Regelmäßig versuchen wir Menschen die Dinge in Segmente aufzuteilen, um sie zu erfassen; zugleich erfahren wir die Sinnhaftigkeit der Teilsegmente oft aber nur im Blick auf das Ganze. Die Autorinnen des Beitrags „Nicht in Sparten denken. Zum pädagogischen Potential einer spartenverbindenden Projektarbeit zwischen Tanz und Literatur“ lenken ihren spezifischen, biographisch begründeten Blick auf ganze, individuelle Persönlichkeiten, auf jugendliche Schülerinnen und Schüler. Ausgehend von der Kritik der in Schule und Hochschule gängigen Praxis fachspezifischer Abgrenzungen einzelner Genres wird basierend auf unterschiedlichen (fach-) didaktischen Konzepten am Beispiel des in einer 10. Klasse durchgeführten Projektes „Zw-Ei(n)samkeit“ das Potential und die Qualität einer ästhetischer Praxis und Bildung verdeutlicht. Dabei nutzen die Autorinnen in angemessen realistischer Perspektive in Hinblick auf den schulischen Kontext die Eigenarten ihrer gewählten Genres Tanz und Literatur, um über eine entgrenzte Gestaltungsarbeit die Entwicklung individueller Ausdrucks- und Gestaltungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler, die Entfaltung individueller kreativer Potentiale zu ermöglichen.
Weitreichende Handlungs- und Bildungsziele wie diese benötigen vor dem Hintergrund bildungspolitischer Einflussnahme auf schulisches Lernen und Lehren selbstredend gute Begründungen. Der Hinweis auf das Selbstverständnis der zeitgenössischen Kunst, in der durch intermediales Arbeiten neue ästhetische Konzepte und Erscheinungs- sowie Ausdrucksformen hervorgebracht werden, greift hier etwas kurz; zu unterschiedlich sind die Bedingungsgefüge von freier künstlerischer Arbeit und dem Kontext Schule. Der Hinweis auf bereits vorliegende Untersuchungen zu transformatorischen Prozessen fächerübergreifender Projekte, vor allem in den Bereichen Kunst und Musik, ist gewinnbringender. Hier liegen aus den vergangenen Jahrzehnten umfangreiche internationale Forschungen mit unterschiedlichen Ausrichtungen vor (siehe Rittelmeyer 2010). Verena Freytags und Inga Pohlmeiers Beitrag verstehe ich in diesem Kontext als Ablehnung eines technokratischen Erfassens kreativer Leistungen von Schülerinnen und Schülern in einzelnen Fächern mit einer zu pauschal angenommenen Übertragbarkeit auf den ganzen Menschen. Vielmehr ist der Beitrag ein Plädoyer für eine notwendige kritische Analyse und Diskussion didaktisch-methodischer Konzepte in Hinblick auf die Entwicklung übergreifenden individuellen Ausdrucksverhaltens und kreativer Gestaltungsfähigkeit – ein Plädoyer für spartenverbindende Konzepte, über die sich pädagogische Potentiale und Bildungsaufträge mit besonderem Blick auf die persönliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler realisieren lassen, indem sie gerade durch die vielfältigen und „verfransten“ (Adorno 1968) fachspezifischen Wege ganz unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern Zugänge in die Fachkulturen und zu sich selbst eröffnen.
Die Autorinnen sehen im Anschluss an Mollenhauer in der Theorie der ästhetischen Erziehung die notwendige Aufgabe, „die Besonderheiten der verschiedenen »Künste« herauszuarbeiten“ (Mollenhauer 1988: 33). Mit dem Bezug zu Modellen der Ästhetischen Erziehung bzw. der Ästhetischen Bildung nehmen sie eine theoretische Fundierung vor, die in den vergangenen Jahrzehnten in besonderem Maße den pädagogisch-didaktischen Diskurs zur Lehrplangestaltung an Schulen hinsichtlich übergreifender Lernbereiche geprägt hat,(1) und die ebenso in fachdidaktische Konzepte bestimmter Teilbereiche einzelner Fächern, wie eben auch in die Bereiche Literatur und Tanz, eingeflossen ist. Die aktuelle Debatte über die Bedeutung der Kulturellen Bildung und die Handlungsfelder kulturellen Lernens in der Schule könnte an dieser Stelle nahtlos angeschlossen werden; auch hier sind Interdisziplinarität ebenso wie spartenspezifisches Denken im Focus der Diskussionen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob mit Kultureller Bildung lediglich ein neues ‚Label’ für alte Fragestellungen aufgelegt wird, oder ob deren „Konjuktur [ … ] in Theorie und Praxis programmatisch produktive Strukturen mit kreativen Innovationen und Qualitätsentwicklungen“ (Bockhorst, Reinwand & Zacharias 2012: 21) hervorbringen kann.
Freytag & Pohlmeier stützen sich in der Erläuterung und Begründung ihres Projektvorgehens auf von Haselbach (1991) entwickelte Lernbereiche der Ästhetischen Erziehung in Tanz und Bildender Kunst: Lernen aus der Leiberfahrung, Lernen am Kunstwerk und Lernen am Gestaltungsprozess. Die sich hieraus ergebenden Ebenen ästhetischen Lernens, das Wahrnehmen, Gestalten und Verstehen, nutzen sie als Basis für konkrete didaktisch-methodische Entscheidungen in ihrer Projektarbeit. Zudem fußen diese Entscheidungen auf ausgewählten didaktischen Konzepten aus den Bereichen Literatur und Tanz, hier auf „Kreatives Schreiben“ (Böttcher 1999) „Tanz als Teilbereich einer ästhetischen Erziehung“ (Fritsch 1999) sowie „kreative Bewegungserziehung“ (Neuber 2000). Dieses Vorgehen erweist sich als sehr hilfreich, denn zum einen ermöglicht es das Auffinden von fachlichen Gemeinsamkeiten über subjektbezogene Zugänge des Lernens, zum anderen berücksichtigt es aber auch die sparten- bzw. fachspezifische Zugänge. Den Autorinnen gelingt so eine überzeugende Projektarbeit. Ihr Beispiel ruft darüberhinaus zu einem nachhaltigen Diskurs über fachübergreifende Didaktiken auf; Didaktiken, die fachspezifische Besonderheiten ebenso beachten wie allgemein pädagogische Leitideen. Ein solcher Diskurs kann entstehen, wenn fachspezifische und übergreifende Konzepte quasi wie Folien übereinandergelegt werden. Gemeinsamkeiten werden aufgedeckt, Besonderheiten erscheinen in einem anderen Licht. Es kommt zu einer wechselseitigen Verdichtung und Erhellung, einer Win-win-Situation im fachdidaktischen wie interdisziplinären Denken. In der Projektarbeit von Freytag und Pohlmeier zeigt sich solches Denken in der Aufforderung zu unterschiedlichen Handlungsweisen: in der kinästhetischen Wahrnehmung durch Bewegung, in der multisensorischen Vorstellungsbildung über Sprache und in der Wahrnehmung der Modellierung von Bewegung und Sprache; im Gestalten als Weg zwischen Innen- und Außenwelt über das Präsentieren, das Kommunizieren, das Sampeln und das entgrenzte zweckfreie Erproben neuer Möglichkeitsräume zur Entfaltung expressiver individueller Potentiale; im Verstehen ästhetischer Medien und Werke über verschiedene Zugänge, im Betrachten, Kennenlernen, Beschreiben, Einfühlen oder körperlich-sinnlichem Erfahren.
Aus den von den Autorinnen abschließend genannten pädagogischen Potentialen, die sich aus der transdiziplinären Methode der ästhetischen Bildung ergeben, lassen sich drei Bezugsgrößen herauslesen: die Schülerinnen und Schüler in ihren jugendkulturellen Kontexten, die Künste mit ihrer Medienspezifik und die durch Kombination entstehenden, verfremdenden bzw. erneuernden methodischen Verfahren. In Hinblick auf die Schüler/-innen muss dabei meines Erachtens insbesondere berücksichtigt werden, dass ästhetisches Verhalten, Sich-Ausdrücken und Gestalten in seiner Individualität und Prozesshaftigkeit stark vom gesellschaftlichen Kontext und dem, was aktuell als ästhetisch empfunden bzw. gewertet wird abhängig ist.(2) Das heißt auch, dass in der Ästhetischen wie der Kulturellen Bildung der Zugang zu Kunst und Kultur, das Lernen am Kunstwerk, nicht nur an klassischen, sondern auch an zeitgenössischen Werken erfolgen sollte. Die Diskussion, welche Werke in der Schule gelesen, betrachtet, behandelt werden, sollte nicht abbrechen und sich immer wieder dem Zeitgeschehen stellen. Aktuelle Medienspezifik kann neue, besondere didaktisch-methodische Herangehensweisen hervorbringen. Neben den genannten Bezugsgrößen kommt aus meiner Sicht eine weitere wichtige hinzu: die Lehrkräfte. Die Haltung der Lehrerinnen und Lehrer, ihr Selbstverständnis und ihre Fachoffenheit sind in nicht unerheblichem Maße an der Auswahl, der Präsentation und Wirkkraft der Inhalte und Methoden für Schülerinnen und Schüler beteiligt. Neben der (Weiter-)Entwicklung fachübergreifender didaktischer Konzepte bedarf es in unserer heutigen Schullandschaft nach wie vor fachkompetenter, aber auch selbstkritischer und zukunftsorientierter Pädagog/-innen. Denn vernetztes Denken und globales Handeln prägen schon heute den Alltag der heranwachsenden Generation. Interdiziplinäres Lernen und Lehren in der Schule setzt hier an und bleibt dennoch im Dazwischen disziplinär. Es stützt sich auf die spezifischen Knotenpunkte ebenso wie auf die daraus erwachsenden Verbindungen und kann so nachhaltig auf zukünftige Herausforderungen vorbereiten.
(1) So hat sich das Schulfach „Darstellendes Spiel“ mittlerweile in fast allen Bundesländern etabliert.
(2) Siehe auch Reckwitz (2014), nach dem der Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung in besonderem Maße die Entwicklung kreativen Verhalten beeinflusst.
Adorno, Theodor (1968): Die Kunst und die Künste. Frankfurt a. M.
Bockhorst, Hildegard/Reinwand, Vanessa-Isabelle/Zacharias, Wolfgang (Hg.) (2012): Handbuch Kulturelle Bildung. München.
Böttcher, Ingrid (Hg.) (1999): Kreatives Schreiben. Berlin.
Fritsch, Ursula (1999): Ästhetische Erziehung, in: Günzel, Werner/ Laging, Ralf (Hg.).: Neues Taschenbuch des Sportunterrichts. Band 1. Baltmannsweiler. S. 286-296.
Haselbach, Barbara (1991): Tanz und Bildende Kunst. Modelle zur Ästhetischen Erziehung. Stuttgart.
Neuber, Nils (2000): Kreative Bewegungserziehung – Bewegungstheater. Aachen.
Reckwitz, Andreas (2014): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin.
Rittelmeyer, Christian (2010): Warum und wozu Ästhetische Bildung. Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick. Oberhausen.