Kontrollverlust und Kunst – Ein Werksbericht

„Herr KEINER leidet am KEINERSyndrom. Eines der vielen Symptome dieser Krankheit ist, dass Herr KEINER nicht mehr selbstständig entscheiden kann, was privat und was öffentlich ist. Seine Daten breiten sich unkontrolliert aus und haben das Haus befallen. Ich weiß, sie wollen sich das jetzt anschauen aber das ist nicht ganz ungefährlich. Das KEINERSyndrom ist hoch ansteckend! Zu ihrem Schutz und dem von Herrn KEINERs Privatsphäre wurde staatlicherseits ein Datenschützer – also ich – bereitgestellt. Ich darf Sie also darum bitten, meinen Anweisungen folge zu leisten, vor allem im Interesse von Herrn KEINER aber auch im Interesse der öffentlichen Ordnung.“

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Abb. 1: Foto: Ingolf Keiner

Das ruft Johannes Brandrupp – Schauspieler und nun Leiter des Kunstprojekts „Public is the new Private“ (1) den Besuchern zu. Er macht eine Führung durch das Haus in der Kastanienallee 64 in Berlin. Das Haus wurde künstlerisch transformiert vom Künstler Ingolf Keiner. In jedem Raum ist eine neue Welt entstanden. Ein großes Loch klafft zwischen den Räumen. Der eine tapeziert mit goldenen Barocktapeten, der andere kahl und schmutzig. Eine befleckte Matratze hängt vor dem Fenster. Ein Holzbalken ragt hinein. Was einst ein Flur war, vernetzt sich und die Tapetenreste zu einer die Architektur verratenden Matrix. Das Bad ist Aufbewahrungsstätte eines übergroßen, schwarzen Gehirns geworden. Hinten steht ein Mann und es tropft Neonfarbe von den Wänden. Ein Drittel eines anderen Raumes ist mit dick tropfendem Paraffinwachs überzogen. Zugepflastert mit 90 Fotografien, überladen mit verschiedenen Perspektiven auf das Sein, zerstört einer der Räume jeden klaren Blick auf das Selbst.

„Public is the new Private“ ist ein Kunstprojekt, das den Kontrollverlust über persönliche Daten feiert. Ingolf Keiner steht für den Jedermann in Zeiten der Digitalisierung. Und zugleich ist er Prototyp und Avantgarde in diesem Prozess. Er schafft einen Raum der Information, der nicht mehr dem Privaten oder dem Öffentlichen zuzuordnen ist. Er wurde zum Haus, damit einerseits abgekapselt von der Öffentlichkeit und gleichzeitig begehbar und inszeniert. Er stellt sich dar, wie wir in sozialen Netzwerken und beginnt dabei das Spiel der Identität.

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Abb. 2: Foto: Ingolf Keiner

Mehr als 8 Wochen arbeiteten wir an den Räumen, der Präsentation und der Geschichte um Ingolf Keiner, der sich in ein Haus verwandelte – und sich so begehbar machte. Keiner hat diesen Drang alles aufzunehmen und zu transformieren. Seine Identität löst sich im Strudel des Schaffens und Lernens langsam aber sicher auf. Nichts kann mehr privat sein, wenn alles von wo anders in ihn eindrang und es aus ihm wieder herausquillt.

Heraus kam eine transmediale Erzählung, die den Raum mit Videos im Netz, eine Inszenierung mit Kunstperformances, eine Begehbare Ausstellung mit Blogs, Twitteraccounts und Facebookkonten verband. Die völlige Aufgabe von Konsistenz und die Dissemination von Identität war Teil des Konzeptes.

FACEBOOK ID

Ebenfalls um Identität drehte sich das Kunstprojekt von Tobias Leingruber. Ursprünglich hieß es „Facebook Bureau“, doch Facebook intervenierte per Anwalt, weil es seine Markenrechte verletzt sah. Nun heißt das Projekt „Social Network Bureau“(2) , was der Wiedererkennbarkeit aber keinen Abbruch tut.

Facebook wird im Internet zunehmend zum Identitätsmonopolisten und reißt damit eine ureigenste hoheitliche Aufgabe an sich. Leingruber errichtet spontane Büros in Kunstausstellungen und hat eine Maschine dabei, mit der er Social Network-Ausweise herstellt. Die Daten dazu stehen frei von Facebook per API (die allgemeine Programmierschnittstelle) verfügbar. Man gibt im Büro seinen Nutzernamen an und bekommt den Ausweis ausgedruckt.

Facebook hat schon längst geschafft, was die Staaten – darunter auch Deutschland – gerade erst verzweifelt herzustellen versuchen: verbindliche Identifikation im Internet. Der ePersonalausweis, den der deutsche Staat seinen Bürgern anbietet, ist jedenfalls ein Ladenhüter. Und auch in anderen Ländern sieht es nicht besser aus. Die staatlichen Online-Identifikationsservices finden kaum eine Durchsetzung. Auf der anderen Seite hält Facebook immer öfter auch in behördlichen und offiziellen Gefilden Einzug. Der australische Supreme Court entschied bereits 2008, dass Gerichtspost auch per Facebookmessage als offiziell zugestellt gilt. (3)

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Abb. 3: Foto: Tobias Leingruber

Auf diesen Umstand versucht Leingruber aufmerksam zu machen. Während „Public is the new Private“ die Dissemination von Daten und Identität preist, problematisiert Leingruber die Monopolisierung der Identität durch Facebook. Leingruber weihte mich früh in das Projekt ein und wir diskutierten viel über das Thema und seine Bedeutung für die Privatsphäre und die Zukunft von Identität. Zum Start begleitete ich das Projekt, indem ich auch versuchte einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden.(4) Den sehe ich ausgerechnet in der Biometrie – also der Erfassung von Merkmalspunkten zu eindeutigen Profilen, die sich automatisch wiedererkennen lassen. Denn mit Biometrie – weil sie weiterhin am Merkmalsträger verbleibt – ist es möglich den Prozess der Identifikation zu dezentralisieren:

„Und genau hier liegt das Potential zur Durchbrechung des Identitätsmonopols von Facebook. Biometrische oder soziale Fingerprints werden es in Zukunft schaffen, uns plattformübergreifend zu identifizieren. Durch Biometrie und andere Fingerprinting-Methoden wird Identität – online wie offline – portierbar und emanzipiert sich von den Registern, egal ob denen in den Behörden oder der kalifornischen Datenbanken.“(5)

Transprivacy

Eines Tages schrieb mich der Düsseldorfer Künstler Florian Kuhlmann an. Er arbeitete an einem Projekt namens „Transprivacy“, dass sich multimedial mit Privatsphäre und Internet beschäftigen sollte. Kern des Projekts ist eine Plakataktion, zu der er Namenhafte Künstler versammelte wie Beispielsweise Momochrom, Übermorgen.com. Evan Roth und Johannes P. Osterhoff und andere. Jedes Plakat zum Thema wurde 200 mal gedruckt und in Düsseldorf plakatiert. Zudem bat er Blogger und Theoretiker aus dem Bereich für das Blog Beiträge zu verfassen. Der Ausgangspunkt von Transprivacy (ein Neologismus gebildet aus „Privacy“ und „Transparency“) ist die Verschränkung der ebenjener Sphären im digitalen Zeitalter.

Die Künstlergruppe Momochrom zum Beispiel verdächtigt die Privatsphäre, eine historische und vor allem in einem bestimmten Milieu verankerte Illusion zu sein und eben nicht dieser universelle Wert, der ihm gerne zugesprochen wird. „Privacy is a bourguise Fantasy“ beschreibt eine Erkenntnis, die durch den Kontrollverlust evident wird: wir hatten niemals wirkliche Privatsphäre, der Wunsch, die Informationen über uns kontrollieren zu können, entspringt einem durch und durch bürgerlichen Reflex.

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Abb. 4: Foto Florian Kuhlmann

Für das Projekt schrieb ich eine dreiteilige geschichtliche Aufarbeitung des Post-Privacy-Diskurses in Deutschland. Im ersten Teil (6) werden die theoretischen Grundlagen gelegt. Die Thesen über Post-Privacy und Datenschutzkritik von Christian Heller (7) , meine Formulierung des ctrl-Verlusts (8) und die Rede vom „German Paradox“ von Jeff Jarvis auf der re:publica bildeten die theoretischen Grundlagen der Debatte. Im zweiten Teil (9) berichte ich von den Ereignissen, die die Debatte befeuerten. Die Hysterie um Google Streetview, sowie die Auftritte von Wikileaks auf der Weltbühne lösten eine breite Debatte um die Grenzen der Privatsphäre und die Rolle des Geheimnisses aus. Im dritten und letzten Teil (10) wird der Übersprung der Debatte in die breite Öffentlichkeit behandelt. Die Piraten und ihr Dilemma um computergestützte partizipative Politik spielt eine Rolle, ebenso die Gründung der datenschutzkritischen „Spackeria“.

So sehr es auch der Überblickfindung dient, hat es dennoch etwas Merkwürdiges, den Diskurs um den Kontrollverlust zu historisieren. Die Auflösung fester Strukturen bei gleichzeitiger Neukombination der Elemente in Echtzeit ist es, was den Kontrollverlust durch die Digitalität wirklich ausmacht. Und da macht die Struktur „Geschichte“ keine Ausnahme. Jedes Datum lässt sich heute mit jedem anderen Datum beliebig in Beziehung setzen und so rekontextualisieren. Die Googlesuche bringt Goethe mit Buschido zusammen, Big Data unsere Konsumgewohnheiten mit Verkehrsdaten. Die historische Sicht auf die Dinge – die pseudokausale Chronologie der Ereignisse – ist nur eine mögliche von vielen Millionen, wenn auch die tradierteste.

Das Plakat des Amerikaners Evan Roth zeigt auf seinem Plakat die Startseite von Google in deren Suchschlitz die Worte „bad ass mother fucker“ stehen. Der Mauszeiger steht auf dem Button „I’m Feeling Lucky“, der den Suchenden immer direkt auf die Website des ersten Treffers bringt. Das ganze ist eine Anleitung. Folgt man ihr, gelangt man auf das Blog von Evan Roth. Der Hintergrund ist natürlich, dass Evan Roth seine Website so für Google optimiert hat, dass dieser Suchterm direkt auf ihn verweist. Über diesen Umweg macht er sich den „bad ass mother fucker“ indirekt, aber wirksam zu eigen. Google im identitären Zeugenstand.

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Abb. 5: Foto: Florian Kuhlmann

Und Roth zeigt auch, wie sich Öffentlichkeit verändert. Die Selbstattribution als „bad ass mother fucker“ erfolgt eben nicht direkt, sondern durch eine Suche des Betrachters. Die Suche, die auf den Googleservern eine Ergebnisseite generiert und verschiedene Links in einen Kontext zusammenschweißt, der ausschließlich durch diese Suche vorgebeben ist ist wie „Geschichte“ eine Sinnstruktur, die Identität verleiht. Die neue Zeit definiert sich nämlich weniger dadurch, was jemand von sich Preis gibt, sondern mit welcher Suchrealität die Gegenseiten unterwegs sind. Der Mensch ist nur noch unter anderem das Ergebnis aufgezeichneter Ereignisse, sondern vor allem ein Knoten im Netz verschiedener Attribute. Diese sogenannte „Queryöffentlichkeit“ kennt kein fest definiertes Publikum, sondern das Publikum definiert die Öffentlichkeit durch ihre Suche.

Google

Was wir in die Suchmaschine tippen gehört auch deshalb zum Intimsten überhaupt. Es entlarvt Interessen, Wissenslücken oder gar sexuelle Vorlieben und Krankheiten. Was, wenn man alle diese Suchen über sich digital öffentlich macht und sie somit wieder in die Selbstattribution einspeist? Johannes P. Osterhoff hat dies in seinem Projekt „Google“(11) an sich selbst ausprobiert. Auf einer Website veröffentlichte er ein Jahr lang alle seine Googlesuchen. Ein kleines sebstentwickeltes Plugin für den Browser Firefox nimmt alle Suchen, die er startet auf und sendet die Suchbegriffe an ein WordPressblog weiter, wo sie instantan veröffentlicht werden. Sie werden in einem fertig zu benutzenden Google-Suchschlitz dargestellt, so dass der Besucher nur noch den Searchbutton drücken muss, um die selbe Googleanfrange zu starten.

Während der Transmediale 2012 lud Osterhoff verschiedene Blogger ein, selbst Teil des Projektes zu werden und die eigenen Suchanfragen zu publizieren, z.B. auch mich.(12)

Hier fließt alles zusammen: der Verlust der Privatsphäre, die Zerstreuung der Identität in tausende Suchanfragen, ihre Wiederzusammenführung in einer monopolistischen Zentralinstanz und die Auflösung in der Suchanfrage des Anderen. Wenn Johannes P. Osterhoff etwas googelt, was es nicht gibt, wird er das nächste Mal einen Treffer landen: seine eigene Seite. In der Zusammenschau der Suchanfragen verbindet sich das Bild – nicht einer Person – sondern einer Realitätskonstruktion.

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Abb. 6: Foto: Johannes P. Osterhoff

Vielleicht ist ja der eigene Weltbezug die wichtigste Intimität. Unsere Augen, unsere Sehgewohnheiten, unsere Interpretationsneigungen, wem wir Vertrauen, wem wir nicht vertrauen, wie unsere Filter aussehen, wem wir zuhören, wo wir weghören und wonach wir googlen. Wenn dieser Realitätsbezug durch Googlebarkeit wieder mit sich selbst rückgekoppelt wird, verschwindet dann die Identität in einer Moebiusschleife?

Am Ende fließt alles zusammen in diesen Fragen nach der Query. Wir sind, wonach wir fragen und wir werden gesehen durch die jeweilige Frage des Anderen. Und es wird klar, dass sich Identität zersplittern musste, um jederzeit frei rekombinierbar für die Query des Anderen zur Verfügung zu stehen. Wir sind weit mehr als ein geschichtlicher Zusammenhang und im Grunde wird das erst im digitalen Zeitalter abbildbar.

Endnoten

1 Das Projekt Public is the new Private: www.publicisthenewprivate.com

2 Das Projekt Social Network Bureau: fbbureau.com

3 Towell, Noel (2008): Lawyers to Serve Notices on Facebook. In: The Age vom 16.12.2008, online unter: www.theage.com.au/articles/2008/12/16/1229189579001.html [11.03.2012].

4 Seemann, Michael: Die echte Facebookfalle und wie wir wieder herauskommen: www.ctrl-verlust.net/die-echte-facebookfalle-und-wie-wir-wieder-herauskommen/

5 Ebd.

6 Seemann, Michael: Eine kurze Geschichte der Post-Privacy – Post-Privacy, Kontrollverlust und das German Paradox: www.transprivacy.com/der-blog/blog-post/2011/10/12/eine-kurze-geschichte-der-postprivacy-teil-i-postprivacy-kontrollverlust-und-das-german-parad/

7 Heller, Christian: Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre. München 2011

8 Vgl. ctrl-verlust.net

9 Seemann, Michael: Eine kurze Geschichte der Post-Privacy – StreetView, Wikileaks und die liquide Demokratie. www.transprivacy.com/der-blog/blog-post/2011/10/28/eine-kurze-geschichte-der-postprivacy-teil-ii/

10 Seemann, Michael: Eine kurze Geschichte der Post-Privacy – Filtersouveränität, Spackeria und die Datenschutzkritik: www.transprivacy.com/der-blog/blog-post/2011/11/03/postprivacy-teil-iii-filtersouveraenitaet-spackeria-und-die-datenschutzkritik/

11 Das Projekt Google von Johannes P. Osterhoff: google.johannes-p-osterhoff.com+

12 google-performance.org/query/author/m

Von Michael Seemann

Veröffentlicht am 23. September 2013

Zitiervorschlag

Seemann, Michael: Kontrollverlust und Kunst – Ein Werksbericht, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2013. Quelle: https://zkmb.de/kontrollverlust-und-kunst-ein-werksbericht/; Letzter Zugriff: 22.12.2024

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