Der Text bespricht ausgewählte filmische Arbeiten aus verschiedenen Schaffensphasen der Künstlerin Hito Steyerl. Ziel der Untersuchung ist es, festzustellen, inwiefern sich Steyerls medienkritische Haltung mit der Zeit verändert hat und in welcher Form sie einen kritischen Beitrag in der Auseinandersetzung mit der postdigitalen Gesellschaft leistet. Steyerls filmisches Œuvre wurde in drei Phasen unterteilt: Ihrem noch weitgehend durch die Existenz des Internets unbeeinflussten Frühwerk, einer Übergangsphase, in der sich Steyerl bereits punktuell mit der „post-media condition“ befasst und ihren aktuellen Arbeiten, deren zentrales Thema die mediale und inhaltliche Auseinandersetzung mit postdigitalen Medien darstellt. Steyerl produziert in ihren frühen Arbeiten Analogfilme, in denen sie konventionelle Repräsentationsformen von Wissen und Wahrheit untersucht. Mit der ersten digitalen Medienwende in den frühen 00er Jahren erweitert Steyerl den Untersuchungsgegenstand zunehmend auf Formen der Produktion und Verteilung digitaler Bilder. Ihre Video-Installationen der letzten fünf Jahre erörtern die „post-internet“ oder „post-media condition“, indem sie deutlich machen, dass digitale Medien Teil unserer Realität sind, die sie zugleich aktiv gestalten. Steyerl zählt nicht zu den Vorreitern*innen der Post-Internet Kunst, ihre Filme jedoch stellen wertvolle Zeitdokumente in der technischen Entwicklung der letzten 20 Jahre dar, da sie die Medienwende schrittweise – jedoch nicht erzählerisch, sondern appliziert – festhält und reflektiert.
Hito Steyerl (geb. 1966) ist eine der international einflussreichsten zeitgenössischen Künstler*innen weltweit und eine zentrale Protagonistin der Post-Internet Kunst. Kritiker und Kurator Carson Chan formulierte Post-Internet Kunst als künstlerische Praxis, die im Bewusstsein über die Existenz und gesellschaftliche Relevanz des Internets produziert, und vermittelt wird (Chan 2013). Mittels dieser fragmentarischen Begriffsbeschreibung lässt sich Steyerls filmisches und schriftstellerisches Œuvre in drei Phasen unterteilen: Dem noch weitgehend durch die Existenz des Internets unbeeinflussten Frühwerk, einer Übergangsphase, in der sich Steyerl bereits punktuell mit der „post-media condition“ (Quaranta 2013: 199) befasst und ihren aktuellen Arbeiten, deren zentrales Thema die mediale und inhaltliche Auseinandersetzung mit den postdigitalen Medien ist.
Steyerl wurde an der Academy of Visual Arts in Tokio und an der Hochschule für Fernsehen und Film in München zur Filmemacherin ausgebildet. Seit 1985 produzierte sie selbst Filme und arbeitete für verschiedene deutsche und internationale Filmproduktionen, darunter als technische Koordinatorin im Team von Wim Wenders. 2003 erlangte sie den Doktorgrad mit ihrer Dissertation Die Farben der Wahrheit (2008) im Fachbereich Philosophie an der Akademie der Künste in Wien. Sie veröffentlichte bereits zahlreiche medien-theoretische Text im Zusammenhang mit den neuesten technischen Entwicklungen und seit 2010 leitet sie eine Meisterklasse an der Universität der Künste Berlin. Kasper König, Kurator und Initiator zahlreicher internationaler Ausstellungen, wie auch der Skulptur Projekte Münster, an welcher Steyerl 2017 prominent vertreten war, geht davon aus, dass sich ganze Generationen von Künstler*innen an Steyerls theoretischem und praktischen Schaffen orientieren.
Eine Mehrzahl der Vertreter*innen der Post-Internet-Kunst sind sogenannte ,digital-natives’, da sie um 1980 geboren und somit mit dem Einfluss der digitalen Medien und dem Internet aufgewachsen sind. Steyerl hingegen kennt die Realität vor dem World Wide Web und erlebte alle zentralen Ereignisse und Entwicklungen innerhalb des Medienwandels, wie etwa von Web 1.0 zu 2.0, bereits im Erwachsenenalter. Sie wendete sich erst relativ spät der Post-Internet-Kunst zu, für den Film Free Fall (2010) nutzte sie erstmals Methoden der digitalen Filmbearbeitung und Liquity Inc. (2014) ist der erste Film, der im Bewusstsein des Postdigitalen – einem Zustand, den Lev Manovich und Domenico Quaranta als „post-media condition“ bezeichnen – entstand. Auf den ersten Blick erscheinen ihre Post-Internet-Filme ernsthafter und kritischer als die Arbeiten vieler jüngerer Künstler*innen, wie Korakrit Arunanondchai (geb. 1986), Jon Rafman (geb. 1981), Britta Thie (geb. 1988), Ryan Trecartin (geb. 1981) oder Amalia Ulman (geb. 1989). Charakteristische ästhetische Tendenzen der Post-Internet-Kunst lassen sich auch in Steyerls Filmen erkennen, obwohl diese, anders als die meisten ihrer Kolleg*innen, ausschließlich mit Amateurkameras und ohne ein fixes professionelles Team arbeitet.
Steyerls langjährige Beobachtung sowohl der alten als auch der neuen Medien – der Medien vor und nach dem 21. Jahrhundert (Manovich 2009: 320) – sowie ihre Ausbildung zur (Dokumentar-)Filmemacherin und ihre generische Arbeitsweise bieten eine interessante Basis für eine produktive Auseinandersetzung mit der postdigitalen Gesellschaft. Weshalb aber thematisierte Steyerl das Internet erst so spät und was ist der Grund für ihr plötzliches Interesse an den ,neuen Medien’? Anhand der Gegenüberstellung ausgewählter Arbeiten aus verschiedenen Schaffensphasen der Künstlerin möchte ich überlegen, wie sich Steyerls medienkritische Haltung mit der Zeit verändert hat und in welcher Form sie einen kritischen Beitrag in der Auseinandersetzung mit der postdigitalen Gesellschaft leistet.
Der Film November (25 min.), den Steyerl für die Manifesta 5 in San-Sebastián produzierte, markiert Steyerls Eintritt in die zeitgenössische Kunst. Zuvor wurden ihre Filme zumeist im Kontext von (Dokumentar-)Filmfestivals gezeigt und als sie als Vortragende zur documenta 11 (2001) eingeladen wurde, sprach sie über „Dokumentarismen und Dokumentalität“.
November beginnt mit Ausschnitten aus dem ersten Film, den Steyerl als 17-Jährige mit ihren Freund*innen in München produziert hatte. Der Super-8-Amateur-Film (1983) besteht ausschließlich aus Kampfszenen, in denen sich eine Bande junger Frauen gegen junge Männer verteidigt. Steyerl und Andrea Wolf, die damals engste Freundin Steyerls, sind die Protagonistinnen, die in der fiktiven Handlung mit bloßen Händen gegen bewaffnete Männer kämpfen. Fünfzehn Jahre nach Dreh des Films stirbt Andrea als freiwillige Frauenkämpferin der PKK (kurdische Arbeiterpartei) im Unabhängigkeitskrieg der Kurden in der Türkei. Die genauen Hintergründe und Ursachen ihres Todes wurden nie eindeutig aufgeklärt, weder durch die türkische noch die deutsche Regierung. Andreas Körper kehrte nie nach Deutschland zurück, jedoch ihr Gesicht auf einem Propaganda-Plakat der PKK, das Andrea als Märtyrerin verehrt.
Ausschnitte eines Dokumentarfilms werden eingeblendet, worin Andrea ihre pro-kurdischen politischen Interessen äußert. Das Video entstand kurz vor ihrem Tod im kurdischen Gebiet in der Türkei. Der Macher des Films, ein deutsch-kurdischer Dokumentarfilmer, sagt im Interview mit Steyerl: „das erste, das im Krieg verloren geht, ist die Wahrheit.“ Auch hinter den vielen Facetten von Andrea bleibt die Wahrheit verschwommen. Als junge Frau trug sie abstrakte Kämpfe für eine gerechtere Welt aus; es ging um die Gleichstellung von Mann und Frau, die Ablehnung von Waffen und eine Welt, in dem die von allen geteilte Gerechtigkeit siegt. Später kämpft sie als bewaffnete Revolutionärin in einem wirklichen Krieg und selbst nach ihrem Tod wird ihr Abbild, als Bild der Märthyrerin, weiterhin als Propagandawerkzeug eingesetzt. Ihr Tod wurde weder durch die deutsche noch die türkische Regierung je anerkannt, ihr offizieller Status ist – zumindest bis zum Zeitpunkt, an dem November veröffentlicht wurde – der einer im Untergrund lebenden Terroristin.
In November vergleicht Steyerl Andreas Fall mit einer geläufigen Verschwörungstheorie über Bruce Lees Tod. Sein letzter Film sei fünf Jahre nach seinem Tod veröffentlicht worden, erzählt sie. Die Hauptfigur Billy Lo (Bruce Lee) stellt in Mein Letzter Kampf (1978) einen Martial-Arts-Filmstar – wie es Lee in Wirklichkeit war – dar. Billy Lo inszeniert im Film seinen Tod vor der Kamera, um sein Leben als Unbekannter weiterführen zu können. Für die fiktive Beerdigung im Film wurden Aufnahmen der wirklichen Beerdigung Lee’s verwendet und seither denken tausende Menschen, Lee’s Tod sei ebenso eine Fiktion. Die Verschwörungstheoretiker*innen, die Andreas Tod nicht anerkennen, sind jedoch nicht einfach fanatische Fans, sondern Regierungsinstanzen, was das eigentliche Paradox dieses Vergleichs ausmacht.
Die Ideale, die Steyerl und ihre Freundinnen in den frühen 1980er Jahren dazu bewegt hatten, einen fiktiven Amateur-Film zu drehen, wurden zu Zeitdokumenten der Wirklichkeit und schließlich – durch den Staat – erneut fiktionalisiert.
Als Fiktionalisierung des deutschen Staates beschreibt die Erzählerin (Steyerl) auch dessen öffentliche Stellungnahme in Bezug auf den Bürgerkrieg in Kurdistan. Während das Land sich als neutrale Instanz in Bezug auf den Konflikt präsentiere, unterstütze es türkische Truppen mit Waffenlieferungen; und sie seien es gewesen, die Andrea und ihre Genossinnen vergewaltigten, folterten und töteten. Da die Anerkennung dieser Taten die Klärung der Tatwaffen impliziere, müsste sich die Bundesregierung selbst überführen; woraus sich deren Zurückhaltung erschließt.
In November (ähnlich arbeitet Steyerl auch im Film Lovely Andrea (2007)) vermischt Steyerl Strategien der Wahrheitsproduktion im Dokumentarfilm mit der Symbolsprache der Fiktion und legt so eine dialektische Auseinandersetzung mit konventionellen Formen der Repräsentation von Fiktion und Realität an. Zudem steht das Bild Andreas paradigmatisch für die Problematisierung der Macht der Bilder: Ihre Figur im Jugendfilm ist, ebenso wie ihr Bild der Märtyrerin, das nach ihrem Tod zirkulierte, eine Fiktionalisierung.
Rancière erkennt den Unterschied zwischen Dokumentation und Fiktion nicht darin, dass eine Dokumentation das Reale oder die Wahrheit wiedergebe und eine Fiktion Erfundenes, sondern in der Form (vgl. Rancière 2014: 233); die zentralen formalen Mittel des Dokumentarfilms seien eine einheitliche Erzählperspektive und ein ausgewogenes Zusammenspiel von Montage (Bild) und Text (Fakten). Die Ambiguität der Erzählperspektive Steyerls in November ist ein Indiz für das Abweichen des Films von zentralen formalen Mitteln zur „imaginären Produktion von Glaubwürdigkeit und Authentizität“ im Dokumentarischen (Rancière 2014: 233).
Die Erzählstimme (Steyerl) spricht an einer Stelle des Films über die Reproduktionsmedien, die wahrscheinlich dazu verwendet wurden, die Fotografie der Freundin und ihr Bild der Märtyrerin in Deutschland und der Türkei zu verbreiten. Sie nennt Printmedien, Video und das Internet als die wichtigsten Distributionsträger. Ihre Recherchemethoden und die Medien, mit denen sie in November arbeitet, machen jedoch nicht deutlich, dass das Internet für die Produktion des Films von zentraler Bedeutung war.
Die Lecture-Performance Is the Museum a Battlefield? – eine verkürzte filmische Dokumentation (37 min.) ist über Vimeo frei verfügbar – steht am Scheitelpunkt der Künstlerin auf den Weg zur Post-Internet-Kunst. Im Zentrum der Performance liegt die Idee, dass das Kunstmuseum historisch, kulturell und finanziell untrennbar mit Kriegen, dem internationalen Militarismus und der Waffenindustrie verbunden ist. Eine visuelle Präsentation, die hauptsächlich aus Filmmaterial besteht, begleitet Steyerls Vortrag. Sie mischt Quellen aus ihrer Internetrecherche mit Inhalten aus Hollywoodfilmen und Informationen, die als historische Fakten gelten, um ihre Thesen zu stützen. Während die medienkritische Qualität in November sich auch darin auszeichnet, dass Steyerl zwischen der professionellen und privaten Erzählperspektive wechselt, hält sie in Is the Museum a Battlefield? durchgehend eine distanzierte Perspektive zum Inhaltlichen ein.
Die Vortragende stellt Informationen aus unterschiedlichen Kontexten, die teils als Fakten und teils als Fiktionalisierungen deklariert werden, ihren subjektiven Annahmen entgegen. Teilweise eröffnen sich den Zuschauer*innen interessante Zusammenhänge, wie etwa die Relation zwischen Sponsorengeldern für Kunst und deren Herkunft, die oftmals in der Waffenindustrie liegen. Hal Foster hatte Steyerls Filme November und Lovely Andrea als besondere Form der kunstkritischen Praxis gewertet, in der eine verdeckte Wahrheit („occluded reality“) offengelegt werde (Foster 2017: 170), ohne selbst Wahrheit zu produzieren. Die Performance hingegen wirkt konstruiert, als habe sich die Dekonstruktion vorhandener Methoden der Wahrheitskonstruktion aus Steyerls früheren Arbeiten teilweise aufgelöst und sei stattdessen durch eine weitere unkonventionelle Methode amplifiziert worden.
Die Bild-Präsentation lässt einen dynamischeren Wechsel des unterschiedlichen Bildmaterials erkennen, und auch die Palette an Informationen scheint sich gegenüber der Verwendung von Bildern und Inhalten in ihren frühen Filmen erweitert zu haben. Anders als in Filmen wie November oder Lovely Andrea, in denen die Produzentin fast ausschließlich als Erzählstimme und nur selten visuell auftritt, ist die Kamera in Is the Museum a Battlefield? permanent auf sie gerichtet, und ihr Körper nimmt meist einen Großteil des Bildraums ein. In der Performance werden, wie in älteren Filmen, konventionelle Formen der Dokumentation inszeniert und analysiert, hinzu kommt jedoch die Aneignung ,neuer Medien‘ in der Repräsentation von Wissen.
Die Performance scheint einige der neuen Möglichkeiten in der Produktion und Verteilung von Informationen im Web 2.0 widerzuspiegeln. Viele Medientheoretiker*innen datieren die Wende des ersten öffentlich zugänglichen World Wide Webs (Web 1.0) zum ,Web 2.0’ auf einen Zeitraum zwischen 2003 und 2005 (vgl. O’Reilly 2004). Lev Manovich beschreibt diese Form des Internets als „neues Universum“, das nicht mehr bloß als Weiterentwicklung der Medien des 20. Jahrhunderts zu verstehen sei; die „Medien“ seien zu „sozialen Medien“ geworden (Manovich 2009: 319). Innerhalb des Web 2.0 – das offiziell bis heute existiert – etablierten sich nicht nur zunehmende partizipative Plattformen, sondern auch der Anteil der aktiven Produzent*innen gegenüber der Menge an Nutzer*innen habe sich deutlich vergrößert (ebd.: 320). Das Internet, das zuvor eine Publikationsplattform gewesen sei, wandelte sich seit den 2000er-Jahren in die vielseitigste Kommunikationsplattform, zu deren Mitteln nicht nur E-mails und Chats zählten, sondern auch Kommentar- und Bewertungsfunktionen, Posts, Abstimmungen, Links, Fotos, Videos und weitere (ebd.).
Anstatt selbst neue Bilder zu erzeugen, verwendet Steyerl in Is the Museum a Battlefield? größtenteils vorgefundenes Material aus dem Internet für die Präsentation ihres Vortrags. Diese Praxis, die eher als kuratorische denn als – im Sinne klassischer Werkbegiffe – kreatorielle Praxis bezeichnet werden kann, wird zu dieser Zeit bereits von privaten und professionellen Internetnutzer*innen auf digitalen Plattformen in großem Umfang betrieben. Somit spielt die Vortragende auf eine Verschiebung von Internetnutzer*innen hin zu Produzent*innen an.
Steyerl entfernt sich nicht nur medial von den Produktionsmethoden des Dokumentarfilms, auch formal verändert sie ihre Strategie im Zusammenspiel von Text und Bild. Während sie den Bild-Inhalt weitgehend nicht selbst produziert hat, wird ihre Stimme, und somit die der Produzentin, lauter als in früheren Arbeiten, was als eine Kritik an den Methoden der Aneignung von Informationen und Bildern aus dem Internet verstanden werden kann. Denn mit der ‚Demokratisierung‘ im Internet, dem vereinfachten Zugriff auf Informationen und der Herstellung von Inhalten, wird das Verbreiten von falschen Wahrheiten sowie die ökonomische und politische Instrumentalisierung digitaler Netzwerke zu einer ernstzunehmenden Gefahr.
Bereits in November hatte Steyerl Bildmaterial aus unterschiedlichen Quellen verwendet, in Is the Museum a Battlefield? jedoch ist die Zusammenstellung des Materials inhaltlich noch ambivalenter und insgesamt umfangreicher. In 2009 hatte Steyerl den Artikel In Defense of the Poor Image auf e-flux veröffentlicht. Der Text bespricht, wie sich die Bedeutung des Bildes durch die digitalen Medien verändert habe. Sobald Bilder in Form digitaler Daten im World Wide Web zirkulierten, seien diese losgelöst von ihrer Urheberschaft und ihrem ursprünglichen Kontext entrissen. Zudem könnte sich jeder eines Bildes im Internet ermächtigen, dieses verändern, in einem neuen Kontext präsentieren oder als visuellen Beleg einer neuen konstruierten Wahrheit verwenden. Diese digitalen Bilder, die im Internet durch viele Hände gereicht und unzählige Male kopiert oder mutmaßlich verändert worden sind, haben meist auch an ihrer ursprünglichen Qualität verloren, weshalb Steyerl für diese den Begriff „Poor Images“ einführt.
Während das medienkritische Potential von In Defense of the Poor Image bereits kurz nach der Veröffentlichung zahlreiche Künstler*innen und Medientheoretiker*innen beeinflusst hat, beschäftigt sich Steyerl erst einige Jahre später auch in ihrer künstlerischen Praxis mit der Problematik des „Poor Image“. In Is the Museum a Battlefield? werden die Auswirkungen der digitalen Verteilung und vermehrten Reproduktion von Bildern deutlich. Steyerl kombiniert Bild- und Filmmaterial aus dem Internet mit qualitativ minderwertigen Raubkopien alter Filme, um diese Entwicklung zu veranschaulichen.
Is the Museum a Battlefield? verhandelt bereits, wie sich mit den neuen Medien und der digitalen Vernetzung weitere Methoden – die nun zusätzlich zu früheren Formen der Verbreitung von Bildern und Wissen existieren – etablieren. Eine tiefere Auseinandersetzung mit der Bedeutung dieser technischen Entwicklungen für die Gesellschaft findet allerdings erst in späteren Arbeiten statt.
Die Filminstallation Factory of the Sun (23 min.), die erstmals 2015 im deutschen Pavillon der 56. Venedig Biennale ausgestellt wurde, gehört zu den international meist beachteten Werken der Künstlerin. Factory of the Sun schreibt sich einer aufwendigen Licht-Installation ein, die die historische Architektur des Pavillons in eine kühle, technik-gesteuerte Zukunftswelt verwandelt. Der Raum imitiert die Computer-Ansicht eines Motion Capture-Studios und ein Raster aus grellen, hellblauen Lichtstreifen benetzt die Oberflächen des Raums. In einem Motion Capture-Studio werden menschliche Bewegungsabläufe aufgezeichnet und in Daten übersetzt. Diese Daten werden zur Entwicklung von digitalen Menschen- und Figurendarstellungen in Videospielen sowie Spiel- und Werbefilmen verwendet. Zudem stellen diese Studios für die Wissenschaft wie die Medizintechnik, Prothetik, Industrietechnik und das Roboting ein essentielles Forschungsmittel dar. Die Ansicht der Installation ist allerdings nicht jene, welche beim Betreten eines realen Motion Picture-Studios zu erwarten ist, sondern jenes dreidimensionale Raster, das bei der Aufzeichnung im Motion Capturing auf dem Bildschirm des Computers zu sehen ist. Die Übertragung einer Raumästhetik, die in der Wirklichkeit ausschließlich im Digitalen existiert, auf den physischen Raum des Pavillons wirkt als Metapher für die Ausweitung digitaler Infrastrukturen und deren Einflussnahme auf die physische Wirklichkeit. Die Zuschauer*innen halten sich virtuell innerhalb eines Computerprogramms auf, das dazu konzipiert wurde, durch die Aufzeichnung ihrer Bewegungen selbst menschliche Bewegungsabläufe zu imitieren und herzustellen.
Der Titel der Arbeit leitet sich von der ontologischen Bedeutung digitaler Bilder ab, die wie digitale Daten im Allgemeinen in Form kodierter Lichtimpulse über Glasfaserkabel zirkulieren. Der Titel offenbart zudem Steyerls Interesse an wissenschaftlichen Mediendiskursen, der sich aus Donna Haraways berühmtem Text A Cyborg Manifesto (1985), in dem die Autorin die Materialität von Maschinen als Sonnenlicht bezeichnet, herleitet (Haraway 2016: 13). In ihrem Film, der auf dem gleichnamigen fiktiven Computerspiel basiert, welches die Hauptfiguren des Films spielen, setzt Steyerl Licht – als die Quelle von Maschinen, Technik und Fortschritt – mit Sonnenlicht fest.
Im Spiel Factory of the Sun sei es möglich, durch das Tanzen einstudierter Choreographien Licht zu erzeugen, wie eine männliche Figur behauptet, die für das Spiel wirbt. Ein Tänzer im goldenen Latexanzug taucht immer wieder auf und bewegt sich zu Technomusik. Der Tänzer wird von einem doktorierten Physiker, der zugleich durch Tanzvideos auf Youtube bekannt geworden ist, gespielt. Die Bewegungen stammen teilweise aus den Videos seines Youtube-Kanals und erinnern an die Technoscene und an Break Dance.
Zeichentrickfiguren im Stil japanischer Mangas treten ins Bild und nehmen die Choreographie des Tänzers auf. Weitere Anime-Zeichentrickfiguren treten hinzu und tanzen synchron mit, bis eine große Menge an Mangafiguren im Gleichschritt tanzt, noch immer angeführt von dem Mann im Latexkostüm. Die Tanzschritte wirken automatisiert; mit starrer Miene führen die Figuren in militärisch penibler Aufstellung dieselben Bewegungen aus, als handle es sich um eine tanzende Militäreinheit bestehend aus Robotern. Mit den tanzenden Mangafiguren bedient sich Steyerl einem Internetphänomen, den Anime Music Videos. Manovich beschrieb die Anime Music Videos bereits 2009 als einen wichtigen Kult innerhalb der neuen Medien (des Web. 2.0): Sie würden hauptsächlich durch Anime-Fans produziert, die Ausschnitte aus Anime-Zeichentrickfilmen mit Popmusik unterlegen, teilweise werde auch Bild-Material aus Computerspielen verwendet (Manovich 2009: 322). Die Anime Music Videos-Kultur stehe paradigmatisch für die Wende vom Internet als Medium der „mass consumption“ (Web 1.0) zum Ort der „mass cultural production“ (Web 2.0). Zudem sei es interessant, dass sich die Produzent*innen dieser Videos nicht als seine Schöpfer*innen, sondern vielmehr einzig als Herausgeber*innen („editor“) betrachten (Manovich 2009: 319/322).
Durch das Kopieren zentraler Phänomene und Hypes aus dem Internet greift Steyerl nicht nur vorhandene Produktionsprozesse, sondern auch formale Strukturen und Distributionsformen des Internets auf.
In Filmen aus ihrem Frühwerk dechiffriert Steyerl konventionelle Methoden der Wissensproduktion im Dokumentarfilm. In Is the Museum a Battlefield? analysiert sie verschiedene Repräsentationsformen der Wahrheit, denen sie bereits digitale Bilder als weiteren Gegenstand für ihre kritische Auseinandersetzung hinzufügt. In Factory of the Sun jedoch hat sich der Gegenstand ihrer Betrachtung von Medien des 20. Jahrhunderts zu den Medien des 21. Jahrhunderts verlagert und das Web 2.0 wird zum Hauptgegenstand ihrer Untersuchung. In Factory of the Sun thematisiert Steyerl nicht primär, wie Wissen und Wahrheit im Internet produziert wird, was vermutlich auch daran liegt, dass es schwierig ist, diese weitgehend neue Entwicklung zu analysieren. Sie macht jedoch deutlich, dass sie die neuen, anders als die alten, Medien nicht nur als Räume der Präsentation, sondern auch der Produktion betrachtet. Das eigentlich neue am Internet ist, dass es sich nicht alleine wie herkömmliche Medien in die physische Realität einschreibt, und diese teils repräsentiert, reflektiert etc., sondern zudem einen Ort bzw. viele Orte darstellt, an denen neue Realitäten entstehen.
Auch wenn diese Arbeit erst wenige Jahre alt ist, wirkt sie heute in Bezug auf die ästhetischen Referenzen zu Internetplattformen und Filmen bereits veraltet, da sich die digitalen Medien seither rapide weiterentwickelt haben. Dieser rasche ästhetische Anachronismus ist einerseits in der Schnelllebigkeit von Internettrends und andererseits in der Arbeitsweise der Filmemacherin begründet. Steyerl wurde mit analogen Kameras ausgebildet und anders als viele ihrer Post-Internet-Kolleg*innen arbeitet sie mit digitalen Amateurkameras. Den Umgang mit diesen digitalen Kameras und Herstellungsprogrammen eignete sich Steyerl vorwiegend selbst an. Diese autonome Arbeitsweise habe sie sich als junge Filmemacherin aus der Notwendigkeit ihrer knappen Budgets angeeignet (Lütticken 2014: 59) und später trotz erfolgreichen Karriere beibehalten.
Steyerls Produktionsweise ist interessant, weil sich darin einerseits die Grundbedingung der neuen Medien widerspiegelt, nach der jede*r Inhalt produzieren könne und andererseits weist diese generische, vereinfachte Form der Produktion einen schnelleren Alterungsprozess als aufwendiger produzierte Inhalte auf. Denn die Qualität der Medien erneuert sich ständig. Eine Entwicklung, die nicht allein auf die technische Qualität von frühen Digitalfilmen zurückzuführen ist, sondern auch damit zu tun hat, dass sich nicht nur die Filme, sondern auch die Reproduktionsträger verbessert, bzw. vergrößert haben, wodurch Bilder, die sich aus weniger Pixeln zusammensetzten, deutlich unschärfer wirken, oder deren Farbqualität nachlässt. Dieses Phänomen wird beispielsweise deutlich, wenn wir an die ersten kommerziellen Filme denken, für die digitales Filmmaterial (Computer Generated Imagery) mitverwendet wurde, wie etwa bei Jurassic Park (1993) oder der digital überarbeiteten Version von Krieg der Sterne – Das Imperium schlägt zurück (1997) sowie bei späteren Teilen dieser Filmreihen, die jeweils zu dieser Zeit mit neuesten – nun veralteten – technischen Mitteln produziert worden waren, zutrifft. Gleichsam wie digitale Filme oft nur nach wenigen Jahren veraltet wirken, erscheint vielen die Bildästhetik von analogen Hitchcock-Filmen zeitlos. Diese fortwährende ästhetische Aktualität liegt einerseits an Alfred Hitchcocks Perfektionierung im Umgang mit den technischen Geräten sowie der Tatsache, dass sich die analoge Kinokamera seit den 1930er Jahren bis zur Digitalisierung des Kinos nicht mehr radikal verändert hat. Zudem ist die streng durchdachte Auswahl der Kader und deren Bildkompositionen in das ästhetische Bewusstsein der Zuschauer*innen eingeflossen, was nicht auf die Rezeption seiner Klassiker selbst, sondern vielmehr auf deren Einflussnahme auf sämtliche Medien, die weit über das Kino hinausgehen, wie dem Fernsehen, der Werbung, der Kunst und Mode, zurückzuführen ist.
Factory of the Sun macht deutlich, dass das neue Medium des digitalen Films, die Digitalisierung der Bilder und benutzerfreundlichere Programme zwar eine höhere Quantität an Material hervorbringen, jedoch auch eine veränderte und in vielen Fällen auch verschlechterte Qualität von Bildern und Filmen bedeuten (vgl. Bridle 2018: 245). Einige andere Post-Internet Künstler*innen, die Filme produzieren, lehnen diese stärker an kinematische Ästhetiken des klassischen Kinos an und schaffen zudem inhaltlich ähnlich wie kommerzielle Filme und Serienproduktionen eine diegetisch erfahrbare Welt. Filmkünstler*innen wie Cécile B. Evans und das Designkollektiv Metahaven bedienen sich in ihren neuesten Arbeiten deutlich den generischen Ausdrucksmitteln des Kinos und anderer Unterhaltungsformate aus dem Internet und Fernsehen. Evans’ und Metahavens Filme reflektieren jedoch die medienästhetischen Bedingungen der neuen Medien weniger deutlich als Steyerl in Factory of the Sun oder Liquidity Inc. (2014).
Die Ästhetik der Installation Factory of the Sun distanziert sich klar von generischen Ausstellungsräumen. Der dunkle Raum wird einzig durch das Flimmern des Films und die blaue Rasterstruktur beleuchtet und strahlt kühle und Unnahbarkeit aus. Sonnenstühle bieten die einzige Sitzgelegenheit und wirken in dieser ungemütlichen Atmosphäre wie ironische Kommentare. Ähnlich ironisch scheinen viele Referenzen auf YouTube-Trends, wie Anime Music Videos, Ego-Shooterspiele und andere Bewegungen und Trends im Internet.
Bereits bei der Betrachtung von Is the Museum a Battlefield? fiel auf, dass die Künstlerin keine klare medienkritische Perspektive wie in November vertrat. In der Performance und in The Factory of the Sun werden jeweils vielmehr die Möglichkeiten der verwendeten Medien ausgeschöpft und neue visuelle Effekte erzeugt. Es scheint als stünde die ästhetische Erscheinung dieser konstruierten Bilder gegenüber der Knüpfung neuer Sinnzusammenhänge im Vordergrund. In der Post-Internet Kunst fällt die Fokusierung auf bestimmte neuartige Bildästhetiken sowie die Vernachlässigung des Sinngehalts als allgemeine Tendenz in der Arbeit vieler Künstler*innen, auf. Während November zu erkennen gibt, dass Steyerl sich bereits seit vielen Jahren eingehend mit dem Medium Dokumentation befasst hat und somit eine klare Meinung in ihrer methodischen Auseinandersetzung über dieses Medium zu vertreten scheint, wirken ihre neueren Arbeiten experimenteller. Einerseits wird in Factory of the Sun deutlich, dass Steyerl sehr an den medialen Möglichkeiten dieses ,neuen Universums’ interessiert ist, andererseits ist unklar, wie sie selbst zu dieser Entwicklung steht. Factory of the Sun ist weniger als Medienkritik zu verstehen denn als kritischer Kommentar über den Standpunkt der neuen Medien zu dieser Zeit.
In den filmischen Arbeiten The Tower (2015), ExtraSpaceCraft (2016) und HELLYEAHWEFUCKDIE (2016) erweitert Steyerl den Gegenstand ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. In The Tower und ExtraSpaceCraft untersucht sie Videospiele und Kriegssimulationen und HELLYEAHWEFUCKDIE beschäftigt sich mit der Bedeutung der Künstlichen Intelligenz sowie Robotern und Maschinen. Während Steyerl in Factory of the Sun keine klare moralische Linie wie in den Filmen aus ihrem Frühwerk etabliert, fungieren die neusten Filme allerdings auch nicht mehr bloß als Kommentar über die ,neuen Medien’. In The Tower werden Parallelen zu Softwareprogrammen gezogen, die virtuelle Kriegsschauplätze entwickeln, die sowohl in der Gamingindustrie als auch für militärische Ausbildungszwecke verwendet werden. Der Film macht deutlich, dass der Übergang zwischen digitalen Assimilationen von Kriegssituationen in Computerspielen und der physischen Wirklichkeit von Kriegen fließend ist. Steyerls Zugang lässt erkennen, dass sie wie die Zuschauer*innen in einem schwierigen Verhältnis zu den Inhalten ihres Films steht. Einerseits erscheint die Doppelfunktion dieser Softwareprogramme erschreckend, andererseits könnte es als hypokritisch aufgefasst werden, …
Steyerl begann sich erst ab 2010 für das Internet zu interessieren, obwohl viele ihrer Kolleg*innen wie Seth Price, Jon Rafman oder Ryan Trecartin bereits seit vielen Jahren Kunst produzierten, die sich mit den ,neuen Medien’ beschäftigte. Es scheint, als habe sich die Künstlerin erst, nachdem sie sich über ihre eigene Rolle als Nutzer*in bewusster geworden war, dazu entschieden, sich kritisch mit dem Internet und den Entwicklungen in Zusammenhang mit digitalen Medien auseinanderzusetzen. Im Vergleich zu frühen Post-Internet-Filmen von Trecartin, der in seinen absurdistischen Serien neue Formen der Identitätskonstruktion auf Social Media-Plattformen persifliert, wirken die Medienanalysen Steyerls fundierter. Gerade aufgrund der Tatsache, dass die Produktion von Inhalten und Meinungen im Internet mehr Menschen zugänglich geworden ist, erscheinen Instanzen wie Steyerl, die sich qualitativ mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der digitalen Medien auseinandersetzen, wichtiger als je zuvor.
Bridle, James (2018): New Dark Age. Technology and the End of the Future. London/ New York: Verso.
Foster, Hal (2017): Real Fictions. Alternatives to Alternative Facts. Artforum 55 (8): S. 166-175.
Haraway, Donna (2016 [1985]): A Cyborg Manifesto. Chicago: University of Minnesota Press.
Jameson, Jameson (1990): Signatures of the Visible. London: Routledge.
Manovich, Lev (2009): The Practice of Everyday (Media) Life: From Mass Consumption to Mass Cultural Production?. Critical Inquiry (35/2): S. 319-331.
O’Reilly, Tim (2015): What is Web 2.0. Online: https://www.oreilly.com/pub/a/web2/archive/what-is-web-20.html [12.01.2019]
Rancière, Jacques (2014): Dokumentarische Fiktion. Marker und die Fiktion des Erinnerns. In: Rancière, Jacques: Die Filmfabel. Berlin: b_books.
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Steyerl, Hito (2015): Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld. Wien & Berlin: Verlag Turia + Kant.
Quaranta, Domenico (2013): Beyond New Media Art. Brescia: LINK Editions.
Hito Steyerl, November, 2004, super 8 video, 25 min.
Hito Steyerl, Lovely Andrea, 2007, super 8 Video, 30 min.
Hito Steyerl, Free Fall, 2010, HD video, 32 min.
Hito Steyerl, Liquity Inc., 2014, HD Video, 30 min.
Hito Steyerl, Is the Museum a Battlefield?, 2013, Lecture-Performance 2013, 37 min.
Hito Steyerl, The Tower, 2015, HD Video, 8min.
Hito Steyerl, ExtraSpaceCraft, 2016, HD Video, 12:30 min.
Hito Steyerl, HELLYEAHWEFUCKDIE, 2016, HD Video, 4 min.