Liebeslieder handeln oft von Erfüllung: Von der Erfüllung der Sehnsucht nach einem geliebten Menschen, der Erfüllung des Selbst durch den Anderen oder dem Gefühl der Unvollständigkeit, wenn die Liebe aus dem einen oder anderen Grund verfliegt. Oft bezieht sich das Gefühl der Erfüllung auf die Einheit der Liebenden, doch es gibt auch Songs, die mit dieser Erzählung brechen. In Halo zum Beispiel singt Beyoncé von einer Liebe, die Mauern niederreißt und Regeln bricht; eine grundlegend riskante Liebe, die die Sängerin mit einem ätherischen, engelhaften Licht umgibt, das trotz seines transzendenten Charakters eine fundamental körperliche Erfahrung bedeutet. Die Macht, die der Liebe in Halo zugeschrieben wird, treibt das Narrative der Erfüllung ins Extreme, bis zu dem Moment, in dem das Objekt der Liebe zu „everything [one] need[s] and more” heranwächst und das Versprechen der Einheit schließlich an genau diesem Punkt zerbricht. Kurz gesagt, die Liebe beschwört das Unbekannte herauf; sie ist die radikale Öffnung zu etwas anderem, das nicht mehr bloße Einheit ist. Während manche Liebeslieder nicht mehr als Liebeslieder sind, können Songs wie Halo Kunstpädagog*innen meiner Ansicht nach dabei helfen, Kunst und Bildung als transformative Kräfte zu verstehen. Denn letztendlich wird die Notwendigkeit von Kunstpädagogik durch die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung begründet, ein Argument, das auch in vielen Liebesliedern zu finden ist: Es ist die Liebe/die Bildung, die uns zu dem*der macht, der*die wir wirklich sind und uns mit unserem wahren Selbst vereint. In dem ich die beiden Bereiche – Liebe/Bildung miteinander verschmelze, möchte ich den Begriff der Erfüllung von zwei Seiten zugleich in Angriff nehmen und hoffe, dabei das Versprechen der Einheit ins Wanken zu bringen. Diese Forderung stammt ursprünglich aus den Schriften zweier Philosophen, die sich mit der Liebe auseinandersetzen. Für Alain Badiou (2012) ist Liebe ein „Verfahren der Wahrheit” und in diesem Sinne „die Wahrheit über die Zwei. Die Wahrheit des Unterschieds als solchen” (Badiou: 39). Für Giorgio Agamben (1995), von dem ich den Titel dieses Textes geliehen habe, bedeutet „die Idee der Liebe”:
„to live in an intimacy with a stranger, not in order to draw him closer or make him
known, but rather to keep him strange, remote; unapparent – so unapparent that his
name contains him entirely. And, even in discomfort, to be nothing else, day after day,
than the ever open place, the unwaning light in which that one being, that thing,
remains forever exposed and sealed off“ (Agamben: 61).
Wenn wir mit Badiou und Agamben annehmen, dass Liebe eine Form der Intimität darstellt, die uns in eine Beziehung der unendlichen Nähe und Distanz zu einem geliebten Menschen bringt, wie könnte ein solches Verständnis von Liebe/Bildung zu einer aktuellen Reflektion der Politik der Kunstpädagogik beitragen?
Im Gegensatz zu Halo erzählt Art Teacher von Rufus Wainwrights eine etwas andere Geschichte. Während erstere von einer ekstatischen Öffnung hin zu einem überwältigenden Licht der Liebe handelt, zeichnet Art Teacher das Bild einer melancholischen Liebe, die zu keinem Zeitpunkt in der erfüllten Einheit zweier Liebender aufgeht. Die Melancholie resultiert aus dem Fakt, das sich der*die Erzähler*in in einer Einbahnstraße wiederfindet: „Never have I turned since then / no, never have I turned to any other man.” Und dennoch – in der unerfüllte Möglichkeit des Liebens verweilend – erlaubt uns Art Teacher, sich der Liebe/Bildung in einem Moment zu nähern, in dem sie noch in Entwicklung begriffen ist; nachdem sie bereits begonnen hat, ihre Wirkung zu entfalten, ohne auf den sicheren Punkt der Erfüllung hinauszulaufen. Ungeachtet einiger entscheidender Unterschiede sind viele Parallelen zwischen dem Erzählervon Art Teacher und Platons Symposion auszumachen, einem Text, der sich als eine Abhandlung der pädagogischen Liebe schlechthin herausstellt. Sokrates hält darin eine Rede, in der er feststellt, dass die wahre Liebe/Bildung, eine Liebe/Bildung ist, welche einzig das Ziel der Liebe/Bildung kennt. Kurz nachdem er seine Rede beendet hat, stürmt Sokrates‘ junger und schöner Geliebter Alkibiades hinein, überzieht ihn mit einer trunkenen Tirade und bezichtigt Sokrates der Arroganz gegenüber seinen Gefühlen. Dabei wird deutlich, dass Alkibiades‘ Groll auf Sokrates darauf zurückzuführen ist, dass der Philosoph nicht wie erhofft auf seine Liebe und Bewunderung reagiert hat. Die Geschichten von Alkibiades und dem Protagonisten aus der Erzählung Art Teacher zeigen auf, wie die disruptive Kraft der Liebe/Bildung – mit Agamben und Badiou verstanden als eine Beziehung-in-Differenz – in schmerzhaften Liebeskummer umschlagen kann. Da sich jedoch weder Liebe noch Bildung in der begehrten Einheit erschöpfen, nimmt ihre disruptive Kraft eine dauerhafte, nicht-punktuelle Präsenz an. Wie in Art Teacher, wo es zu einer schmerzhaften Überschneidung von Vergangenheit und Gegenwart kommt („Oh, I wish I could tell him; Oh, I wish I could have told him”), ist es die Dauer von Liebe/Bildung, nicht ihre Essenz, die auf dem Spiel steht. Badious Verständnis von Liebe als Verfahren der Wahrheit entspricht dieser Zeitlichkeit. Es ist das Vermögen der Liebe, den Aspekt der Unendlichkeit in die Zeit einzuführen. Darin liegt für ihn ein Großteil ihrer Wahrheit begründet: „Also bleibt der Liebe eine Macht. Eine subjektive Macht. Eine der wenigen Erfahrungen, bei der man ausgehend von einem Zufall, der im Augenblick eingeschrieben ist, eine Ewigkeitsbehauptung wagt” (Badiou: 45). Dies bedeutet vor allem „eine Auffassung der Ewigkeit vorzuschlagen, die nicht so wunderbar ist, sondern mühseliger ist, nämlich eine hartnäckige Konstruktion der zeitlichen Ewigkeit, der Erfahrung der Zwei, Punkt für Punkt” (ebd.: 67). Dass es sich dabei um harte Arbeit handelt, begünstigt die radikale Offenheit des Liebes-/Bildungsereignisses. Dies gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn das Lernen nicht mehr innerhalb alternativer Bildungskontexte, sondern im Kontext neoliberaler, autoritärer Systeme stattfindet und sich das ergebnisoffene Studium in ein Projekt individualisierten Fortschritts verwandelt. In diesem Fall sind Liebe und Bildung nur noch Überlebensstrategien in einer Welt, in der das Risiko des globalen Kapitals auf Arbeiter*innen und Konsument*innen verteilt ist. Liebe und Bildung werden zu Spielarten der Selbstkontrolle: ein Selbstverhältnis, das eine Kenntnis der eigenen Persönlichkeit, Selbstreflexion und kontinuierliche Selbstoptimierung voraussetzt; etwas, das wir vielleicht lebenslanges Lernen nennen können.
Wie also über die unbestimmte Zeit der Liebe/Bildung sprechen, ohne in die Zeitlichkeit neoliberaler Flexibilität zurückzufallen, die sich ins Endlose ausdehnt? In Chics At Last I Am Free wiederholt der*die Erzähler*in immer und immer wieder: „at last I am free / I can hardly see in front of me.” Freiheit ist hier nicht an eine Fähigkeit gebunden, die eine bessere Zukunft garantiert, sondern an ihr Gegenteil: das Unvermögen. Obwohl der*die Erzähler*in des Sehens nicht mächtig ist, ist er*sie frei. Auch wenn es einfach wäre, das Lied als eine Geschichte der Resignation zu lesen, bietet der Moment der Blindheit eine Möglichkeit, Liebe abseits des melancholischen Mangels der Einheit mit Badiou als harte Arbeit zu verstehen. Was At Last I Am Free von Halo und Art Teacher unterscheidet, ist, dass ein klar markiertes Objekt der Liebe fehlt, ein Objekt, das den befreienden Moment der Erfüllung-durch-Einheit herbeiführen könnte. Mit Lauren Berlant sind wir gezwungen, zu fragen: „[w]hat happens to the energy of attachment when it has no designated place? To the glances, gestures, encounters, collaborations, or fantasies that have no canon?” (Berlant 1998: 285) Hier entfaltet sich die Kraft der Liebe in einer radikalen Gegenwart. In At Last I Am Free hat die Befreiung des*der Erzähler*in eine Dehnung der Zeit zur Folge, so dass sich die Bindung an den „Kanon“ des Seienden oder Gewesenen auflöst und die freigesetzte Energie ins Leere läuft. Wie in Art Teacher bleibt die Freiheit erhalten, jedoch ohne an ein Objekt mit spezifischer Form und spezifischem Namen gebunden zu sein, das infolgedessen auch keine vordefinierte Zukunft hat. Ihren eigenen Ansatz weiterentwickelnd fährt Berlant über die Liebe fort:
„I often talk about love as one of the few places where people actually admit they want
to become different. And so it’s like change without trauma, but it’s not change without
instability. It’s change without guarantees, without knowing what the other side of it is,
because it’s entering into relationality” (Davis & Sarlin 2011: Absatz 7).
Wie Badiou beschreibt Berlant die Liebe als etwas, das die Souveränität des Einen stört, gleichzeitig jedoch unser Verständnis von Zeit erneuert. Sie deutet darauf hin, dass Politik nicht etwa dazu in der Lage sei, geschichtliche Epochen zu begründen, sondern verweist auf die historische Kontingenz einer Gegenwart, die im Werden begriffen ist. Tatsächlich fordert Berlant eine politische Pädagogik, die ihre eigene Inkohärenz verhandelt:
„The taking up of a position won’t be so that an individual can be coherent, intentional, agentive, and encounter themselves through their object, but that there would be a
way that situational clarity can be produced without negating the incoherence of the
subject” (ebd.: Absatz 16).
Eine solche Pädagogik der Inkohärenz könnte als eine Geste der Liebe/Bildung gedeutet werden, die der Intimität mit einem Fremden ähnelt. Sie ist blind, wie der*die Erzähler*in von At Last I Am Free: Anstatt das Handeln auf die Zukunft auszurichten, deutet sie auf die vielen Kräfte, die auf die Gegenwart einwirken und (noch) keinen Namen haben, Kräfte, die uns dennoch bewegen.
Vielleicht sollten wir noch ein paar Worte über die Kunst verlieren. In einer Welt, in der vordefinierte Ergebnisse die Regel sind, hat es sicherlich eine ermächtigende Wirkung, Kunst als einen „unsicheren Sprung“ ins „Unbekannte“ (Gielen & De Bruyne 2012: 9) zu betrachten. Dennoch ist diese Unsicherheit dem spekulativen Kapitalismus nicht fern: das Lob der Offenheit der Kunst kippt schnell in die Performance prekärer Arbeitsverhältnisse, trägt zu ihrer Ästhetisierung bei und verwandelt sie in einen Lifestyle, aus dem Kreativität und Innovation hervorgehen sollen. Hito Steyerl (2011) schreibt:
„[W]hy and for whom is contemporary art so attractive? One guess: the production
of art presents a mirror image of postdemocratic forms of hypercapitalism that look
set to become the dominant political post-Cold War paradigm. It seems unpredictable,
unaccountable, brilliant, mercurial, moody, guided by inspiration and genius. Just as
any oligarch aspiring to dictatorship might want to see himself” (Steyerl: 32).
Wie können wir Kunst dennoch als Geste der Liebe/Bildung verstehen, abseits von Steyerls Beschreibung? Da Künstler*innen historisch betrachtet schon immer eine intime Beziehung zu Macht und Autorität pflegten, lohnt es sich, diese Frage erneut zu stellen. Trotz des scheinbar düsteren Eindrucks, den Art Teacher und At Last I Am Free hinterlassen, behaupte ich, dass Sorge und Kummer nicht die Antwort sein können. Berlant zufolge kann die transformative Kraft der Kunst durch Liebe/Bildung eine Hinwendung zur radikalen Alterität in und von der Gegenwart zur Folge haben. Das ist Hoffnung ohne Kanon, eine Art, sich die Zukunft vorzustellen, ohne die Gegenwart in einen Ort reiner Investition zu verwandeln. Schließlich könnte ein solcher Zugang zur Kunst ein wirkliches „dirty dancing” werden, das die dringend nötigen Gegenerzählungen zu „the time of our lives“ bietet.
Übersetzung aus dem englischen Original: Nada Schroer.
Agamben, Giorgio (1995): Idea of prose, Albany, NY: State University of New York Press.
Badiou, Alain/Truong, Nicolas (Hrsg.) (2015): Lob der Liebe, Wien: Passagen.
Berlant, Lauren (1998). Intimacy: A special issue. In: Critical Inquiry, 24. JG, Heft 2, S. 281-288.
Davis, Heather/Sarlin, Paige (2012): No one is sovereign in love: A conversation between
Lauren Berlant and Michael Hardt. Online: http://nomorepotlucks.org/site/no-one-is-sovereign-in-love-a-conversation-between-lauren-berlant-and-michael-hardt/ [3.5.2019]
Edwards, Bernard/Rodgers, Nile (1978): At last I am free [Recorded by Chic]. On C’est Chic
[LP]. New York, NY: Atlantic Records.
Gielen, Pascal/Boomgard, Jeroen (2012): Teaching art in the neoliberal realm: Realism versus
cynicism. Amsterdam: Valiz.
Knowles, Beyoncé/Tedder, Ryan/Bogart, „Kidd“ Evan (2008): Halo [Recorded by Beyoncé].
On I Am… Sasha Fierce [digitaler Download]. New York, NY: Columbia Records.
Steyerl, Hito (2011): Politics of art: Contemporary art and the transition to postdemocracy. In:
Aranda, Julietta/Wood, Brian Kuan/Vidokle, Anton (Hrsg.): Are you working too much?: Post-Fordism, precarity, and the labor of art. Berlin: Sternberg Press, S. 30-39.
Wainwright, Rufus (2004): Art teacher. On Want Two [digitaler Download]. New York, NY:
Geffen Records.