„Um unruhig zu bleiben, müssen wir uns auf eigensinnige Art verwandt machen. Das meint, dass wir einander in unerwarteten Kollaborationen und Kombinationen, in aktiven Kompostierungen brauchen. Wir werden miteinander oder wir werden gar nicht. Diese Art der materiellen Semiotik findet stets situiert, an einem bestimmten Ort, wo und nicht nirgendwo statt, sie ist verwoben und weltlich.“ (Donna J. Haraway 2018: 13)
Seit einigen Jahren zeigen sich vermehrt neue Phänomene von Gemeinschaftlichkeit und Zusammenarbeit im Kontext der Künste und digitaler Medienkultur, die für die Kulturelle Bildung, Kunstvermittlung und Kunstpädagogik Fragen zu Kreativität, Autor*innenschaft und die Relevanz von kooperativen, kollektiven und kollaborativen Praktiken thematisieren. In „fragilen Zeiten“ (vgl. Bayramoglu/Castro Varela 2021), in einer durch postdigitale, soziale, ökologische, politische und kulturelle Transformationen begriffenen Welt und den damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen stellt sich die Frage nach Gemeinschaftlichkeit mit anderen Menschen und mit materiellen Gefügen auf neue Weise (vgl. Barad 2012; vgl. Hoppe/Lemke 2021).
Dabei sind Gesellschaft und Kultur im Sinne einer sozio-kulturellen Praxis immer schon kollektive Leistungen, die über die Grenzen von Individuen und Zeiten hinausgehen. So kann aus anthropologischer Perspektive der Mensch als zutiefst gesellschaftliches Wesen betrachtet werden, dem erst im Zusammenhandeln mit Anderen und der Teilhabe an gesellschaftlichen Kooperationen die eigene Selbstentfaltung und Sinnstiftung möglich wird. Ebenso beruhen kulturelle Innovation und Weiterentwicklung auf gemeinsamen, geteilten Absichten und auf Kollaboration (vgl. O‘Madagain/Tomasello 2021: 1). Donna Haraway denkt Gemeinschaftlichkeit weiter, indem sie diese nicht auf das Menschsein beschränkt, sondern auf speziesübergreifende Verwandtschaftsverhältnisse ausweitet, was menschliche und nicht-menschliche Andere mit einschließt (vgl. Haraway 2018; vgl. Hoppe 2022: 175). Gegenwärtige Herausforderungen durch fortschreitende Techniken und Digitalisierung, durch Migration, Dekolonialisierung oder das Anthropozän allgemein machen Haraway zufolge deutlich, welche Relevanz „artenübergreifende Praktiken des Miteinander-Werdens“ (Haraway 2018: 80) und Praktiken von „unerwarteten Kollaborationen und Kombinationen“ (Haraway 2018: 13) einnehmen können, um zu neuen Formen des Zusammenlebens zu gelangen. Praktiken und Visionen von anderen Formen des Zusammenlebens, von einer anderen Gesellschaft, können immer nur kollektiv entstehen (vgl. Sternfeld/Seidel 2022: Min. 23:08). Doch durch unsere westlich geprägte Denkweise einer individualisierten Leistungsgesellschaft rückt immer wieder die anthropozentrische Perspektive auf die jeweilige Leistung des einzelnen Menschen in den Vordergrund und in Folge wird das Individuum als primäre Einheit definiert. „In Wirklichkeit ist das Individuum aber“, so verdeutlicht es Judith Butler, „eine soziale Form, also bereits geformt. Doch diese Formation wird geleugnet, um mit dem Individuum als Grundlage der Gesellschaft zu beginnen oder um den methodologischen Individualismus als den richtigen Weg zu etablieren, die Gesellschaft, Wirtschaft und die Geschichte zu betrachten“ (Butler 2022: 64).
Begriffe wie „Kollektive“, „Kollaboration“, „Kooperation“, „Komplizenschaft“ und „Partizipation“ beschreiben daher nicht nur im Bereich der Bildenden Kunst diverse kreative Formen gemeinschaftlicher Zusammenarbeit, sondern stellen zudem historisch gewachsene westliche Denkweisen und eurozentristische Strukturen in Frage. Spätestens mit der documenta fifteen, die 2022 erstmals von einem Kollektiv kuratiert wurde, ist auch für eine breite Öffentlichkeit ein Wendepunkt im westlichen Kunstbetrieb deutlich geworden. Das kuratorische Konzept der künstlerischen Leitung ruangrupa, einem Kollektiv aus Jakarta/Indonesien basierte darauf, Kunst nicht mehr als etwas zu sehen, das man zeigt, sondern machte die „Form der Kunstproduktion selbst zum Teil der Kunstproduktion“ (Sternfeld/Seidel 2022: Min. 06:06) und der Ausstellung. Diese Art der Kunstproduktion und Kuration versteht sich nicht mehr als Teil eines kapitalistischen Marktes, sondern beruht auf einem gemeinschaftlichen Modell des Teilens, was sich durch die zahlreichen Künstler*innenkollektive fortsetzte, die nach Kassel eingeladen waren, gemeinsam ihre Arbeiten zu präsentieren oder kollaborative Arbeitsweisen vorzustellen, indem sie sie vor Ort praktizierten (vgl. ruangrupa 2022; vgl. The Collective Eye 2022).
Wenn wir aktuell vermehrt Formen gemeinschaftlicher, kollektiver und kollaborativer Zusammenarbeit im künstlerischen Feld beobachten und als andersartige Praxis der Kunstproduktion diskutieren, so sind diese jedoch nicht gänzlich neu. Zusammenschlüsse von Künstler*innen haben in afrikanischen, asiatischen oder südamerikanischen Ländern eine lange Tradition, die sich aus einem gesellschaftlich etablierten Verständnis von Kollektivität, teils durch einen fehlenden, ökonomisch geprägten Kunstmarkt oder mangelnde bzw. zu teilende Ressourcen entwickelten (vgl. Jocks 2022). Auch im westlichen Kunstsystem sind Formen der Zusammenarbeit nicht unbekannt, sondern haben ihre Vorläufer. Nicht erst in der Bildenden Kunst der 1960/70er Jahre, wie den Happenings oder Performances der Fluxus-Bewegung, schlossen sich Kunstschaffende zusammen, um aus der Kritik an etablierten künstlerischen, kulturellen und damit auch ökonomischen Praktiken Gegenmodelle zu entwickeln. Anders als z. B. die Schule von Barbizon, die sich zwar kollektiv vom autoritären akademischen Themenkanon des 19. Jahrhunderts ab- und der Pleinair-Malerei zuwandte, aber die individuelle Kunstproduktion beibehielt (vgl. Crepaldi 2007: 32), inkludieren die Gegen-modelle seit den 1960er Jahren auch die Produktionsformen und die Autor*innenschaft. Es entstanden kooperative oder kollektive Arbeitsformen, die sich durch Gemeinschaftlichkeit, Interaktion und Partizipation auszeichnen und künstlerische Autor*innenschaft neu definieren (vgl. Schütz 2023: 51). In den 1990er Jahren verkündet die Künstlerin und Kunsthistorikerin Suzi Gablik den längst fälligen Shift weg von isolierten kulturellen und künstlerischen Einzelleistungen hin zu einer „Connective Aesthetics“ (Gablik 1992: 6). Diese Ästhetik orientiere sich, so Gablik, an der „Erzeugung von geteiltem Verständnis und dem unhintergehbaren Verwobensein von Selbst und Anderen, von Selbst und Gesellschaft“ (ebd. 1992: 6).
Entsprechend hat auch die Kunstvermittlung seit Mitte der 1990er Jahre die Grenze zwischen künstlerischer Praxis und Vermittlung sowie die Beziehung zwischen künstlerischem Werk und Autor*in radikal in Frage gestellt. Durch die Einbeziehung künstlerischer Praktiken, wie beispielsweise dekonstruktive, collagierende, remixende, performative, interaktive und partizipative Verfahren, entwickeln sich seitdem in der Kunstvermittlung kunstnahe, kontextgebundene, realpolitische und aktivistische Handlungsweisen, die sich über die Grenzen des Kunstsystems hinaus als gemeinschaftliche Praxis vollziehen (vgl. Puffert 2013; vgl. Rolling/Sturm 2002; vgl. Hallmann 2022). Hierbei werden künstlerische Verfahren in der Vermittlung erprobt und selbst hervorgebracht (vgl. Maset 2006: 15f.), die z. B. durch Interaktionen im öffentlichen Raum gemeinschaftliche Formen des Agierens bewirken und die sich auf zivilgesellschaftliche Felder ausweiten.
Dadurch wird zum einen die Autor*innenschaft erweitert, denn nicht nur Künstler*innen, sondern ebenso die vermeintlichen Rezipient*innen werden zu Akteur*innen im künstlerischen Produktionsprozess. Zum anderen entwickeln sich durch die Einbeziehung diverser Personengruppen diskriminierungskritische Formate der Kunstvermittlung, die affirmative oder reproduktive Diskurse in der Kunstvermittlung kritisch reflektieren und in Frage stellen (vgl. Mörsch 2009: 10 f.). Innerhalb dieser Entwicklungen spielen kollaborative Praktiken der Wissensproduktion eine zentrale Rolle. Sie thematisieren auf radikale Weise, dass Kunst und Kultur keine individuellen Leistungen darstellen, sondern in gesellschaftlichen Kontexten durch gemeinschaftliche Aushandlungsprozesse entstehen und dadurch ein emanzipatorisches Potential zur Dekonstruktion bestehender diskriminierender Strukturen, zur Ermächtigung marginalisierter Gruppen und zu demokratischer Veränderung beinhalten (vgl. Krebber 2020: 135 ff.; vgl. Mörsch 2009: 10 f.).
Im Gegensatz dazu steht aber immer noch das etablierte westliche Kunstsystem, das auf einer langen Tradition des Geniekults basiert und Kunst als das Produkt eines singulären, eigenhändigen schöpferischen Aktes versteht, das nicht nur als Ware, sondern als Marke gewinnbringend auf dem Markt platziert werden kann. In dem von Heinz Schütz als „spinartige Bewegung“ (Schütz 2023: 48) bezeichneten auktorialen Rekurs weist das Produkt zurück auf die Autor*innen respektive Künstler*innen, die dabei ebenfalls zu einem Label werden. Hier stellt sich die Frage, wie die Digitalisierung das traditionelle Geniekonzept und seine Position in der Kunstpädagogik, insbesondere im schulischen Kunstunterricht, verändert (vgl. von Gehlen 2023: 61; vgl. Krebber 2020: 121 ff.). Genau genommen ist mit jeder künstlerischen Arbeit ein komplexer Konzeptions- und Produktionsprozess verbunden, der nie alleine vollzogen wird, sondern immer in historischen und sozialen Kontexten und gemeinschaftlichen Praktiken stattfindet. Der Künstler Michael Elmgreen konstatiert, dass das Festhalten des kommerziellen Kunstmarkes am Mythos von Künstler*innen als geheimnisvollen, außergewöhnlichen Menschen überholt und aus der Zeit gefallen ist: „Würden Künstler*innen ehrlicher über den Arbeitsprozess und darüber reden, wie Werke entstehen und nicht verschweigen, dass sie mit anderen kollaborieren, trüge dies erheblich dazu bei, dass ein breiteres Publikum Kunst als etwas betrachtet, das nicht das ganz Andere oder völlig anders als ihre Welt ist. Sie ist nichts Jenseitiges, sondern etwas Weltliches“ (The Collective Eye 2021: 11). Eine multiple Autor*innenschaft muss viel häufiger benannt und öffentlich transparent gemacht werden. Insbesondere digitale Praktiken der Iteration, des Kopierens, Sampelns und Remixens sowie mittels Künstlicher Intelligenz (KI) generierte Kunst lassen die Annahme eines souverän agierenden Subjekts obsolet werden und fordern dazu heraus, Original und Originalität neu zu definieren (vgl. von Gehlen 2023: 64). Kollektive Kunstpraktiken widersprechen ebenso wie postdigitale Entwicklungen dem traditionellen Bild vom individuellen Kunstschaffenden und vom einzigartigen Kunstwerk und thematisieren auf unterschiedliche Weise die Frage kollaborativer soziomaterieller Praxisgefüge nicht nur für künstlerische, sondern auch für kunstpädagogische Arbeitsformen sowie kulturelle Bildungssituationen (vgl. Hallmann et al. 2022; vgl. Krebber 2020; vgl. Schmidt-Wetzel/Zachmann 2021). Für das Feld der Kunstpädagogik eröffnen sich dadurch neue Anschlüsse für zeitgemäße, kunstdidaktische und kunstvermittelnde Arbeitsweisen, die nicht mehr rezeptive und produktive Formate unterscheiden, sondern Strategien und Praktiken digitaler Medienkultur ebenso wie zeitgenössischer Kunst miteinander verbinden (vgl. Lübke/Schmidt-Wetzel 2023; vgl. Krebber 2020; vgl. Schmidt-Wetzel/Zachmann 2021).
Im Bereich der Kulturellen Bildung spielen partizipative Projekte seit mehreren Jahren eine zunehmend zentrale Rolle (vgl. Bishop 2012; vgl. Zirfas 2015). Durch sie sollen Teilhabechancen an Kultur und Gesellschaft für alle ermöglicht werden. Dabei sind mit den Begriffen „Teilhabe“ und „Partizipation“ immer wieder bestimmte wie unbestimmte Hoffnungen, Erwartungen und Versprechen verbunden. Oft sind die konkreten Bemühungen, die unter diesen Schlagworten verhandelt werden, gut gemeint – nicht selten entstehen aber auch Missverständnisse, Paradoxien oder gar Instrumentalisierungen von bisher unterrepräsentierten Gruppen, die als „Communities“ oder als „Zielgruppen“ adressiert werden (vgl. Ahrens/Wimmer 2012; vgl. Rolling/Sturm 2002). Das Bewusstsein für diese impliziten Problematiken schürt das Bedürfnis und den Bedarf, diese Begrifflichkeiten differenziert und konkret für den Einzelfall mit Inhalt und Anspruch zu füllen, und gerade angesichts positiver Konnotationen eine kritische Perspektive darauf zu bewahren. Wenn Teilhabe, Partizipation und Kollaboration nicht nur als Buzzwords benutzt werden, sondern ernst gemeint sind, dann sind damit Arbeits- und Gesellschaftsformen verbunden, die sowohl die Beteiligten als auch die Gemeinschaft im Prozess zur Disposition stellen und die es notwendig machen, dass strukturelle Bedingungen in der Folge verändert werden müssen (vgl. Terkessidis 2015: 14). Teilhabe, Partizipation und Kollaboration sind „auch in liberalen Systemen ein Luxus, sofern sie darauf […hinauslaufen…], dass der Souverän einen Teil seiner Macht abgibt […und sich…] Momente von Anarchie“ (van Eikels 2019: 99, 103) ereignen, wobei „der Souverän“ in den hier betrachteten Kontexten sowohl Künstler*innen oder Kunstvermittler*innen sein können, die künstlerische oder kunstpädagogische Prozesse initiieren, als auch Bildungs- und Kulturinstitutionen, die die Strukturen und Ressourcen für diese Prozesse und deren Veröffentlichung zur Verfügung stellen. Für den Umgang mit unerträglichen Folgen dieser anarchischen Momente gibt es nicht immer gute Lösungen, wie beispielsweise der antisemitische Tabubruch auf der documenta fifteen deutlich macht, der in einem großen Skandal eskalierte – vor allem, weil Kommunikation, Kooperation und Gemeinschaftlichkeit nicht früh genug und nicht konsequent genug praktiziert wurden, wie Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, zu bedenken gibt, der als Berater der documenta-Leitung aus diesem Grund zurücktrat (vgl. Schütze et al. 2022).
Nicht nur eine exponentielle Zunahme, Idealisierung und Ästhetisierung von kollaborativen Prozessen und kollektiven Formationen in den Künsten lässt sich in den letzten Jahren beobachten, sondern auch Versuche, kollaborative Prozesse und Strategien in institutionellen Strukturen zu verankern. Daher muss es künftig noch stärker darum gehen, die institutionellen Rahmungen sowie impliziten und expliziten Versprechen kollektiver und kollaborativer Arbeitsformen in ihren je spezifischen Zusammenhängen kritisch zu reflektieren. So wird im Bereich der Bildung der Einfluss ökonomisch ausgerichteter Optimierungsperspektiven auf Gemeinschaftlichkeit als zukunftsweisende Sozialform bereits seit mehreren Jahren diskutiert. Das Konzept der 21st Century Skills, das für zeitgemäßes Lernen das Modell der 4K – Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken – ins Zentrum stellt, geht auf die Initiative „Partnership for 21st Century Learning“ (kurz: P21) zurück, einem Zusammenschluss von US-amerikanischen Expert*innen aus Bildung, Wirtschaft und Politik (vgl. Batelle for Kids 2019). Dem Ansatz, Bildung aus einer wirtschaftsnahen Perspektive zu denken, muss aus einer humanistisch-bildungstheoretischen Haltung heraus, die sich an den Bedürfnissen und Potentialen der Schüler*innen orientiert, misstraut werden. Möglicherweise sind die sogenannten Soft Skills angesichts aktueller globaler Herausforderungen wichtiger denn je. Doch die Fokussierung auf die 4K als eigenes Lernziel im Sinne eines „Collaboration Engeneering“ (Leimeister 2014: V), das alleine auf wirtschaftliche Effizienz ausgerichtet ist, birgt die Gefahr, dass Kollektivität durch die neoliberale Mobilisierung von Kreativität und Kollaboration für Innovation und Fortschritt ihr politisches Potential zur Kritik und Transformation einbüßt. So kann diese Lesart von Kollaboration und Gemeinschaftlichkeit unter Umständen auch Vereinheitlichung oder gar Homogenisierung bewirken, Komplexität reduzieren und Vielfalt unterdrücken. Die Auffassung, dass das die Menschen Zusammenführende darauf beruhe, das gleiche Verständnis vom Leben zu haben, hält Richard Sennet daher für eine totalitäre Sicht auf Gemeinschaft (vgl. Sennett 2022: 76). So ist es ein elementarer Unterschied, ob wir Gemeinschaftlichkeit als kollektive Identität definieren, die das Subjekt unterdrückt, wie es totalitäre Systeme tun, oder ob wir Kollektivität als Gemeinschaftlichkeit praktizieren, bei der sich Menschen in ihrer individuellen Vielfalt einbringen können. Aus Angst vor dem Unterschied, welche auch aus der Ökonomie der globalen Konsumkultur resultiere, erwachse schnell der Wunsch, Unterschiede zu neutralisieren und zu domestizieren (vgl. Sennett 2012). Auf die Frage, was dies für das Verständnis und die Möglichkeiten von Gemeinschaftlichkeit bedeutet, gibt Sennett einen wichtigen Hinweis, der auch für kunstpädagogische Bildungsprozesse eine zentrale Dimension aufzeigt: „Anstelle einer auf Gleichheit beruhenden Solidarität, sollten wir Formen der Zusammenarbeit entwickeln, die uns befähigen, mit Menschen umzugehen, vor denen wir Angst haben, die anders als wir sind, die wir nicht mögen oder die wir schlichtweg nicht verstehen.“ (Sennett 2022: 77)
Insbesondere aktuelle Gesellschaften kennzeichnen sich durch eine hohe Komplexität und Diversität und werden sich durch fortschreitende Globalisierungs- und Migrationsprozesse noch weiter ausdifferenzieren. Die Ausbildung kreativer Zusammenarbeit und gemeinschaftlicher Praktiken in Kunst, Vermittlung und Kunstpädagogik, im Schulbetrieb oder im wissenschaftlichen Feld kann daher die Frage thematisieren, wie sich bestehende Handlungsweisen erweitern, verändern und auf struktureller Ebene transformieren lassen, um Ausschlussmechanismen zu minimieren, Diversität zu ermöglichen sowie gemeinsam Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Rachel Mader (2012) schlägt daher vor, Kollaboration zu pluralisieren, um Vielfalt bei gleichzeitiger Verschiedenheit als zentrales Prinzip gemeinschaftlicher, kreativer Arbeitsformen zu kennzeichnen. Kollaborationen im Plural erfordern daher die „Akzeptanz der Gleichzeitigkeit disparater Elemente als eine ihrer Grundbedingungen“ (Mader 2012: 13). Ähnlich argumentiert auch Helmut Draxler in seiner Kritik zur gegenwärtig weit verbreiteten Anerkennung von Kollektivität im Kunstfeld: Gemeinschaftlichkeit existiere nie als ein harmonisches Ganzes, sondern sei wesentlich konflikthaft und antagonistisch strukturiert (vgl. Draxler 2021: 43).
Zu begreifen, dass „das Gemeinsame nicht das Ähnliche ist“ (Jullien 2017: 78) und immer wieder neu ausgehandelt werden muss, ist daher im Kontext von Kunst, Medien und Bildung eine wesentliche, bildungsrelevante Dimension, die auch von politischer Relevanz im demokratischen Sinne ist. Hierbei spielen kooperative, kollektive oder kollaborative Praktiken in Kunst, Vermittlung und Kultureller Bildung eine zentrale Rolle, denn sie verstehen Kunst nicht als ein abgeschlossenes und zu decodierendes Repräsentationssystem. Stattdessen bilden sie vielmehr im günstigsten Falle selbst Netzwerke und Bedeutungsgefüge, die als Formen von Gemeinschaftlichkeit und Zusammenarbeit in postdigitalen, künstlerischen und kulturellen Kontexten über die Kunst hinaus agieren. Die Kunstpädagogik hat hier die Aufgabe, gemeinsam mit allen Beteiligten kulturelle, künstlerische und kreative Strategien zur Weltaneignung und Problembearbeitung zu entwickeln – nicht im Sinne einer Vereinheitlichung, sondern mit François Jullien gesprochen, im Sinne eines Dialogs, der in vielfältigen Medien geführt werden muss, denn: „Ein ‚Dia-log‘, dass wussten bereits die Griechen, ist umso ergiebiger, wenn dabei ein Abstand im Spiel ist.“ (Jullien 2017: 89)
Im Sinne dieser Überlegungen fragt der vorliegende Sammelband, wie Teilhabe und Formen von Gemeinschaftlichkeit in Kunst, Vermittlung und Bildung gelingen können, welche Risiken sie mit sich bringen und nimmt dabei Grenzen wie Überschneidungen zwischen Kollektiven, Kollaborationen und Gemeinschaftlichkeit in den Blick. Die Grundlage der im vorliegenden Band versammelten Beiträge entstand im Rahmen der Vortragsreihe „ART/ EDUCATION/MEDIATION“, die über zwei Semester am Institut für Kunst/Kunstpädagogik der Universität Osnabrück stattfand. Unter den Titeln „Teilhabe, Partizipation, Kollaboration“ (2021) und „Kollektive, Kollaboration, Gemeinschaftlichkeit“ (2022) berichteten die Teilnehmenden über Formate und Erfahrungen innerhalb künstlerischer, kunstpädagogischer, kunstvermittelnder und kultureller Kollaborationsprojekte oder stellten Forschungsarbeiten und Theorieverständnisse zur Thematik vor. Die Vortragsreihe brachte dabei nicht nur Beitragende aus der Bildenden Kunst, Kunsttheorie, Kunstpädagogik, Kunstvermittlung und Kulturellen Bildung zusammen, sondern konnte über diese Zusammensetzung der Akteur*innen ein breites Spektrum an Themen, Zugängen und Praxisbeispielen aufzeigen. Es ging dabei nicht in erster Linie um die Präsentation abgeschlossener Erkenntnisse oder um Best Practice, sondern darum, wie sich der Weg zu Formen der Gemeinschaftlichkeit in Kunst, Medien und Bildung gestalten lässt, welche Herausforderungen damit verbunden sein können und wie kreative und kollaborative Formen von Gemeinschaftlichkeit ausgehandelt, organisiert und (re)präsentiert werden.
Die theoretischen Konzeptionen, Praktiken, Zugänge und Perspektiven, die im vorliegenden Buch vorgestellt und diskutiert werden, kommen dementsprechend aus so unterschiedlichen Kontexten wie der künstlerischen und kuratorischen Praxis, der Kunstvermittlung und Kulturellen Bildung, dem schulischen Kunstunterricht, der kunstbezogenen Hochschulbildung sowie der partizipatorisch-künstlerischen Forschung. Somit können jeweils sehr unterschiedliche und spezifische Fragen zur Thematik diskutiert werden:
Diese Fragen diskutieren die einzelnen Beiträge des Sammelbandes und entwickeln eigene Positionen, Ansätze und Projekte zu Kollektiven, Kollaborationen und Gemeinschaftlichkeit in Kunst, Medien und Bildung von jeweils verschiedenen Ausgangspunkten und Voraussetzungen aus.
Da kollaborative Arbeitsformen längst als etablierte Strategien in der professionellen Arbeitsgestaltung und -organisation angekommen sind (vgl. Leimeister 2014: 5), betrachten die drei Beiträge im ersten Teil Potentiale von Gemeinschaftlichkeit vor dem Hintergrund institutionalisierter Strukturen im musealen Kontext und im akademischen bzw. schulischen Lehrbetrieb innerhalb des Spannungsfelds zwischen Institutionalisierung und Risiko. Dabei werden auch Wege aufgezeigt, wie professionelle Kollaboration gerade auch in Umgehung institutionalisierter Bürokratien gelingen kann.
Das gemeinsame Handeln wird in der Klasse Kooperative Strategien von Irene Hohenbüchler an der Kunstakademie Münster zur künstlerischen Strategie und in immer wieder neuen Konstellationen realisiert. Anhand der Darstellung und Reflexion einiger dieser künstlerischen Gemeinschaftsprojekte aus den letzten Jahren, die an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Akteur*innen und Kooperationspartner*innen realisiert wurden, wird nachvollziehbar, welche Herausforderungen sich im gemeinsamen künstlerischen Arbeiten und im Schnittfeld mit bürokratischen Vorgaben stellen, aber auch welche Kraft in der kollektiven Kreativität steckt. So zeugen die künstlerischen Projekte einerseits von immer wieder neuen Ideen, die in unterschiedlichen Medien und Materialien Form und Gestalt annehmen. Sie zeigen aber zum anderen auch, was es bedarf, damit kooperative Strategien in der Bildenden Kunst entstehen können. So müssen in den künstlerischen Projekten eine Vielzahl unterschiedlichster Ideen zu einem gemeinsamen, künstlerischen Konzept zusammengebracht werden. Offenheit und Bereitschaft, sich auf diesen Prozess der gemeinsamen Suche einzulassen, sind Voraussetzung dafür, um überhaupt einen künstlerischen Weg in einer Gruppe zu beschreiten und zu einem ausstellbaren Ergebnis zu kommen. Das ist ein zentraler Aspekt, der sich auch für das Verständnis von kollaborativen ästhetisch-künstlerischen Gestaltungsprozessen in der Kunstpädagogik und im Kunstunterricht als äußerst relevant erweist, denn hierbei sollte es ebenso um die Balance von gemeinsamem Gestaltungsprozess und dem Produkt dieses künstlerischen Prozesses gehen.
In einem Interview sprechen Christel Schulte und Kerstin Hallmann über kooperative und kollaborative Praktiken, die sich zwischen kunstvermittelnder, kuratorischer und künstlerischer Praxis bewegen. Schulte erläutert anhand ihrer langjährigen Arbeit an der Kunsthalle Osnabrück, wie sich gemeinschaftliche Formen des Arbeitens in diesem institutionellen Kontext und in Ausstellungen entwickelt haben. Dies zeigt sich nicht nur in der Art des kuratorischen oder künstlerischen Handelns, sondern fordert vor allem auch die Kunstvermittlung heraus, ihr (Selbst-)Verständnis zu hinterfragen. Dabei geht es um Fragen zur Vermittlung von Kunst und Möglichkeiten der Publikumsbeteiligung, aber immer auch um die Institution an sich, d. h. die Auseinandersetzung mit den eigenen institutionellen Strukturen und den dort arbeitenden Menschen. Schulte fragt daher: Wie können bzw. müssen institutionelle Ressourcen, sowohl materielle als auch ideelle und konzeptuelle Ressourcen eines öffentlichen Kunstraumes, gerecht (um-)verteilt werden?
Gesa Krebber spannt in ihrem Beitrag „Uncategorized: Collaboration. Entwicklung kunstdidaktischer Konzeptionen der Zusammenarbeit“ das definitorische Feld zum Begriff der Kollaboration auf. Dabei wird deutlich, dass Kollaboration ein transdisziplinäres Phänomen unterschiedlicher Ausprägung ist, das sich in der Bildenden Kunst, im Kontext digitaler Vernetzungspraktiken und in der Kunstpädagogik als eine neue transformierende Praxis darstellt, die über eine rein didaktische Methode oder Sozialform hinausgeht. Formen zeitgenössischer Kollaboration bergen für Krebber vielmehr das Potential, den aktuellen Herausforderungen mit neuen verbindenden Praktiken in der Kunst zu begegnen, im Plural zu agieren und zu situierten kollaborativen Praktiken im Feld der Kunstpädagogik zu führen.
Die Frage nach Gemeinschaftlichkeit muss sich angesichts fortschreitender Digitalisierung mit Befürchtungen auseinandersetzen, dass gemeinsame Arbeitsformen marginalisiert werden oder ganz verschwinden. Dagegen stellt Felix Stalder „Gemeinschaftlichkeit“ explizit als eine von drei zentralen kulturellen Formen der Digitalität heraus (vgl. Stalder 2016: 95). Eine „Kultur der Digitalität“ (ebd.), die sich u. a. durch hohe Komplexität und die Undurchschaubarkeit algorithmischer Ordnungen kennzeichnet, benötigt neue gemeinschaftliche Formationen, um geteilte Bedeutungen hervorzubringen (vgl. Stalder 2016: 131). Gemeinschaftliche Praktiken zeigen sich daher insbesondere unter postdigitalen Bedingungen als „community of practice“, die durch einen „offene[n] Austausch zwischen Personen unterschiedlicher Wissens- und Erfahrungsniveaus“ im Sinne einer epistemischen Gemeinschaft Wissen gemeinsam hervorbringen (Stalder 2016: 135). Die drei Beiträge im zweiten Teil untersuchen exemplarisch epistemische Kollektive, die sich im Schnittfeld zwischen Postdigitalität und Posthumanismus als Konstellationen aus technisch-materiellen und menschlichen Akteur*innen zusammen mit solchen aus nicht-menschlichen Spezies konstituieren.
Netzwerke aus technischen und menschlichen Agent*innen nehmen Nikola Dicke und Jan Merlin Marski in ihrem Beitrag „FabLabs und Makerspaces – Übungsräume für postdigitale kollaborative Kunstpädagogik“ in den Blick. Das Phänomen des Making als gemeinschaftliches Arbeiten und Lernen im Verbund mit digital angesteuerten Maschinen verfolgt das Ziel, dass Lernende im eigenen Tempo für sich selbst relevante gestalterische Projekte realisieren und sich dabei gegenseitig mit ihrer Expertise aus den unterschiedlichen Domänen unterstützen. Dieses Ziel ist auch für den schulischen Kunstunterricht in der Postdigitalität paradigmatisch. An zwei Beispielen aus der (Hoch-)Schulpraxis zeigt sich das Potential von Kollaborationen in Mensch-Mensch-Maschine-Gefügen: Im Team aus Lernenden in der Verflechtung mit technischen Hilfsmitteln und Geräten entwickelt sich eine performative diskursive Praxis, die neben kreativen Produkten Erkenntnisse über Selbst und Welt hervorbringt.
Künstlerische Praxis konstituiert und vollzieht sich als soziales Phänomen und Ko-Konstruktion von Publikum, Werkzeug, Material, Raum und Künstler*in, die ein soziomaterielles System verteilter Kognition oder eine kognitive Ökologie bilden. Diese Zusammenhänge von Kollaboration, Kooperation, Interaktion und Ko-Konstruktion untersucht Nikola Dicke anhand einer interdisziplinären Fallstudie zu ihrer eigenen performativen Licht-Zeichen-Praxis, die vor Publikum und in direkter Interaktion mit diesem stattfindet. Ihr Beitrag „What do you want me to draw? Kunst als ko-konstruktive ästhetisch-reflexive Praxis“ stellt das Instrumentarium aus Eyetracking-Analyse, Grounded Theory Methodology und Videointeraktionsanalyse vor, mit dem vor dem Hintergrund kognitionswissenschaftlicher, linguisti-scher und ethnomethodologischer Konzepte der umfangreiche Datenkorpus aus Blick- und Videoaufzeichnungen sowie Retrospektiven-Think-Aloud-Protokollen ausgewertet wird. So kann Georg W. Bertrams philosophische These, dass Kunst eine reflexive menschliche Praxis ist, mit deren Hilfe Menschen Stellung zu sich und ihrem Alltag beziehen (Bertram 2018), unter Beteiligung naturwissenschaftlicher Methoden empirisch belegt werden.
Noch komplexer sind die Systeme, die Nadja Reifer in ihrem künstlerischen Forschungsprojekt „Interspecies Incubation – eine Transformation menschenzentrierter Inkubationstheorien in Interspezies-Inkubationsassemblagen“ generiert, pflegt und untersucht. Schleimpilze als vielköpfige Organismen und maschinell lernende Systeme bilden gemeinsam mit dem Menschen eine artenübergreifende Assemblage und vermitteln zwischen den Welten und zwischen Formen der bewussten und unbewussten Kreativität. Auf einer breiten assoziativen Grundlage verschiedener Konzepte aus der Philosophie des New Materialism und ihrer Vordenker*innen wie der Sympoiesis von Donna Haraway, der Transkorporalität von Stacy Alaimo oder dem assoziierten Milieu von Gilbert Simondon können sich Interspezies-Inkubationsreaktoren als Kommunikationsschnittstelle zwischen dem rationalen, maschinell lernenden System, dem unvorhersehbaren biologischen Unterbewusstsein der Schleimpilze und menschlichen Daten realisieren. Deren Fähigkeiten, Daten zu analysieren und Muster zu erkennen, können neue Erkenntnisse über die Beziehungen verschiedener Wesenheiten und weitere Denkkonzepte zu Interspezies-Kollaboration hervorbringen.
Konzepte als Entwürfe für zukünftig anzustrebende Zustände benötigen für ihre praktische Umsetzung einen Plan, der „Mittel und Wege zur Erreichung der postulierten Ziele […] konkret formuliert“ (Graf et al. 2021: 16). Dass anhand eines solchen Plans aber noch lange nicht geschlossen werden kann, wie sich die Praktik vollzieht, beschreibt das wittgensteinsche Regel-Regressargument: Das physische Befolgen der geschriebenen Regel – oder des Plans – ist nicht mit dieser – oder diesem – identisch und kann nur in der Praxis selbst verfolgt werden (vgl. Dicke 2021: 47).
Auch für kollaborative Kunstvermittlungsprojekte gilt, dass sie sich zwischen Konzept und Praxis etablieren müssen, wobei sich beide Pole in rekursiven Schleifen optimieren. Im dritten Teil des Sammelbandes gibt der Beitrag von Jenny Schwarze, Pia Lamkemeyer, Joscha Heinrichs und Kerstin Hallmann Praxiseinblicke in ein gemeinsam entwickeltes, partizipativ organisiertes Vermittlungsprojekt zwischen Hochschule, Schule und Kunstinstitution. Ausgangspunkt ist die Thematik „Barrierefreiheit“, die anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Osnabrück und in Kooperation mit dem Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte Osnabrück und der Universität Osnabrück im Rahmen eines Kunstvermittlungsprojektes danach fragt, wie ein Abbau von Barrieren in Kultur- und Bildungsinstitutionen gelingen kann. Hierbei spielt nicht nur die interaktive Ebene zwischen allen Beteiligten eine Rolle, sondern immer auch die Kunst an sich sowie institutionelle Rahmenbedingungen oder digitale Tools, die in den Kommunikations- und Handlungsprozessen mitwirken. Eindrücklich schildern die Studierenden aus ihrer Perspektive, welche Erfahrungen sie gemacht haben und welche Herausforderungen sich erst im Verlauf des Projektes zeigten. In Relation zu den Reaktionen der beteiligten Schüler*innen, Lehrenden sowie der Kunstvermittlung werden mithilfe verschiedener theoretischer Bezüge diese praxiserforschenden Beobachtungen und Erfahrungen reflektiert und für Fragen zur barriereärmeren Gemeinschaftlichkeit in Vermittlungssituationen perspektiviert.
Miriam Schmidt-Wetzel untersucht in ihrem Beitrag, wie durch die COVID-19-Pandemie als Treiberin einer Ad-hoc-Distanzierung und Ad-hoc-Digitalisierung weitreichende Veränderungen angestoßen wurden, die für die Kunstvermittlung und den Kunstunterricht besondere Herausforderungen, aber auch Potentiale darstellen. Durch Einblicke in zwei Praxisbeispiele – eine Online-Tagung mit dem Titel “Auf der Suche nach der 5. Dimension (5D)“ und das Projekt “Vermittelt euch!“ im Kontext der documenta fifteen in Kassel – zeigt Schmidt-Wetzel kunstpädagogische Entwicklungs- und Vermittlungsversuche in gemeinschaftlichen Formationen auf. Ein „Denken und Handeln in Metaphern“ erweist sich hierbei für Schmidt-Wetzel als relevant, um im Kontext von Kunst und Kultur über zeitgenössische Vorstellungen und zukünftige Perspektiven zu sprechen und geteilte Bedeutungen hervorzubringen. Aus der reflexiven Betrachtung und Deutung der beiden kollaborativen Projekte wird anschaulich, wie kunstpädagogisch und kunstdidaktisch mit gemeinschaftlichen Praktiken ein Umdenken in herausfordernden Zeiten und unter komplexen Bedingungen ermöglicht werden kann.
Auch Claudia Rosskopf stellt in ihrem Beitrag „Vernetzt Euch! Impulse der documenta fifteen“ anhand von drei Seminarbeispielen aus der universitären Lehre vor, wie ausgehend von kollaborativen kuratorischen, künstlerischen und vermittlerischen Ansätzen der documenta fifteen gemeinsam mit Studierenden, Schüler*innen und Wissenschaftler*innen in unterschiedlichen Konstellationen kollektive Arbeitspraktiken und -konzepte in Kunst und Kultureller Bildung gesichtet, befragt und selbst erprobt werden. In den Befragungen werden sowohl konkrete Prozesse von Entscheidungsfindung, Projektkonzeptualisierung und -ausführung sowie Regelwerke und Kommunikationswege analysiert als auch die Rolle von Zeiten, Geschwindigkeiten und Räumen für diese Prozesse verglichen. Auf der Basis dieser Analysen, Vergleiche und eigenen Erfahrungen spannt Roßkopf ein weites Feld von Spannungsverhältnissen auf, in dem gemeinschaftliche Prozesse immer wieder neu austariert werden müssen.
Kollaborative, kollektive und gemeinschaftliche Praktiken führen nicht nur zu anderen Formen des Miteinanders und der kreativen Zusammenarbeit, sondern wirken häufig transformierend auf die Beteiligten und ändern Rollen- und Selbstverständnisse. Aus dem künstlerischen Umgang mit den gewandelten Rollen der Protagonist*innen im Gestaltungs- und Vermittlungsprozess können so neue Formen von künstlerischer, aber auch gesellschaftlicher Teilhabe entstehen. Dabei changieren diese Praktiken zwischen Realität und Vision, denn einerseits setzen sie visionäre Vorstellungen von einer Zukunft jenseits von diskriminierenden und ausbeuterischen Machtverhältnissen in konkrete Ziele um (vgl. Graf et al. 2021: 16). Andererseits gibt es neben der schon erwähnten misslungenen Aufarbeitung der Aus- und Darstellung antisemitischer Werke auf der documenta fifteen immer wieder Situationen, in denen Kollektive und Kollaborationen scheitern oder ihre Visionen verfehlen.
Die Künstlerin Ute Reeh verdeutlicht und veranschaulicht in ihrem Beitrag, wie Visionen von Teilhabe in hierarchischen Strukturen von Bildungsinstitutionen, städtischen Verwaltungen etc. Realität werden können. Anhand biografischer Notizen, Beobachtungen, eigener Zeichnungen und exemplarischer Projektbeschreibungen zeigt Reeh auf, was geschieht, wenn künstlerisches Handeln zum Mittel und Medium eines partizipatorischen Prozesses wird. Deutlich wird hierbei, was es heißt, mit allen Beteiligten darüber nachzudenken, was Kunst kann und welche transformativen Prozesse durch gemeinschaftliches künstlerisches Handeln im alltäglichen Leben, in schulischen Abläufen und in bürokratischen Strukturen ausgelöst werden können. Gila Kolbs kritische Überlegungen zum „Collaborative turn: Zum Widerständigen im Begriff des Gemeinschaftlichen“ bilden den Abschluss des Sammelbandes. Nicht nur gesellschaftlich, sondern auch pädagogisch hält Kolb Kollaboration für ideal, um mit den aktuellen Herausforderungen umzugehen. Ihr Appell besteht jedoch darin, Kollaboration nicht zu verordnen, sondern zu versuchen und dabei geduldig, fehlerfreundlich, hierarchiekritisch, agil und variabel zu sein sowie Straucheln, Misserfolge und Scheitern mitzudenken und zu benennen. Neu- und Umdenken, Zweifel, Widerstand und Widerstände sind so nicht nur durch gemeinschaftliche Prozesse möglich, sondern innerhalb von Gemeinschaftlichkeit notwendig.
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