TikTok ist eine erfolgreiche Social-Media-Plattform für videobasierte Mikroformate, welche zunehmend auch für das informelle Lernen genutzt wird. Auf Basis einer Beschreibung der funktionalen Besonderheiten sowie erfolgreicher Genres auf TikTok werden Performanzvideos, Tutorials sowie Erklärvideos in ihrer Rezeption sowie als Mittel der Anregung zum eigenen Lernen analysiert. In Bezug auf ein lern- und bildungsbezogenes Potenzial der Plattform werden die Gestaltungsformate, die didaktische und inhaltliche Qualität sowie die Filterstrategien auf TikTok kritisch untersucht. Insgesamt scheinen die Mikroformate auf TikTok das Angebot von Kurzformaten auf YouTube zu ergänzen bzw. zu erweitern.
Bewegtbildformate erfreuen sich bei Jugendlichen einer großen Beliebtheit. So war YouTube im Jahr 2019 für 63 % der befragten Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren in Deutschland mit weitem Abstand der beliebteste Internetdienst. 90 % der Jugendlichen schauten regelmäßig Videos auf YouTube (MPFS 2020). Eine verhältnismäßig junge, videozentrierte Social-Media-Plattform mit einem enormen Wachstum ist TikTok. Ursprünglich unter dem Namen musical.ly 2014 veröffentlicht, war der Dienst zunächst für die Erstellung von eigenen kurzen Video-Full-Playbacks zu Liedern oder Originaldialogen aus Filmen gedacht, welche dann auf der Plattform veröffentlicht werden konnten[1]. Die Kombination aus einem kuratierten Angebot von Soundschnipseln und der einfachen, aber vielfältigen Möglichkeit zur Videoproduktion machte die App schnell erfolgreich. 2017 wurde musical.ly von dem chinesischen Medienunternehmen ByteDance aufgekauft und im August 2018 mit der eigenen, bereits 2017 außerhalb von China veröffentlichten App TikTok zusammengeführt (Kaye et al. 2020). ByteDance betreibt in China seit 2016 eine speziell an den chinesischen Markt angepasste Version von TikTok namens Douyin. Laut Mitte 2020 von TikTok veröffentlichten Daten hat die App 700 Mio. Benutzer*innen (Sherman 2020) – davon 100 Millionen in Europa (Waterworth 2020) – welche die App mindestens einmal im Monat nutzten. Laut der JIM-Studie 2019 nutzten im Befragungszeitraum 14 % der deutschen Jugendlichen täglich/ mehrmals pro Woche TikTok (2018: 9 %), damit lag die Plattform nur noch hinter WhatsApp (95 %), Instagram (67 %), Snapchat (54 %) und Facebook (15 %) (MPFS 2018, S. 23; MPFS 2020, S. 30). Bei den unter 16-Jährigen wurde TikTok 2019 bereits häufiger als Facebook genutzt (MPFS 2020, S. 32). In Deutschland war TikTok Anfang 2020 nach WhatsApp die meist geladene Social Media App (Johnson 2020a, b).
TikTok wird allerdings nicht nur von Jugendlichen genutzt. In den USA waren Mitte 2020 bereits ca. 2/3 der Benutzer*innen mit Android Smartphones älter als 19 Jahre (Clement 2020). TikTok ist somit die erste globale Social-Media-Plattform, die nicht von einem US-amerikanischen, sondern von einem chinesischen Unternehmen betrieben wird (Zhang 2020).
TikTok nutzt, ähnlich wie andere auf das Smartphone zentrierte „mobile first“ Dienste (z. B. Instagram oder SnapChat), Videos im Hochformat, welche – passend zum mobilen Nutzungskontext – auf eine kurze Laufzeit beschränkt sind (15 Sekunden bzw. max. 60 Sekunden). TikTok macht es dabei nicht nur sehr einfach, eigene Videos aufzunehmen und zu bearbeiten, sondern erlaubt es, eine bereits existierende Audioaufnahme wie z. B. einen Song, einen Dialogausschnitt oder das Audio eines anderen TikTok-Videos für das eigene Video zu nutzen. Der jeweilige Sound eines Videos kann per Klick rechts unten auf einen kleinen Plattenteller ausgewählt werden, um weitere Videos mit demselben Sound anzuzeigen bzw. zu seiner eigenen Sammlung hinzuzufügen. So kann z. B. zu einem bestimmten Song getanzt, ein witziger Dialog lippensynchron gespielt oder zum Sprechtext im eigenen Video mitgemacht werden. Gerade diese Funktion hat dazu geführt, dass es typische Sounds für ähnliche Arten von Videos gibt. So listete TikTok im Oktober 2020 z. B. zu dem Songschnipsel „rawston_“ ca. Videos auf (sowie viele weitere mit Varianten dieses Soundschnipsels), in denen überwiegend zunächst langsam (passend zur Musik) ein Tanzschritt (häufig Shuffle-Variationen) vorgemacht und dann, sobald der Beat einsetzt, in Originalgeschwindigkeit getanzt wird (Beispielvideo Glide Tutorial: James 2020). Andere virale Songs wie B. „Lalala“ von Y2K & bbno$ werden dagegen für alle möglichen Themen auf TikTok eingesetzt, insbesondere wenn etwas besonders „cool“ oder „episch“ erscheinen soll (Beispielvideo Wall Climb Performance: Vivian 2019). TikTok hat sich seit 2019 zur wichtigsten Plattform für „Music discovery“ für Newcomer-Songs wie „Old Town Road“ von Lil Nas X entwickelt. Auch etablierte Stars nutzen deshalb mittlerweile TikTok. So forderte z. B. Drake mit dem Hashtag #toosieslidechallenge zu seinem Song „Toosie Slide“ zum Mittanzen auf. Bis Oktober 2020 erfolgten ca. 1 Milliarde Aufrufe von Videos zu der Tag-Challenge (TikTok-Compilation: Tik Tok It 2020).
Die Entdeckung sowie virale Verbreitung von Trends sowie von Musikstücken wird somit stark befördert. In TikTok wird – unter stark kuratierter Aufsicht (TikTok 2020a) bis hin zur Zensur (Reuter & Köver 2019) – ein endloser Strom personalisierter Kurzvideos beim Öffnen der App angeboten. Per Wischen nach oben gelangt man zum nächsten Video, gelikt und abonniert wird ebenso schnell durch einen Tap, per Wischen nach links können weitere Videos der Produzent*innen bequem angeschaut werden. Zu den Videos können Tags angegeben werden, auf die man zur weiteren Suche klicken kann. Neben Kommentarfunktionen und Favoritensammlung gibt es vielfältige Möglichkeiten des Teilens nicht nur an andere TikTok-User*innen, sondern auch in alle anderen relevanten sozialen Netze oder per Messenger. Je nach Einstellung durch die Produzent*innen kann man das Video auch herunterladen. Zu jedem Video kann man auf einfache Weise Reaktionsvideos aufnehmen.
Der integrierte Videoeditor von TikTok unterstützt eine Vielzahl von Gestaltungsformaten von einfachen One-Shot-Videos, z. B. bei Dance Challenges, bis hin zu aufwendigen Produktionen mit schnellen Schnittfolgen, Filtern, zeitlicher Beschleunigung, Verlangsamung oder Betitelungen[2]. Die Schwelle zum eigenen Erstellen und ggf. Posten von eigenen Videos wird durch die „Mitmach“-Funktionen von TikTok, die umfangreiche Sound-Bibliothek, die Kürze der Videos sowie die Einfachheit der Videoproduktion im Vergleich zu YouTube gesenkt, sodass TikTok-Nutzer*innen tendenziell mehr Videos selbst produzieren als YouTube-Nutzer*innen (Guinaudeau et al. 2020).
Die Beschränkung auf das zeitliche Mikroformat von 15 bzw. 60 Sekunden trägt dabei zur Attraktivität des Dienstes bei. Verbunden mit einem „Endless Scroll“-Design und einem gut durchmischten Videoangebot ist die Nutzung stets kurzweilig und unterhaltend. Allerdings ist das Mikroformat zwar zunächst niedrigschwellig für die Eigenproduktion, es erzeugt aber auch gleichzeitig einen hohen Anspruch für die Produzierenden. Videos auf TikTok müssen in kürzester Zeit das Interesse der Rezipient*innen fesseln, da sie sonst weggewischt werden. Erfolgreiche Videos für TikTok zu erstellen, ist somit auf der einen Seite leicht – weil man nur wenige Sekunden Videomaterial erstellen muss, auf der anderen Seite auch schwer – da der Unterhaltungswert sehr hoch sein muss.
Als ein weiterer zentraler Erfolgsfaktor neben dem oben beschriebenen viralen Grundkonzept der Anwendung sowie den kapitalintensiven Marketing- und Content-Kampagnen zur Verbreiterung der Zielgruppe in internationalen Schlüsselmärkten (Fannin 2019) wird der proprietäre Empfehlungsalgorithmus von TikTok angesehen (Guinaudeau et al. 2020; TikTok 2020b). Nur durch eine schnelle individuelle Adaption an den Geschmack und die Interesen der Nutzer*innen erzeugt TikTok die hohe „Engagement“-Rate. Im Jahr 2020 nutzten US-amerikanische TikTok-Nutzer*innen die App durchschnittlich ca. 40 Minuten pro Tag (Mansoor 2020). Wie wichtig der Algorithmus ist, wird auch dadurch klar, dass die Entwicklerfirma ByteDance in den erzwungenen Verkaufsgesprächen für den US-amerikanischen Markt, die im September 2020 stattfanden, diesen Entdeckungsalgorithmus explizit aus dem Angebot ausgeschlossen hat (Zhou & Qu 2020).
Das Mikroformat der Videos auf TikTok bevorzugt spezifische Genres, deren Vielfalt sich im Vergleich zum Vorgänger musical.ly stark erweitert hat. Im Folgenden sollen Genres mit einem besonderen Bezug zu lern- und bildungsbezogenen Aktivitäten kurz vorgestellt werden[3]:
Mit der zunehmenden Bedeutung von TikTok auch für Erwachsene nimmt die Bedeutung für die politische Meinungsbildung wie bei allen anderen Social-Media-Plattformen zu (Matasick et al. 2020). TikTok fokussiert zwar selbst immer noch auf ein unterhaltendes, positives und weitgehend unpolitisches Gesamtbild seines Dienstes, dessen Inhalte entsprechend regional unterschiedlich streng gefiltert bzw. zensiert werden. Trotzdem wird die Plattform durch Amateur*innen und NGOs zur Kommunikation über politische und gesellschaftliche Ereignisse genutzt (pride.month 2020; Serrano et al. 2020). Auch extremistische Gruppen versuchen TikTok zur systematischen Desinformation und für Propaganda einzusetzen (Mahzam 2020). Klassische Nachrichtenkanäle wie Zeitungen und Fernsehsender dagegen nähern sich erst langsam der neuen Zielgruppe mit entsprechend angepassten Inhalten und Formaten (washingtonpost 2020) – zumeist wird aber eher über TikTok berichtet, als auf TikTok.
Aus einer bildungswissenschaftlichen Sicht fällt auf, dass trotz eines Fokus auf Unterhaltung die hier vorgestellten Genres Information, Instruktion, Wissen, Tipps, entdeckendes Lernen sowie Erklärungen fokussieren. Im Folgenden soll deshalb analysiert werden, welche Potenziale Mikroformate auf TikTok für lern- und bildungsbezogene Handlungspraxen insbesondere von Jugendlichen haben.
Performanzvideos zeigen zunächst einmal das Mögliche und spannen auf TikTok ebenso wie auf YouTube Potenzialräume auf, denn sie machen auf Dinge aufmerksam, die man ggf. auch selbst tun könnte (Wolf 2015b). Wenn es realistisch erscheint, es selbst zu können oder zu erlernen, regt das zum Nachahmen oder vertiefenden Informieren an. Das ist z. B. beim Phänomen des Erlernens von TikTok-Tänzen zu beobachten, welche in das typische Freizeitrepertoire von (insbesondere weiblichen) Kindern und Jugendlichen übernommen worden ist (Klug 2020).
Eigenproduzierte Performanzvideos bieten sich für die Selbstdarstellung (nicht nur) Jugendlicher an: der erfolgreiche Tanz, ein gelungener Parcours-Sprung oder das gezeichnete Porträt. Sowohl das gekonnte Handeln als auch Produkte eigenen Schaffens können einfach per Video präsentiert werden. Auch wenn sich professionelle YouTube-Performance-Kanäle mit einem hohen Produktionsbudget wie z. B. DudePerfect (2020) ebenfalls auf TikTok präsentieren, bietet TikTok durch sein Mikroformat eine sehr offene Bühne für Performanzen aller Art – auch für Amateur*innen und damit insbesondere für Jugendliche. Für Performanzvideos ist der Schritt vom „Langformat“ auf YouTube in das Mikroformat auf TikTok in Abhängigkeit von der jeweils gezeigten Fähigkeit durchaus möglich – gerade Sporttricks dauern selten länger als eine Minute und können in Echtzeit präsentiert werden (realistische Dokumentation: CREW10 2020; aufwendige Inszenierung besonderen Könnens: Ragettli 2019). Somit bietet sich TikTok für solche „Stunt“-Performanzvideos geradezu an.
Länger dauernde Prozesse, wie z. B. Zeichnen und Malen, werden im Zeitraffer dokumentiert (De Siena 2020). Mithilfe spezifischer Audiospuren, wie z. B. dem Song „Lalala“ von Y2K & bbno$, kann dabei das besondere Ausmaß des Könnens im Sinne einer „epischen Performanz“ effektvoll hervorgehoben werden. Gleichzeitig kann der Unterhaltungswert gesteigert werden, wie ein Schminkvideo von Roberts (2019) exemplarisch zeigt: Im zunächst ruhigeren Teil des Songs werden erste Prozessschritte dokumentiert, das aufsehenerregende Endergebnis wird dann mit dem Höhepunkt des Songs in den letzten Sekunden des Videos präsentiert. Zu klären gilt es, in welchem Maße die Produktion solcher Videos – bedingt durch den hohen zeitlichen Aufwand, außergewöhnliche Performanzen für ein öffentliches Publikum zu produzieren und dem damit einhergehenden intensiven Üben – auch der Identitätskonstruktion dient (Chen 2020; Klug 2020; Wolf & Breiter 2014; vgl. auch Davis 2016).
Obwohl zur produktiven Nutzung von TikTok durch Schüler*innen und insbesondere zu den Genres der Produktionen noch keine belastbaren quantitativen Daten vorliegen, weisen teilnehmende Beobachtungen im Schulalltag und der Medienfreizeit auf eine niedrigere Hemmschwelle zur Nutzung von TikTok für die Eigenproduktion von Videos hin (vgl. auch Klug 2020). Auch die Studie von Guinaudeau et al. (2020) berichtet über eine höhere Eigenproduktionsrate von TikTok-Benutzer*innen. Die eigenerstellten Videos werden allerdings häufig nicht auf TikTok veröffentlicht, sondern nur privat über andere Messenger wie WhatsApp oder durch Zeigen auf dem eigenen Smartphone geteilt (Stecher et al. 2020). Hier gilt es noch zu klären, inwieweit die Eigenproduktion durch die Nutzer*innen über den alten Markenkern von musical.ly – also Lip-Synching und Tanzen – hinausgeht.
Insgesamt kann man davon ausgehen, dass Mikroformate die Produktion eigener Videoinhalte bei Jugendlichen realistischer und erreichbarer erscheinen lassen als etablierte Langformate wie z. B. Let’s Plays (kommentiertes Spielen von Computerspielen) oder V-Logs (als Video geführter Blog) auf YouTube. Das Drehen eigener Videos auf TikTok wird durch die Bereitstellung eines leicht bedienbaren Produktionswerkzeuges sowie der vielfältigen Beispiele, Tag-Challenges sowie der Audiospuren im Vergleich zur Videoproduktion auf YouTube oder Instagram sowohl vereinfacht als auch angeregt. Durch die Kürze der Videos sind diese leicht per Messenger-Apps zu teilen, ohne diese auf TikTok zu veröffentlichen. Eine ähnlich starke Anregung zur Eigenproduktion von Videos findet sich auf Snapchat, welche aber eher als Nachrichten-App für die Selfie-zentrierte Kommunikation zwischen Jugendlichen dient (Page 2019).
Performanzvideos sind Dokumentationen des gelingenden Handelns (Wolf 2015a), in denen zeigbare und direkt nachmachbare (vollständige) Handlungen visuell präsentiert werden und ggf. mit Sprachkommentaren ergänzt werden. Die Nachahmbarkeit kann durch didaktische und mediale Gestaltungselemente verstärkt werden, indem z. B. mehrere Kameraperspektiven, Zeitlupen, technische Vorübungen oder Formen der didaktischen Reduktion eingesetzt werden (Wolf 2015a). Durch eine zunehmende Didaktisierung entstehen Tutorials, die als Subgenre von Erklärvideos zu verstehen sind. Der Übergang von Performanzvideos zu Tutorials ist also ein Kontinuum entlang der didaktischen Gestaltungsdimension.
Analysiert man die öffentliche Rezeption und Reproduktion zu Performanzvideos und Tutorials auf TikTok am Beispiel eines typischen Back-Tutorials „Today we make TikTok’s famous Cloud Bread“ (Merrill 2020) zum Hashtag-Trend „Cloud Bread“ (Konstantinides 2020), so finden sich folgende Reaktionsmuster[8]:
Ähnlich wie auf anderen Social-Media-Plattformen sinkt die Partizipation mit zunehmendem Aufwand. Mit dem hier betrachteten Beispielvideo von Merrill (2020) interagieren die Zuschauer*innen in absteigender Anzahl wie folgt: 10,8 Mio. Views → 1,7 Mio. Likes → Weiterleitung → 13.300 Kommentare. Ca. 2.000 Personen in den Kommentaren gaben an, das Rezept selbst nachgebacken zu haben. Auch wenn es einer weiteren empirischen Erforschung bedarf, weist viel darauf hin, dass Performanzvideos und Tutorials auf TikTok ähnlich wie auf YouTube (Marone & Rodriguez 2019; Pires et al. 2019; Wolf 2015b) neben dem reinen Unterhaltungseffekt auch der Entdeckung neuer Fertigkeiten, der Ausformung von Interessen sowie der Vertiefung von Hobbys
Tutorials bzw. How-Tos finden sich häufig auf TikTok. In diesen werden beobachtbare Fertigkeit explizit zum Nachahmen durch die Zuschauer*innen vorgemacht (Wolf 2015a), sie dienen also dem Lernen am Modell (Rummler & Wolf 2012). Dabei konzentriert sich die Darstellung auf das „Wie“, legt aber wenig Gewicht auf die Erklärung des „Warum“ oder „Wieso“ (Wolf & Kulgemeyer 2016). So berichten Whitaker et al. (2014) für Tutorials auf YouTube im Genre „Instrumente lernen“ von einer durchschnittlichen Länge von 243 Sekunden (ca. 4 Minuten mit einer Standardabweichung von 207,5 Sekunden). Auf TikTok mit seiner maximalen Videolänge von 60 Sekunden müssen Tutorials im Vergleich zu YouTube zeitlich stark komprimiert werden. Im Kontext der Videorezeption auf TikTok mag den Nutzer*innen ein solch didaktisch und zeitlich reduziertes Vorgehen adäquat vorkommen, es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass diese Mikro-Videotutorials tiefer gehende Lernstrategien und das Verstehen fördern (Wolf & Kulgemeyer 2021). Wegen des Mikroformates beschränken sich TikTok-Tutorials vorwiegend auf Themen, welche in 15 bzw. max. 60 Sekunden abzuschließen sind.
Die verwendeten Gestaltungsformate beschränken sich überwiegend auf Videoaufnahmen im Hochformat von Live Action (also reine Videoaufnahmen ohne computergenerierte Bilder und Animationen). Dabei werden überwiegend vier verschiedenen Perspektiven genutzt:
Im Gegensatz zu Tutorials auf YouTube werden auf TikTok-Videos im Hochformat erstellt, zu deren Wirkung bisher wenig bekannt ist. Insbesondere die Egoperspektive scheint jedoch die Immersion der Betrachtenden zu erhöhen (Wang 2020).
In einer eigenen explorativen qualitativen Analyse von 200 How-to-Tutorials auf TikTok setzten 76 Videos zusätzliche Textoverlays ein[11]. Ein Greenscreen-Effekt, um hinter der sprechenden Person eine weitere Visualisierung darzustellen, wurde in nur vier Videos genutzt (ohne besonderen instruktionalen Mehrwert: Moore 2020). In den analysierten Videos wurden keine eigenen Computer-Visualisierungen wie 3-D-Modelle oder Computer-Animationen eingesetzt. Hier bedarf es weiterer, insbesondere domänenspezifischer Analysen, da z. B. bei Gitarren-Tutorials erläuternde Overlays deutlich häufiger eingesetzt werden (McKee 2020). Bereits erfolgreiche Kanäle von Erklärvideos auf YouTube wie z. B. Mathe by Daniel Jung produzieren anstatt längerer Erklärvideos von ca. 4 Minuten kurze 60 Sekunden-Tutorials speziell für TikTok (Jung 2020). Allerdings fehlen auf TikTok die im YouTube-Erklärkontext häufig eingesetzten Playlisten, sodass thematische Sammlungen von Videos mit einer vorher definierten Reihenfolge nicht geteilt werden können. Während Daniel Jung sich dem vorherrschenden Produktionsstil anpasst (einfache First-Person-Videoperspektive eines Blatt Papiers, auf dem er seine Rechenschritte handschriftlich notiert), produziert der Geschichtskanal von simpleclub aufwendige, speziell für das Hochformat gestaltete Computer-Animationen (simpleclub History 2020).
Insgesamt lässt sich festhalten, dass für TikTok-Tutorials im Vergleich zu YouTube-Tutorials gilt, was anfangs für YouTube-Tutorials im Vergleich zu klassischen Lehrfilmen galt (Wolf 2015b): Die Produktion muss weniger perfekt sein, die Ansprache ist persönlicher und es wird insbesondere auf einen hohen Unterhaltungswert bzw. direkten Nutzwert geachtet. So produzieren z. B. Schmidt & Schmidt (2020) einen einfachen Lifehack zum Trennen von Eiern. Auf TikTok wird dabei auch häufig Humor einbezogen. So werden bildungsbezogene Tag-Challenges wie z. B. #ingermanywedontsay genutzt, um ironisch zu unterhalten, wenn die Tik-Tok-Produzierenden Behnke (2020) oder Jeyisbaee (2020) mit ihren deutschen Übersetzungen kulturelle Normen hinterfragen. Schließlich gelingt es Le (2020) in einem 22-Sekunden dauernden Clip eine Amateur-Performance (Tanzen zu Toosie Slide), ein Tutorial zu Moon Walking und eine anschließende professionelle Moon Walking Performance zu integrieren. Durch den Fokus auf Kurzformat-Tutorials in einem Unterhaltungsumfeld finden sich auf TikTok deshalb überwiegend Tutorials zu außerschulischen Interessen wie Tanzen, Kochen, DIY & Basteln, Lifehacks, Zeichnen oder Sport, also Praktiken, welche gut über Videos zu beobachten und in maximal 60, besser in 15 Sekunden zu zeigen sind. Erst langsam finden sich schulbezogene Inhalte auf der Plattform, da insbesondere vollumfängliche Erklärvideos nur mit hohem Aufwand an das Mikroformat anzupassen sind.
Zur Wirksamkeit und inhaltlichen Qualität von Tutorials und Erklärvideos auf TikTok lagen bis Oktober 2020 keine Untersuchungen vor und stellen damit ein Forschungsdesiderat dar. Bei einer exemplarischen Sichtung von naturwissenschaftlichen Erklärvideos von Neil deGrasse Tyson (@neildegrassetyson) auf TikTok fällt ein Fehler im Video zur Mondfinsternis auf (deGrasse Tyson 2020b). In dem Video behauptet deGrasse Tyson irrtümlich, dass die Sonne 40x so breit wie der Mond sei (richtig: 400x), und dass die Sonne 40x so weit entfernt von der Erde sei wie der Mond von der Erde (richtig: 400x). Zwar bleibt das Verhältnis (und somit der Grund für die relativ gleiche Größe von Mond und Sonne von der Erdoberfläche) gleich, dennoch ist dies eine durchaus eklatante Fehlinformation. In den Kommentaren wird dieser Fehler fünf Minuten nach dem ersten Kommentar am Tag des Uploads das erste Mal kommentiert (@stro62305: „Isn’t it 400?“). Nach neun weiteren Kommentaren meldet sich der Kanalbetreiber ca. 3,5 Stunden nach dem ersten Kommentar und korrigiert seine Aussage (@StarTalk: „Silly me. If the Sun were 40x as far as the Moon, Earth would be a puff of smoke. Corrected: The Sun is 400x as wide and 400x as far”). Allerdings wurde dieser Fehler im Video selbst nicht durch einen Re-Upload korrigiert, sondern ist nur durch einen angepinnten Kommentar nachzulesen. Insgesamt wird in 79 von 3082 Kommentaren (2,5 %) auf das richtige Verhältnis hingewiesen. Dieses Beispiel deutet an, dass es durchaus eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den auf TikTok geposten Erklärvideos gibt. Die Qualitätskontrolle wird aber eher den Rezipient*innen überlassen.
Bezüglich der Intransparenz der Filterregeln sowie der Empfehlungsalgorithmen unterscheidet sich TikTok nicht substanziell von anderen Social-Media-Plattformen wie YouTube, Facebook oder Instagram. Auch bei TikTok handelt es sich letztendlich um ein kommerzielles Produkt, dessen zentrale Metrik die Nutzungsintensität (Engagement) der Benutzer*innen und seine Reichweite ist, um für Werbetreibende besonders attraktiv zu sein. Neben der Filterung jugendgefährdender oder diskriminierender Inhalte wurde Ende 2019 bekannt, dass TikTok die Inhalte von Menschen mit Behinderung oder unattraktiven Personen systematisch unterdrückte (Reuter & Köver 2019)[12]. Auch heute werden nicht nur LGBTIQ-Inhalte in Osteuropa und im mittleren Osten zensiert, sondern in regionalen Märkten kritische politische Positionen systematisch gelöscht (Ryan et al. 2020; McCluskey 2020). Gleichwohl versucht das Unternehmen, durch auf Können und Performanz angelegte Tag-Challenges wie z. B. #LernenmitTiktok ein positives Image aufzubauen. Eine weitere medienkritische Analyse von TikTok kann in diesem Beitrag allerdings nicht geleistet werden (Kennedy 2020 sowie Stecher et al. 2020; zur Übersicht möglicher Gefährdungspotenziale Jugendschutz.net 2020).
Deutlich gezeigt werden konnte, dass sich das Phänomen Erklärvideos auch auf TikTok von den Kurzformaten auf YouTube zu Mikroformaten weiterentwickelt. Eines der allerersten Erklärvideos wie das 2007 auf YouTube erschienene „Wikis in plain English“ von Common Craft (2007) dauerte lediglich 3:52 Minuten. Anfang 2020 bewegt sich die Länge von Erklärvideos der Schulstoffkanäle wie SimpleClub (Biologie simpleclub 2020) um ca. 5:00 Minuten. YouTube-Wissenschaftskanäle wie Veritasium (2020) oder Numberphile (2020) erreichen eine Länge zwischen 10:00 und 20:00 Minuten. War die Kürze der Erklärvideos in den Anfängen von YouTube bereits eine bildungsbürgerliche Provokation, komprimieren die Mikroformate auf TikTok die Videolänge noch einmal deutlich auf bis zu 15 Sekunden kurze Micro Learning Einheiten. Tanzchoreos, Lifehacks, Kartentricks oder einige japanische Worte werden zu kleinen, überwiegend zufällig vom Algorithmus eingespielten Lernhäppchen (siehe dazu der Beitrag von Theo Hug in diesem Band). Eine curriculare Strukturierung, der systematische Aufbau von Orientierungswissen oder die Förderung von verständnisorientierten Lernstrategien können so überwiegend nicht erreicht werden. Man könnte TikTok sogar als massiven Angriff auf die Rezeptionsfähigkeit von Langformaten verstehen. Gleichzeitig ist TikTok mit seinen Kurzformaten äußerst niedrigschwellig, um Jugendliche zum Tun, Nachmachen, Remixen und damit schließlich doch zum Lernen zu bringen. Eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der lernbezogenen Mikroformate ist deshalb nicht nur für die Forschung zu Micro Learning, sondern für das gesamte Bildungssystem vielversprechend, da die Mikroformat-Plattform TikTok eindeutig einen wichtigen Platz beim informellen Lernen eingenommen hat.
[1]Der Vorläufer von musical.ly, Cicada war interessanterweise ein erfolgloser Versuch, einen Dienst mit Kurzformat-Erklärvideos zu etablieren (vgl. Carson 2016).
[2]Eine Übersicht von Gestaltungsideen findet man unter dem Hashtag #tiktoktutorials auf TikTok (https://www.tiktok. com/tag/tiktoktutorial).
[3]Weitere erfolgreiche Genres ohne direkten Bildungsbezug sind Witze & Comedy, Duette, Celebrities oder die Crossmedia-Zweitverwertung. Die ebenfalls vorhandene Möglichkeit zum Live-Streaming auf TikTok soll in diesem Beitrag nicht weiter diskutiert werden, da es sich hierbei nicht um ein Mikroformat
[4]Dieses Beispielvideo zum „Toosie Slide“ von Drake erschien auf dem Account von Josh Richards, der als erfolgreiche „Internet Persönlichkeit“ im Oktober 2020 22,5 Millionen Follower auf TikTok hatte. Auch wenn Josh Richards ein professioneller Social Media Produzent ist, ist das Fähigkeitsniveau der hier zu sehenden Tanz-Performanz für eine große Anzahl der Jugendlichen erreichbar.
[5]Bei diesem Beispielvideo zum „Toosie Slide“ von Drake wird von dem „Rybka Twins“ nicht mehr die „offizielle“ Tanzchoreographie genutzt. Vielmehr wird die Popularität des Sounds „Toosie Slide – Drake“ genutzt, um die eigenen außergewöhnlichen Fähigkeiten in Szene zu In Kommentaren wie „Und hier meine lieben Frauen und Männer und Kinder sehen sie mein Ziel das ich niemals erreichen werde“ (@Sumayya, 14.4.2020) oder „Kann ich auch *hust*“ (@Dirah, 14.4.2020) wird die zu sehende Performanz als ein nicht zu erreichendes Ideal eingeordnet.
[6]Bei diesem Beispielvideo wird die eigentliche Performanz, nämlich das Schnitzen von Minitaturen aus Farbstiftminen in Kombination mit dem „Duet“-Format präsentiert. Auch hier wird also das virale Original von @bellapoarch von dem auch auf YouTube und Instagram äußerst erfolgreichen @salavat.fidai (10,4 Mio. Follower*innen auf TikTok im Oktober 2020) genutzt, um weitere Aufmerksamkeit für sein Profil zu Deutlich wird hier auch, dass das Mikroformat auf TikTok eine Anpassung der Videogestaltung nach sich zieht. Während auf YouTube der Prozess im Vordergrund steht, verbleibt auf TikTok in dem Video mit 10 Sekunden Dauer nur noch ein maximal komprimierter Zeitrafferschnitt.
[7]So wurden bis Oktober 2020 30,7 Millionen Videos (nicht Views!) zu dem Song „Savage“ von „Megan Thee Stallion“ erstellt (Beispielvideo Janajah 2020; Überblick aller Videos https://www.tiktok.com/music/Sav-age-6800996740322297858).
[8]Für die Analyse wurden die ersten 000 Kommentare des Beispielvideos inhaltsanalytisch nach drei Kategorien ausgewertet. Die drei Kategorien waren: (1) Positive Bewertung des Videos; (2) Hinweis auf das eigene Nachbacken; (3) Inhaltliche Aussagen zum Erfolg des eigenen Nachbackens und Fragen bzw. Antworten zum Rezept und alternative Zutaten. Besonders häufig wurde zu (3) der Geschmack thematisiert sowie Fragen nach alternativen Zutaten und zur Backtemperatur (300°F) gestellt.
[9]Die unter https://tiktok.com/tag/cloudbread angegebenen 2,19 Milliarden Views beinhalten viele Videos, welche nicht als „Cloud Bread“-Tutorials einzuordnen Bei den zuerst angezeigten 200 Videos waren ca. 30 Videos „Cloud Bread“-Tutorials. Von diesen hatten die Videos zwischen 5 Millionen und 2 Millionen Views.
[10]Insgesamt wurden 4 % der Kommentare als (1) Positive Bewertung kodiert, 15 % als (2) Eigenes Nachbacken und 20 % als (3) Inhaltliche Aussagen & Fragen . Ein Großteil der Kommentare beziehen sich inhaltlich nicht auf das Video.
[11]Hierzu wurden die ersten 200 Videos unter dem Hashtag #howto Anfang Oktober 2020 auf TikTok kodiert nach (a) Einsatz von Text-Overlays (76 Videos), (b) Einsatz von Greenscreen-Effekt, um weitere Visualisierungen einzublenden (4 Videos) sowie (c) Einsatz von Illustrationen und Animationen (1 Video).
[12]So wird B. in dem Bericht explizit die TikTok-Userin miss_anni21 (Anni 2020) als gefiltert benannt.
Anni [@miss_anni21]. (2020). [Video]. TikTok. Abgerufen am 11.09.2020 von https://www.tiktok.com/@miss_anni21/video/6871180428619943169
Behnke, B. [@bennetbehnke]. (2020). [Video] TikTok. Abgerufen am 01.03.2020 von https://www.tiktok.com/@bennetbehnke/video/6799183356195032325
Ben [@investierenmitben]. (2020). [Video]. TikTok. Abgerufen am 21.09.2020 von https://www.tiktok.com/@investierenmitben/video/6875013603523595521
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