dinge tun, für die man scheinbar überqualifiziert ist – damit die Studierenden besser werden. Daher: Hinfort mit der Profilneurose – her mit dem Buttermesser. Ich hoffe Jacques Rancière und Joseph Jacotot hätten es gemocht.