Kritisch werden im Vermittlungskontext ästhetischer Erfahrungsräume. Zwei Beispiele aus der Repräsentationskritik

Der Diskurs um Kritik in ästhetischen Erfahrungs- und Vermittlungsräumen hat vielgestaltliche Formen und Stränge mit je unterschiedlichen Schwerpunkten auf bereichsspezifische Teilaspekte. Beispielsweise die kritische Pädagogik und Erziehungswissenschaft mit Bezügen zur Kunst (siehe z. B. Klafki 1982, Mollenhauer 1972), die reflexive und emanzipatorische Kulturpädagogik (siehe z. B. Hoffmann 1981), ästhetische Zugriffe auf die Kritische Theorie (siehe z. B. Laner 2018), die Kulturwissenschaften (siehe z. Schade/Wenk 2011) oder die repräsentationskritische Kunstvermittlung (siehe z. B. Mörsch 2017) stellen unter verschiedenen, an manchen Stellen überlagernden, teils einander kontrastierenden oder ergänzenden Prämissen Kritik ins Zentrum. Der Komplex wird dabei an den einen Stellen als Forschungsgegenstand, an anderen Stellen als handlungsleitender Impetus oder als diese beiden Modi beziehend aufeinander behandelt und verwendet. Ein zeitgenössischer Blick auf den schulischen Bildungskontext und die neuen österreichischen Lehrpläne mit der expliziten, überfachlichen Aufforderung darin, kritisches Denken zu vermitteln, lässt die Notwendigkeit für gegenwartsbezogene, symptomatische Positionsbestimmungen aller in Vermittlungssituationen Beteiligter evident werden. Was muss der Vermittlung von kritischem Denken vorausgehen, um diese erfolgreich zur Umsetzung zu bringen, wann beginnt das Kritisch-Sein und wo liegen die Qualitäten ästhetischer Erfahrungsräume dabei?

Die folgenden Ausführungen gehen davon aus, dass bestimmte Fähigkeiten in ästhetischen Erfahrungsräumen geschult und verfeinert werden können. Diese meinen unter Rekurs auf Alexander G. Baumgarten beispielsweise scharfsinniges Empfinden, Vorstellungskraft sowie das Vermögen, gedanklich entworfenen und sinnlich wahrgenommenen Eindrücken Ausdruck zu verleihen (vgl. Baumgarten 1988). Im wiederholten Ausüben und Üben ästhetischen Erfahrens werden Prozesse des Lernens initiiert (vgl. ebd.), die unter dem Schirm ästhetischer Bildung auch, so die Leitlinie dieses Textes, das differenzierte Üben von Kritik und, mit Blick auf tradierte hegemoniale Selbstverständnisse, Sensibilität für Renovierungsbestrebungen epistemischer Kräfteverhältnisse vermitteln. Jene ästhetischen Erfahrungsräume, die hierin Behandlung finden, beziehen sich auf Umgebungen, in denen durch die rezeptive wie produktive Auseinandersetzung mit künstlerischen Artefakten und Ausdrucksformen eine Aneignung und Schärfung der eben genannten Fertigkeiten angebahnt werden können[1].

In diesem Beitrag wird das Üben von Kritik als Werkzeug und Prozess zur Neukonfiguration epistemischer Verhältnisse verhandelt. Der Artikel stellt dabei einen Versuch dar, das Feld ästhetischer Erfahrungsräume zu sondieren und den Terminus Kritik hinsichtlich seiner spezifischen Qualitäten im Kontext Kunst und Bildung abzutasten mit dem Ziel, Verortungen kritischer Praktiken im Vermittlungskontext vorzunehmen. Die Relevanz, die das Auskundschaften von ausdrücklich ästhetischen Erfahrungsräumen auf der Suche nach jenen Bestimmungen mit sich bringt, bildet sich in der These ab, dass sich grundlegende Bedingungen für das Aneignen eines kritischen Vermögens auf eben genau diesen Arealen befinden. Konkret wird der Frage nachgegangen, was Kritik im vermittelnden Bezugsrahmen ästhetischer Erfahrungsräume und gründend auf repräsentationskritischen Forschungszugängen meinen kann. Ich diskutiere dazu die Positionen von Annette Krauss und Nora Sternfeld. Das Konzept des Unlearnings (im deutschsprachigen Diskurs als Verlernen gebräuchlich bzw. bei Krauss mit Ent-Üben übersetzt) ist für beide konstitutives Fundament und wird hierin herangezogen, um Annäherungen an Kritik als Gegenstand und Methode im Beziehungsgefüge von Kunst und Bildung zu entwerfen. Daran geknüpft sind Überlegungen dazu, was Kritisieren in Vermittlungssituationen bedeutet, wenn (mindestens) zwei Instanzen aufeinandertreffen – jemand, die*der vermittelt, und jemand, der*dem etwas vermittelt wird: Wie gestaltet sich das Beziehungs- und Bedingungsgefüge zwischen den involvierten Individuen und Gruppen? Welche Rolle spielen Dauer und Ort des Zusammentreffens? Wer übt woran und von wo aus Kritik? Wer setzt sich dem Unlearning aus und wer wird diesem ausgesetzt? Was bedeutet kritisches Handeln und Einüben von Kritik in diesem dialogischen Kontext? Dazu stelle ich in einem ersten Teil Krauss’ und Sternfelds Zugänge vor. Danach nehme ich eine kontextuelle Einbettung von Unlearning vor und gehe auf das Vermögen von Kritik zu Gunsten eines Wandels epistemischer Kräfteverhältnisse ein. Ich perspektiviere dabei Kritik ebenso wie das Konzept des Unlearnings aufbauend auf einem Näheverhältnis (im Gegensatz zu einem Distanzverhältnis). Sowohl zwischen den Bezugsgegenständen und den ästhetischen Vermittlungssituationen als auch zwischen den Beteiligten innerhalb der Vermittlungssituationen untereinander und zwischen den Gegenständen und den Beteiligten ist das Einander-nahe-Werden in der hierin verfolgten Argumentationslinie bestimmender Prozessbestandteil.

 

Annette Krauss: Verstecktes Wissen in der Schule

Annette Krauss konzentriert sich in ihrer künstlerischen, vermittelnden und wissenschaftlichen Arbeit auf Momente des Wissenstransfers, die in bildungspolitischen Direktiven und Curricula nicht explizit gemacht sind. Bezugnehmend auf Strömungen der kritischen Pädagogik aus den 1970er und 1980er Jahren vertritt sie die Auffassung, dass Kritik im Feld der Kunst und jene im sozialen Miteinander nicht voneinander getrennt zu begreifen sind und neben formalen auch jene informellen Aspekte des (Ver-)Lernens in den Blick zu nehmen sind, die nicht vorab als solche spezifiziert und bereits explizit gemacht wurden (vgl. Krauss 2018). In ihrem umfangreichen Projekt Hidden Curriculum stellt sie habitualisierte Praktiken und Modi der Wissensvermittlung in Frage, die in schulischen Bildungssystemen eingeschrieben sind. Sie begibt sich dabei gemeinsam mit Schüler*innen in einen Arbeitsprozess offenen Ausgangs, in dem die Funktionsweisen der ungeschriebenen „Codes of Conduct“ dechiffriert werden. Dazu werden gemeinschaftlich künstlerische Interventionen konzipiert, die jene Orte für Wissensproduktion öffnen, die offiziell nicht dafür vorgesehen sind. Es wird gemeinsam versucht offenzulegen, wo Momente impliziten Wissens ausfindig zu machen sind, wo und wie sich hegemoniale Machstrukturen zeigen und wie schulische Wissensökonomie funktioniert, in der vornehmlich Wissen weitergegeben wird, das institutionell abgesegnet wurde (vgl. Krauss/Pethick/Vishmidt 2010). Diese Beobachtung mit der Konsequenz, sich als Vermittelnde einem gesicherten, vorgeschriebenen Kanon bedienen zu müssen, wirft die Frage auf, was genau darunter zu verstehen ist, wenn, um ein Beispiel zu nennen, in den Leitvorstellungen des aktuellen österreichischen Lehrplans kritisches Denken[2] seitens der Schüler*innen als eine der vier wichtigsten überfachlichen Fertigkeiten festgeschrieben steht (vgl. RIS Lehrplan der AHS 2023). Es scheint einen Graben zu geben, der sich öffnet zwischen einerseits dem dezidierten, mehrfachen formalisierten Appell, Edukand*innen dazu zu befähigen, kritisch mit den Inhalten zu verfahren, die ihnen beigebracht werden, und andererseits einem diffusen Verständnis von Kritik sowie den wenig flexiblen hegemonialen Strukturen, nach und in denen tatsächlich gelehrt und gelernt wird. Das ernüchternde Zwischenfazit vieler zu Hegemoniekonstellationen forschender Akteur*innen in der (Kunst-)Vermittlung (z. B. Spivak 2013, Sternfeld 2018, Krauss 2019, Mörsch 2020) lässt die Notwendigkeit aufkommen über Definitionskriterien nachzudenken, was unter Kritik im Bildungskontext der Kunst aber auch weitgreifender verstanden und von wo aus sie geübt werden will, darf, kann und muss, um dementsprechend Fertigkeiten dafür zu vermitteln. Allem voran scheint die Kluft evident zu machen, dass in diesem Rahmen ein unverzichtbarer Schritt im Prozess der Hinführung zur und Weitergabe der Fähigkeit, Kritik zu üben, übersehen bleibt. Nämlich jener, dass zuvorderst für die Lehrenden und Vermittelnden zu spezifizieren ist, was darunter verstanden werden kann und wie sich Kritik als solche sowie deren Weitergabe vollziehen lässt, sodass sie als jener integrale Bestandteil von Bildung angebahnt werden kann, als der sie ministeriell eingefordert wird.[3]

Mit Hidden Curriculum zeichnet Krauss einen induktiven Weg vor für das Üben von Kritik in der Praxis. Im Zentrum steht die Dekonstruktion institutionalisierten Wissens auf der Ebene schulischer Bildung und Wissensvermittlung. Es geht dabei um die Machtverhältnismäßigkeit zwischen drei beteiligten Gliedern: Lernenden, Lehrenden sowie dem übergeordneten schulischen Bildungssystem, das die beiden einschließt. Sie macht sich stark dafür, dass in diesem von Ungleichheiten und Hierarchien dominierten Gefüge machtintrigierte Inhalte aufgebrochen werden, und arbeitet Harasym folgend daran, unhinterfragte und für gegeben erachtete Festsetzungen und Privilegien sichtbar zu machen (vgl. Krauss 2019). Speziell in diesem Setting bindet sie Schüler*innen als Dekonstrukteur*innen aktiv ein. Ihnen, die in den projektbezogenen und für sie anfangs ungewohnt selbstbestimmten und hierarchiefreien Arbeitssituationen ohne prädominierende Kontrollinstanz angehalten sind, zu tun und zu denken, wird federführende Handlungsleitung zugesprochen. Krauss problematisiert mit dieser Setzung bewusst das Fundament, auf dem Wissensvermittlung in der Schule stattfindet, und arbeitet damit an einer neuen Antwort auf Simon Sheikhs Frage „Which system are we educating people for?“, wobei sie weiterfragt: „How could we learn not to be compliant, functioning agents of a dominant (hence contested) social and economic system?” (Krauss 2010: 252) Für diese zweite Frage scheint es sinnvoll, explizit zu machen, an wen sie gerichtet ist und wer mit dem Wir (engl. we) gemeint ist. Bevor die Frage Lernenden gestellt und sie mit dem Erarbeiten und Üben einer kritischen Haltung gegenüber den behandelten Gegenständen konfrontiert werden können, gilt es für Lehrende, sich der Implikationen dieser Anforderung bewusst zu werden. Um von einer zukünftig eigeninitiativen Tätigkeit des Kritikübens der Schüler*innen ausgehen zu können, die nach Schulabschluss von sich aus „blind spots“ ausmachen sowie kritisch wahrnehmen und betrachten mögen, ist eine diesem Erfordernis zuträgliche Haltung und Kenntnis, also Informiertheit und Sensibilität, der Vermittelnden nötig und zwar in Bezug sowohl auf ihre eigene Praxis – ihr methodisches Vorgehen – als auch auf die zu vermittelnden Inhalte und die eigene Positionalität, von der aus gesprochen und gehandelt wird. Lehrende bekleiden in der asymmetrischen Hierarchieordnung eine erhabene, machtvolle Position gegenüber Lernenden. Das verlangt die Bewusstseinsbildung und Reflexion bezüglich ihrer eigenen Stellung oder gewissermaßen ihres Ranges und das Erfordernis hin zur Aufdeckung tradierter Kräfteverhältnisse im Sinne eines Kritikverständnisses, das sich reaktionären epistemischen Hegemonien tatsächlich entgegenstellt. Krauss’ Bezugnahme auf das Konzept des Unlearnings in der Kunst in Verbindung mit institutionalisierten Formationen wie der Schule (vgl. Krauss 2019) gibt Anlass, um über die Situierung ihres Kritikbegriffes nachzudenken: Wissen ist konstruiert, über die Zeit hinweg veränderlich und in jedem Fall einflussnehmend auf das Selbst- und Weltverhältnis von Lernenden. Akteur*innen beider Felder – der Schule ebenso wie der Kunst – sind darum bemüht oder werden dem Lehrplan folgend zumindest dazu angehalten, dominante Dogmen und festgeschriebene Regeln aufzulösen. Kritik mit Mitteln der Kunst zu üben, die qua Wesenheit sich vereinheitlichten Regelwerken zu entziehen sucht, rückt dabei einen Komplex ins Licht, der als Reibungsfläche im Prozess des Kritisierens geltend gemacht werden kann: Normen. In der Kunst lässt sich eine Überwindungsmanier feststellen, die sich lieber an imaginativen Zukünften orientiert, als sich dem zu widmen, was überwunden werden will (vgl. Laner/ Rieger-Ladich 2023). Sowohl im schulischen als auch im musealen Vermittlungskontext hingegen darf demnach gefragt werden, welchen Bedingungen dieses Überwinden aktueller Festsetzungen in der und durch die Kunst unterliegt, ob und inwiefern diese per se bereits als Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Ordnungen gelesen werden darf und woraus sich das Vorgehen speist. Was diesbezüglich in Krauss’ Hidden Curriculum der intervenie-renden künstlerischen Praxis der Schüler*innen vorausgeht, ist ein eingehender Informations- und Reflexionsprozess des Status Quos respektive der geltenden Normen. Dieser ist notwendigerweise zuerst von der vermittelnden Lehrperson selbst zu vollziehen, um sich ihm im zweiten Schritt gemeinsam mit Schüler*innen zu widmen. Die künstlerisch forschenden Teams nehmen wahr, erkunden und analysieren ihre Umgebung, bevor sie ihre Beobachtungen in performative Gesten der Kritik am System Schule transferieren. Worauf zielen diese Interventionen aber genau? Für ein Verständnis darüber sei hier die Frage in veränderter Form in den Raum gestellt, um die Bestimmungen, die verfolgt werden, herauszulösen aus ihrer abstrakten Ungreifbarkeit: Wer ist eigentlich das System Schule, auf wen zielt die künstlerisch vollzogene Kritik ab und wer wird hier indirekt zuallererst dazu angehalten, zu lernen, Kritik zu üben und woran und an wem? Auch an dieser Stelle wird sichtbar, dass Lehrpersonen sich nicht nur als Veranlasser*innen derartigen Kritik-Vollzugs zu begreifen haben, sondern als Teile des Systems (um nicht zu sagen des Problems), denen durch die künstlerischen Interventionen ein selbstkritisches Überdenken nahegelegt wird.

An Krauss’ Projekt wird außerdem sichtbar, dass künstlerische Äußerungen also nicht bedingungslos und kontextfrei als Kritik zu verstehen sind, sondern als Artefakte, die in einem Kausalzusammenhang mit einer umfänglichen vorangegangenen Sammlung an Sinneseindrücken, Reflexion, Selbstreflexion und speziell in diesem Fall auch gegenseitiger Information in Form von intensivem diskursiven Austausch in der Gruppe. Dementsprechend steckt in den kollaborativ geschaffenen Arbeiten ein (mindestens) dreifaches kritisches Moment, das sich erstens im begründenden inhaltlichen Kontextualisieren, also im miteinander Sprechen und Denken, zeigt, zweitens in der gemeinschaftlichen künstlerischen Praxis, also im Tun, sowie drittens in den Produkten selbst. Die beiden ersten Prozessschritte im Akt zur Erarbeitung einer kritischen Haltung, auf Basis der ein Ent-Üben oder Verlernen passieren kann, gehen dem künstlerischen Produkt voraus und sind unentbehrlich. Die künstlerischen Artefakte würden ohne ein Informiert-Sein, das sich im Laufe des Prozesses einstellt, in der finalen Form nicht jenen kritischen Gehalt aufweisen, den es durch die reflexiven vorangegangenen Aushandlungen und Erkennensvorgänge erreicht hat. Nicht zuerst durch das künstlerische Ergebnis, im Artefakt selbst, sondern im diskursiven und leiblich erfahrenen Miteinander stellt sich das ein, was als Irritation innerhalb gegebener Umstände und initialer Moment des Kritisch-Werdens seitens der Lernenden beschrieben werden könnte. Der Reflexionsarbeit seitens der Schüler*innen, die der Herausbildung eines kritischen Vermögens den Weg ebnet, geht ein viel weiter zurück reichender Beginn und Prozess der Reflexionsarbeit seitens der Vermittelnden voraus. Die Dimensionierung des Möglichkeitsraumes, den Vermittelnde mit der raumzeitlichen Ausgestaltung ihrer Lehrangebote und Fragestellungen für das gemeinsame Kritisch-Werden mit den Schüler*innen eröffnen, resultiert nicht zuletzt aus ihren eigenen (selbst-)reflexiven Vorerfahrungen zuerst als Lernende und später ebenso als Lehrende. Der Umraum rund um diesen Rahmen zeichnet, wenn auch lediglich bedingt fassbar, die Limitationen dessen auf, was gelernt und entübt werden kann. Die Grenzen der Kritik im Sinne eines Verlernens durch künstlerisch forschendes Tun und Untersuchen können so gesehen dort ausgemacht werden, wo die Wahrnehmung und in einem nächsten Schritt die Artikulation und Reflexion des Wahrgenommenen – in diesem Fall geht es um bestehende hegemoniale Verhältnisse und Nicht-Orte des Lernens – nicht mehr oder noch nicht gegeben sind, dort also, wo es keinen irritativen Moment gibt und demzufolge nichts zur Sprache gebracht werden kann, das es zu verlernen gälte. Mit jeder neuen ästhetischen Vermittlungssituation und jedem Näher-Kommen können sich diese Limitationen verflüchtigen und sich die Felder erweitern. Dem Außen jenseits des aufgesponnenen ästhetischen Erfahrungsraumes ist damit immer auch die Anlage zur Ent- und Aufdeckung inhärent. Das Fallbeispiel des Hidden Curriculums macht die bedeutsame Aufgabe und Arbeit von Vermittler*innen verstanden als Lehrende und (immerwährend) Lernende begreiflich, die gemeinsam mit Schüler*innen diese Grenzen aufspüren, sie auskundschaften und sich dadurch ihnen annähern, um sie in weiterer Folge überschreiten, erweitern und/oder auflösen zu können.

 

Nora Sternfeld: Eine kritische und selbstkritische Museologie

Für Krauss sind es der Klassenraum und die Schule, bei Nora Sternfeld ist es das Museum, das als Ort der Wissensvermittlung im Mittelpunkt ihrer Forschungspraxis und als „Arena“ oder auch „Kontaktzone“ in der Auseinandersetzung mit im gesellschaftspolitischen und kunst-kontextuellen Bezugsfeld geerbten und verankerten hegemonialen Machtstrukturen steht (Sternfeld 2018: 58). Sternfeld bemüht sich in der praktischen Vermittlungsarbeit wie in deren theoretischer Einfassung ihrem Arbeitsmaterial Kunst gefasst als museales Archiv Aktualisierungen abzuverlangen. Dabei versteht sie Foucault folgend Archiv als „Horizont dessen, was gesagt, gesehen und gedacht werden kann“ (Sternfeld 2018: 65). Künstlerische, kuratorische und vermittelnde Arbeitspraxen sollen nicht voneinander getrennt behandelt, sondern allesamt als in gleicher Weise relevante und funktionierende Modi hegemonialer Umwälzungen begriffen werden. Sie adressiert mit dieser Rahmung in und mit ihrer Arbeit mehrere unterschiedliche in (Ver-)Lernprozesse involvierte Akteur*innengruppen, die Teile im musealen Hierarchienetzwerk sind und angehalten werden, in ihrem jeweiligen Handlungsradius Überschreitungen des tradierten Gegebenen vorzunehmen und auf die Wege zu bringen.

Im Rahmen von trafo.K, einem Büro für Kunstvermittlung im Spannungsfeld kritischer Wissenserzeugung, stellt sich Sternfeld gemeinsam mit Kolleg*innen der Herausforderung, in gemeinschaftlichen Reflexions- und Lernsituationen mit Interessierten Fragen zu entwickeln, anhand der über Teilhabesysteme, Zugangsvoraussetzungen und Grundansichten in der zeitgenössischen Kunst und deren Ausstellungsplattformen nach- und weitergedacht wird. Dabei geht es nicht in erster Linie um deren Beantwortung, sondern vielmehr darum, sie als Impulse für Weiterführendes zu nutzen. „Was heißt alle?“ ist eine der Fragen, die in der Vermittlungsarbeit bei trafo.K als Angelpunkt im Mittelunkt stehen (Büro trafo.K 2023: 2). Sie stellt damit in den Raum, dass mit alle nicht wirklich alle gemeint sind. Die Frage verlangt nach der Absicht und dem Bestreben, Dinge anders sehen zu wollen, als sie zu einem bestimmten Zeitpunkt gesehen werden können oder sie sich zeigen. Wesentlich dabei ist die Motivation, nach Neuem, noch Unbekanntem zu sinnen. Kritisch zu sein erscheint in diesem Lichte also nicht als etwas Statisches oder Punktuelles, sondern setzt ein anhaltendes bewusstes Hinwenden zu noch Unbekanntem und eine Feinsinnigkeit voraus, die das Wahrnehmen individueller oder kollektiver Erfahrungs- und/oder Wissenslücken bedingt, denen nachgegangen werden will. Ausgehend von der Informiertheit, Prozesshaftigkeit und Sensibilität, die mit der Übung ästhetischer Wahrnehmungsfähigkeit einher gehen, grenzt sich der Kritikbegriff, der hierin verhandelt wird, von einer bloßen Skepsis gegenüber Sachverhalten ab, die im alltagssprachlichen Gebrauch oft als Synonym für Kritik gebraucht wird.

Ebenso zentral wie bei Krauss hinsichtlich der Art, wie Kritik am bestehenden System geübt und strukturell umgesetzt wird, ist die Partizipation. Erst dann ist die höchste von Mörschs Vermittlungsformen wirksam, die als „transformative“ und anzustrebende gekennzeichnet ist (Sternfeld 2018: 75). Transformative Vermittlung geht, so Sternfeld, als einzige über das reine Ausüben von Kritik und Dekonstruieren hinaus und führt tatsächlich zu Änderungen bestehender Verhältnisse: Ziel für Vermittelnde ist nicht, nur Teil des Spiels um Machtverhältnisse und Repräsentation zu sein, sondern Spielregeln aktiv mit und neu zu gestalten (vgl. Sternfeld 2018). In Bildungsprozessen müsse sozialer und politischer Wandel an vorderster Stelle stehen (vgl. Prottas 2020). Das macht auch Sternfelds Verständnis von Wissen im Kontext ihrer repräsentationskritischen Vermittlungspraxis und -theorie begreiflich, das sie mit Donna Haraway als situiertes Wissen („embodied knowledge“) beschreibt (vgl. Prottas 2020). Das hegemoniale Netzwerk, in das dieses eingesponnen ist, fasst Sternfeld auch als pädagogisches. Dabei beruft sie sich auf Antonio Gramsci, der für die Überzeugung plädiert, dass Macht nicht nur ein ökonomisch und disziplinär bedingter und konstruierter Aufbau ist, sondern immer auch ein gelernter, also ein im Zuge von Bildungsprozessen vollzogener und reproduzierter (vgl. Sternfeld 2014). Um diesen wieder zu verlernen, steht laut Sternfeld rekurrierend auf bell hooks das Denken und Arbeiten miteinander und Lernen voneinander im Mittelpunkt (vgl. ebd.). Resultieren darf daraus nicht lediglich eine einsichtige Retrospektive auf die Vergangenheit, sondern eine neu zu habitualisierende Sensibilität im Handeln und im Schaffen von neuem Wissen in der Gegenwart und für die Zukunft (vgl. Sternfeld 2014). Den Akteur*innen, die im museologischen Kosmos wissensvermittelnde Funktionen innehaben, wird die verantwortungsvolle und damit zugleich machtvolle Aufgabe zuteil, Museen als Orte der Hegemonie zu problematisieren und in ihren jeweiligen diskursiven Rahmen zu kontextualisieren. Auch hier wird die notwendige und selbstreferentielle Hinwendung der Vermittelnden zur Kritik an der eigenen Praxis und epistemischen Situiertheit im ästhetischen Erfahrungsraum evident.

Sternfeld betont, dass im Zuge eines produktiven Verlernprozesses innerhalb transformativer Vermittlungssettings nicht genug damit getan sei, Kritik lediglich kundzutun. Sie spricht sich im Diskurs um Kritik als Akt des Verlernens für die Unverzichtbarkeit handlungspraktischen Tuns aus. Die Hauptprotagonist*innen, an die Sternfeld diese Imperative richtet und die sie zum aktiven Zusammenwirken und Kritisch-Werden anhält, inkludieren nicht – zumindest nicht in erster Linie – wie bei Krauss Schüler*innen respektive Lernende, die an Verlernprozesse (initial) heranzuführen sind. Vielmehr wendet sie sich mit den Forderungen nach aktualisierenden, kritischen Handlungsformen, „die Hegemonien herausfordern“, zunächst an all jene, die im ästhetischen Feld bereits als etwelchermaßen informierte Vermittelnde tätig sind und zu denen sie auch Kuratierende und Ausstellende zählt (Sternfeld 2017: 190). So verstanden wird hier das (Ein-)Üben von Kritik nicht in einem Gefüge zwischen Lehrenden und Lernenden verhandelt, sondern als systemische Wegleitung für Lehrende als Lernende. Was mit dem Bestreben hin zur Kritik als anwendungs- und handlungsbezogene Geste zum Vorschein tritt, ist die Setzung, sie in ihrer konzeptuellen Fassung als etwas Sach- und Leibgebundenes und dem voran gestellt auch -verbindendes zu begreifen. Theoriebasierte Urteile werden aus dieser leiblichen Perspektive und damit unter Anerkennung der eigenen natürlichen Begrenztheit sowie der Eingeschriebenheit in hierarchische Systeme – hier das der (musealen) Kunst(-vermittlung) – in situierte Manifestationen überführt. Sternfeld ruft Ver-mittelnde zur Partizipation und aktiven Teilhabe am Neuverhandeln der Spielregeln ebendieses Systems auf (vgl. Sternfeld 2018). Sie bezieht sich dabei auch an dieser Stelle nicht auf konkrete Vermittlungssituationen mit Lernenden in ästhetischen Erfahrungsräumen, sondern entwirft auf einer schirmgebenden Metaebene einen Strukturansatz, den sie als wünschenswerte und notwendige Kursrichtung zur Etablierung einer repräsentationskritischen Vermittlungspraxis empfiehlt. Darin enthalten sind (mindestens) drei Spezifika des Übens von Kritik:

Das gemeinschaftliche diskursive Miteinander, an das sich ein kollektives und fortwährendes Informieren schließt, außerdem die Sach- und Leibgebundenheit und damit die Notwendigkeit zur Selbstkritik von Vermittelnden als Teile des Systems und zuletzt der iterierende Lernprozess, also das Üben oder Einüben, dessen Effekte sich erst im Zuge repetitiver Auseinandersetzung mit einem Stoff zeigen.

 

Kunstvermittlung als Plattform für das Aushandeln von Machtverhältnissen

Sowohl Krauss als auch Sternfeld entwickeln ihre Positionen vor dem Hintergrund einer bereits mehrere Jahrzehnte andauernden Debatte. Im Diskurs über Kunst und ihre Vermittlung stellt spätestens seit den 1970er Jahren die Frage nach den epistemischen Kräfteverhältnissen ein prävalentes Aushandlungsfeld dar (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009). Vermittelnde in ästhetischen Erfahrungsräumen, die Kunst als Gegenstand haben, sind konfrontiert mit der konfliktreichen Herausforderung, Zugänglichkeit zu schaffen sowie musealen/institutionellen Elitarismus abzufedern mit dem Anspruch, möglichst allen verständlich nahezubringen, was auserlesene Kreise in die (museale) Kunstwelt bringen oder für sie auswählen (vgl. Puffert 2005). Sich als Vermittelnde*r selbst als (lebenslange*n) Lernende*n zu begreifen und ausgehend von diesem Verständnis sich mit der eigenen Positioniertheit inmitten des Systems (selbst)kritisch zu konfrontieren, bevor in Vermittlungssituationen andere involviert werden, ist dabei unumgänglich, wie Sternfeld ins Feld führt. Die ungleichen Erfahrungs- und Wissenshorizonte der verschiedenen handelnden Personengruppen zeichnen das asymmetrische Kräfteverhältnis nach, für deren Lückenfüllung Vermittelnde Schlüsselstellen sind. Ein aktuelles Beispiel, das die Virulenz und Bedeutung von Vermittlung evident macht, ist die documenta fifteen, die Kritik an ihr[4] sowie die Überforderung des Publikums mit der konzeptuellen Herangehensweise des kuratierenden Künstler*innenkollektivs ruangrupa und den künstlerischen Äußerungsformen (vgl. Mandel 2023)[5], die der Kunstwissenschaftler Harald Kimpel als „ästhetisches Elend“ beschreibt (Der Standard 2022). An dieser Stelle sei in Bezug auf das Kuratoriumsteam eine klare Abgrenzung vorgenommen zum angesprochenen elitären und traditionell eurozentrischen Kreis von Entscheidungstragenden, die üblicherweise diese Funktion innehaben. Durch die Auswahl des Teams, einem Kollektiv aus Indonesien, wurde intendiert, ebenjene Vormachtstellung des Globalen Nordens zu durchbrechen. Das kuratorische Konzept kann als Versuch zur Ausweitung des starren und in vielerlei Hinsicht einseitigen eurozentristischen Blickes auf Kunst und die Welt gelesen werden (vgl. ruangrupa 2022). Wer darf sprechen? Wer wird gesehen? Was die documenta und die begleitenden Diskurse sowie die gespaltenen Urteile über ihre Qualität veranschaulichen, kann an drei Aspekten festgemacht werden: Erstens wird der Bedarf zur näheren Betrachtung der unterschiedlichen Positionen evident, von denen aus Kritik geübt und denen dazu auch eine Plattform geboten wird, sowie der Adressat*innenschaft(en). An dieser Stelle scheint es nötig, eine Kritik als systemimmanente Selbstkritik auszudifferenzieren, damit ein Wahrnehmen, Artikulieren und – von einer eurozentristischen Position aus gesprochen – Verlernen habitualisierter Machtkonstruktionen möglich wird zu Gunsten einer Renovierung der Sichtbarkeitsflächen künstlerischen und ästhetischen Ausdrucks und Erfahrens. Dabei genügt es nicht, Anderen einen Platz anzubieten. Vielmehr ist – zweitens – auf die Auflösung tradierter Konventionen hinzusteuern, und zwar im aufrichtigen Bestreben, ein prüfendes Bewusstsein dafür zu erlangen, inwiefern das prädominante Machtgefüge das eigene Tun, Denken und Leben indoktriniert (vgl. Mörsch 2017). In dieser Forderung zeichnet sich einmal mehr – drittens – das iterative Movens ab, das im Zuge inkludierender Revisionsprozesse kritisch werden und bleiben lässt (vgl. Laner/Rieger-Ladich 2022) und damit eine wichtige Prämisse für ein wirksames Verlernen ist. Kunst und ästhetische Objekte sowie die Vermittlung dieser können als „maß-suchende“ (Pongratz/Nieke/Masschelein 2004: 8) oder idealiter maß- und demnach norm-ändernde Vehikel begriffen werden in der Herstellung aktualisierender Wissens- und Denkformationen[6], die ein gleichberechtigtes Miteinander unter gleichzeitigem Bewusstsein über die Verhältnisse der Vergangenheit fordern (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009). Sie können verstanden werden als affektive Reibungsflächen für normative Ordnungen, die bis in die Gegenwart geprägt sind von paternalistisch bestimmten Deutungshoheiten, und lassen ein Kritikverständnis ableiten, das sich empfindsamer und nahbarer zeigt als jenes distanzierte, das beispielsweise im aktuellen österreichischen Lehrplan gefordert wird. Kritik als Naheverhältnis zu einem Gegenstand zu verstehen, baut darauf, das betreffende Objekt in aller Detailliertheit und Ausführlichkeit differenziert wahrzunehmen, zu betrachten und aus den gewonnenen Einsichten heraus dem ursprünglichen Wortsinn entsprechend (gr. Krinein ‚etwas sichten‘, ‚unterschieden‘ und später außerdem ‚unterscheiden‘, ‚urteilen‘; vgl. Euler 2004) einen kritischen, nuancierten Blick dafür zu entwickeln. Dieses Verständnis erlaubt eine Perspektivierung, die mir für das Bedingungsgefüge des Kritikübens in Gestalt eines Verlernprozesses, der sich aus ästhetischem Erfahren und dadurch Bilden ergibt, notwendig und produktiv erscheint. Das Sich-vertraut-Machen und damit das Herstellen von Nähe anstatt von Distanz ist demnach speziell im Hinblick auf ein repräsentationskritisches und auf ästhetische Erfahrung bauendes Konzept eine chancenreiche Kursrichtung. Geht es doch zuweilen auch darum – sprechend aus der Perspektive des Globalen Nordens und mit Blick auf Enthierarchisierungsbestrebungen – ehrliche Verbundenheit (engl. allyship) mit marginalisierten Gruppen auf den Weg zu bringen, um Kritik als Selbst- und gleichzeitig Systemkritik von innen zu üben und zum Ausdruck zu bringen. Oberste Prämisse von Vermittelnden muss dabei bell hooks folgend sein, die eigenen Dispositionen laufend zu überarbeiten und zu aktualisieren, um nicht jene eingeschriebenen Traditionen zu reproduzieren und fortzuschreiben, die die Unwucht hervorgerufen haben, in der auch heute noch Wissensproduktion und -vermittlung stattfinden (vgl. hooks 1994).

 

Sprechen können, dürfen, sollen, müssen

Diese fortwährende Aktualisierung und das kritische Hinterfragen der eigenen Position innerhalb des betreffenden Systems ebenso wie das Sich-vertraut-Machen mit (ästhetischen) Objekten hat das Entfalten einer Sprach- oder eher Sprechfähigkeit zur Folge, die nicht nur tradiertes Mittel der Kommunikation ist. Besonders in der Funktion Vermittelnder kann diese Fertigkeit und Informiertheit ästhetische Räume nahbar machen für Personengruppen, die eine Durchdringung solcherart (noch) nicht erreicht haben beziehungsweise erreichen konnten oder durften (vgl. Sternfeld 2005).

Sprache und Sprechfähigkeit im Sinne eines Sich-ausdrücken-Könnens erweisen sich in diesem Sinne als Bedingungen und Ermöglichungsinstrumente zur aktiven Teilnahme und Teilhabe am gemeinschaftlichen Miteinander und für das Vermögen, kritisch zu bleiben, ebenso wie Menschen dabei zu begleiten, kritisch zu werden. Voraussetzend dafür sind Vermittelnde als wahrnehmende und artikulationsfähige Subjekte, die informiert sind, begleitend leiten und Räume für jene öffnen, die (noch) keine Stimme und kein Gehör oder noch nicht jenen kontextbezogenen Erfahrungsschatz haben. Dass diese Grundlagen Privilegien und bedingt durch die Kolonialgeschichte a priori vielen unverfügbar sind, unterstreicht die macht- und verantwortungsvolle Funktion von Vermittelnden in der (Ein-, An-, Ver-)Bindungsarbeit im Sinne eines gemeinsamen Kritisch-Werdens.

Warum ist nun gerade der Raum ästhetischer Erfahrungen, den Kunst aufmacht, ein bedeutsamer Aushandlungsort für Fragen nach Kritik in der Herstellung, Reproduktion und Abwendung ungleicher epistemischer Kräfteverhältnisse? Castro Varela und Dhawan weisen unter Berufung auf Edward W. Said darauf hin, dass „Kulturproduktion immer aufs Engste mit dem politischen Charakter der Gesellschaft verwoben“ ist (Castro Varela/Dhawan 2009: 343). Eines der Ziele, die Said verfolgt, ist die Herauslösung der imperialen Kultur aus dem Panzer ihrer Vormachtstellung. Kunst sowie ästhetische und kulturelle Erfahrungsräume sind dabei prominente Felder zur Demontage bestehender Ordnungen. Kulturprodukte des globalen Südens werden aber auch heute noch nicht selten als „Primitive“ Kunst diffamiert und abgewertet. Gleichsam ist es für Kunstschaffende des globalen Nordens unmöglich, sich den kolonialen Bedingungen zu entziehen (vgl. ebd.). Castro Varela und Dhawan nennen als Gelingensfaktoren für diese Dekonstruktionsanstrengungen die möglichst klare Offenlegung und Analyse des Bezugssystems und der Abhängigkeitskonstitutionen: „Wer hat was, unter welchen Umständen, mit welchen Folgen für wen produziert?“ (ebd.: 343) Damit bringen sie übertragen auf die Zielsetzung des Beitrags auf den Punkt, welche Frage als handlungsleitender Impetus den Bestrebungen hin zum Herausschälen eines repräsentationskritisch und kunstpädagogisch begründeten Verständnisses von Kritik voranzustellen ist. Nämlich: Wer übt von wo aus, wie, an wem und für wen Kritik?

Der Modus des Verlernens (Unlearning) oder, mit Krauss gesprochen, des „Ent-Übens“ (Krauss 2017) verfolgt ebendiese dekonstruktivistische Denk- und Handlungspraxis. Gayatri C. Spivak, die den Diskurs wesentlich geprägt hat, geht es nicht primär um eine Kritik an der Unzulänglichkeit sprachlicher Äußerungen im Vergleich zum tatsächlich sinnlich Erfahrenen oder Erfahrbaren. Vielmehr greift sie das Medium Sprache auf und arbeitet heraus, dass es den Subalternen[7] schlicht an sprachlicher Vertrautheit mit etablierten Formen der Kommunikation und deshalb an Stimme fehlt, um ihre Bewandtnisse überhaupt zu artikulieren und mitsprechen zu können. Die Bedingung für den kommunikativen Austausch über ästhetische Erfahrungen ist für Spivak nicht nur für die Sphäre des Sinnlichen, sondern als Voraussetzung für die Teilnahme an jedwedem Miteinander Sprechfähigkeit und -möglichkeit. Den Subalternen bleiben Türen verschlossen, womit ihnen die Fähigkeit versagt ist, als mitgestaltende Akteur*innen zu agieren (vgl. Spivak 2008). Spivak bekräftigt mit einem Rekurs auf Gramsci, dass Repräsentation zuallererst im Kulturellen gegeben sein muss, um darauf aufbauend im Politischen wirksam werden zu können. Einer der zentralen Kritikpunkte Spivaks ist dabei die anhaltende generelle Absicht, das mächtige Subjekt Westen, wenn auch in mancherlei Hinsicht unter Verschleierung oder Beschwichtigung, nach wie vor hochzuhalten (vgl. ebd.).

 

Kritische Kunstvermittlung: Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, und das ist…

Sprechfähigkeit wird hierin als Ausdrucksvermögen verstanden, mit dem Ziel, sich selbst oder auch einander Dinge zu zeigen, zugänglich zu machen und in den Diskurs einzubeziehen. Die Herausforderung insbesondere im Vermittlungskontext besteht in der zu Beginn dieses Prozesses bestehenden Unverfügbarkeit von allem und allen, die (noch) nicht auf der Bildfläche erscheinen: Was oder wer ist sprachlos, wer hat keine Stimme, wem wird keine Präsentation und Repräsentation zugesprochen und wer ist dadurch unsichtbar oder wird dadurch unsichtbar gemacht und von wem? In der Forschung ebenso wie in der angewandten Praxis der kritischen Kunstvermittlung stehen Rezeptionsfähigkeit, Lesbarkeit und (Un-)Sichtbarkeit von Sachverhalten in ästhetischen Wissens- und Erkenntnisprozessen am Knotenpunkt von Bildung und Kunst mit dem Blick auf Kapitalismus, Kolonialismus, Paternalismus und die damit verbundenen repressiven Strukturen im Mittelpunkt (vgl. Mörsch 2020).

Die Räume der Kunst – ästhetische Erfahrungsräume im engeren Sinne – sind Umschlagorte zur Befragung und Erhebung der funktionellen und inhaltlichen Deixis des Gezeigten (vgl. Wiesing 2015). Es wird danach gefragt, was sich und warum sich wer auf welche Weisen zeigt und welche Haltungen, Modelle oder Distinktionen in spezifischen Kontexten dadurch ins Licht gerückt werden. Diese Perspektivierung provoziert speziell im Bezugsrahmen der Postcolonial Studies die Gegenfrage, nämlich: Was oder wer zeigt sich aus welchen Gründen nicht oder kann sich nicht zeigen und ist eben nicht abgebildet? Mit der Ebene des Sichtbaren und Unsichtbaren in Zusammenhang mit sinnlichen Rezeptionsmodi aber auch (sozio-)politischen Implikationen spannt sich ein disziplinübergreifender Bogen über das Feld, auf dem das Erkenntnisinteresse in der kritischen Beschau der nur vermeintlich universal lesbaren wahrnehmbaren Eindrücke liegt (vgl. Schade & Wenk 2011). Eine der Disziplinen, der in diesem Kontext eine elementare Bedeutung für die Initiierung von Renovierungsbestrebungen zuzusprechen ist, weil sie mit ihren Mitteln das Verhandeln des historisch gewachsenen Problemfeldes ermöglicht, ist die kritische Kunstpädagogik und -vermittlung. Sie knüpft die theoriegeleiteten Fragestellungen der Postcolonial Studies an die Ästhetik und fragt, inwiefern die Schulung sinnlicher Fertigkeiten zu Gunsten differenzierter ästhetischer Erfahrung relevant für den Wissenserwerb ist und wie die Erweiterung des Wahrnehmungsspektrums dem zuträglich ist (vgl. Laner 2018). Mit Fokus auf Machtkritik transferiert sie diese in praxisnahe Anwendungsbereiche. Sie entledigt die nötigen, aber großteils einer sehr kleinen, privilegierten Fachschaft vorenthaltenen theoretischen Ausführungen ihres erhabenen Podestes und macht sie in rezeptionsfähiger Form für eine breite Adressat*innenschaft zugänglich und erfahrbar. Geschriebene und gedachte Modelle werden verkörpert (vgl. Laner 2020). Dabei stehen nicht in erster Linie die wahrnehmbaren Teile und sichtbaren ästhetischen Artefakte im Zentrum, sondern vielmehr jene, die bisweilen verdeckt und aus diesem Grund nicht (so einfach) perzeptibel waren oder immer noch nicht sind.

 

Kritisch werden

Krauss und Sternfeld lassen ihr Tun auf einem repräsentationskritischen Fundament fußen, problematisieren hegemoniale Machtverhältnisse und verfolgen Demokratisierungsbestrebungen innerhalb ihrer jeweiligen ästhetischen Erfahrungsräume. Dabei steht auf der Agenda von beiden Vermittelnden die Heranführung von Lernenden an das Wahrnehmen und Initiieren von Irritationen innerhalb von Gewohntem mit dem Ziel, Bruchstellen zu artikulieren und in ein Kritisch-Werden zu kommen.

Krauss examiniert gemeinsam mit Lernenden Beziehungskonstellationen in schulischen Vermittlungsumgebungen. Sie adressiert eine klar bestimmte Zielgruppe, mit der sie sich aufmacht, hegemoniale Gegebenheiten zu dekonstruieren: Schüler*innen. Ausgangspunkte für das handlungspraktische Vorgehen sind konkrete Situationen mit engem Bezug zum Schulalltag der Lernenden. In praxisorientierter, angewandter Form und unter heterarchischer (Beg-) Leitung werden sie so in das Feld der Repräsentationskritik eingeführt, um sich im gemeinsamen Kritisch-Werden eine Sprechfähigkeit respektive kritische Stimmen zu erarbeiten und mit den Mitteln künstlerischen Ausdrucks diese auch zu erheben oder vielmehr sie und sich zu zeigen. Ein wichtiger Transferschritt, den die Lernenden damit auf produktionsästhetischer Ebene leisten, ist die Verkörperung der diskursiv erworbenen Fertigkeit zur Überschreitung des eigenen Wahrnehmungshorizonts. Leibgebundenheit ist folglich eine bedeutende Komponente im Üben von Kritik bei Krauss.

Sternfeld entfaltet ihr Konzept auf einem weitgreifenden Beziehungsnetzwerk unterschiedlicher Handlungstragender in ästhetischen Erfahrungsräumen, die museale Bezüge haben. Sie richtet sich mit ihrem Zugang zu einem kritischen Vermittlungsverständnis an eine heterogene Akteur*innenschaft im Kunstkontext, die sie subsumierend als Vermittelnde definiert, manche im engeren, manche im weiteren Sinne. Darin holt sie im Zuge der Erarbeitung von Fragen, die Leerstellen und (noch) Unsichtbare(s) thematisieren, im Prozess der Befähigung zur (Aus-)Übung von Kritik Interessierte gewissermaßen als Quasi-Kuratierende auf ihre Seite, die sich mit der Kontextualisierung von Kunst befassen und über sie nachdenken wollen. In dieser Gefasstheit ist nicht Kunst oder künstlerisches Tätigsein selbst das produktionsästhetische Vehikel für das Problematisieren und Aufbrechen von Machtstrukturen. Das Instrument zur Ausübung von Kritik bei Sternfeld emergiert vielmehr aus dem Erarbeiten eines informiert(er)en Blicks auf ästhetische Erfahrungsräume, Kunst sowie dem vermittelnden, diskursiven Schirm, der die tradierten Setzungen, in denen Kunst lange Zeit eingeschrieben war und in vielen Fällen immer noch ist, durch die Schaffung neuer „Möglichkeitsräume“ (Sternfeld 2017: 189) herausfordert. Was bei Sternfeld zentral steht, ist der Anspruch an Vermittelnde, in der Auseinandersetzung mit ästhetischen Artefakten und Erfahrungsräumen Momente der Irritation zu erzeugen und erfahrbar zu machen sowie das Feld, auf dem sie agieren, und ihre eigene Position darauf fortwährend zu hinterfragen und zu aktualisieren.

Beide Positionen treiben die Arbeit voran an dem, was Spivak als das „Einweben unsichtbarer Fäden in die bereits vorhandene Textur“ beschreibt (Castro Varela 2007). Krauss und Sternfeld sind im künstlerischen Vermittlungskontext zwei zentrale Verbündete im Einsatz für ein aktualisierendes Verständnis von Wissen, (Kunst-)Geschichte, Gesellschaft und Macht, die dieselbe Mission in ihren jeweiligen Domänen und mit unterschiedlichen Adressat*innenschaften und Dimensionierungen verfolgen. Beide leisten wesentliche Beiträge im Aufbrechen von Epistemologien, die über lange Zeit hinweg gewachsen und nach wie vor zu unangetastet sind. Das schaffen sie, indem sie bildlich gesprochen und Spivaks Metapher aufgreifend im Kontext der Kunstvermittlung ihre Werkstoffe theoretisch wie praktisch mit Fäden, also Inhalten, verdichten, die lange Zeit keine Bestandteile des Materials waren. Sie folgen damit im kritisch-pädagogischen Bezugsrahmen Spivaks Aufforderung zu einer postkolonialistischen, inklusiven und demokratisierenden Wissensvermittlung, die darauf hinzielt, die gelehrten Kanons[8] zu erweitern. In der Umsetzung bedeutet das, diese mit Stimmen aus marginalisierten Gruppen zu bereichern und zu ergänzen, die in weiterer Folge nicht lediglich als subalterne Addenda zum sogenannten klassischen Oeuvre verstanden werden dürfen, sondern als gleichberechtigte und gleichermaßen ernstzunehmende Teile des Wissens über Gesellschaft und Welt (vgl. Spivak 2009) begriffen werden müssen.

In Anbetracht der Instrumente und Wege des Kritisierens mit und durch Kunst, die Krauss und Sternfeld praktizieren, wird evident, wie machtvoll und deshalb wichtig die Rolle von Vermittelnden in der Arbeit zur Dekonstruktion von hegemonialer Wissensproduktion und Repräsentation ist, ob in musealen oder schulischen Umgebungen, ob durch künstlerische Artikulation, deren aktualisierende theoretische Kontextualisierung oder im gemeinschaftlichen diskursiven Miteinander.

In einigen grundlegenden Aspekten unterscheiden sich die beiden Zugänge. In Krauss praktischen, künstlerisch forschenden Vermittlungsweisen steht im Mittelpunkt, gemeinsam mit neuen, unbedarften Teilnehmenden auf dem Feld des Ent-Übens die ersten Schritte zu gehen, um gegenstandsbezogen in ein andauerndes und beständiges Kritisch-Werden zu gelangen. Das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden kann in diesem Framing als sich mit der Zeit einstellender, kollegialer Schulterschluss beschrieben werden, der sich aus dem intensiven und wiederholenden Zusammenarbeiten über einen langen Zeitraum hinweg einstellt. Krauss erweitert damit die kritische Sichtweise des ästhetischen Erfahrungsraumes Schule, mit der sie selbst in der Position als Vermittelnde darauf blickt, um den Blick einer weiteren involvierten Gruppe – jenem von Schüler*innen, deren alltägliches Umfeld die Schule ist und die während des Prozesses ebenso zu handlungsleitenden (Mit-)Kritiker*innen werden. Im Zentrum und als Adressat*innen des wissenschaftlichen Diskursfelds von Sternfeld stehen dagegen in erster Linie Vermittelnde, die nicht erst initial ins Feld einzuführen sind, sondern schon Handlungsleitende in Räumen für Kunst sind und Sternfelds Rahmung eines kritischen Vermittlungsverständnisses als konzeptuellen, theoriegeleiteten Handlungsvorschlag nutzen können, um ihre eigene fachliche Haltung zu aktualisieren und allem voran sich selbst als Verlernende innerhalb des bestehenden Systems zu situieren. Krauss sieht es also als primäre Aufgabe, sich mit Lernenden zu verbünden und diese gewissermaßen als neue, ihr ebenbürtige künstlerisch-kritische Vermittelnde mit ins Boot zu holen für das gemeinsame Ent-Üben alltäglicher tradierter Handlungs- und Denkformen hegemonialer Wissensproduktion. Hier zerfließt im Laufe des Prozesses die klare Trennung zwischen Vermittelnden und Lernenden. Sternfeld konzentriert sich in den hier behandelten Auseinandersetzungen dagegen auf einer Konzeptebene in erster Linie auf ihre Kolleg*innenschaft, um diese zu ermuntern und zu befähigen, in der Manier des Verlernens im Sinne einer Selbst- und Systemkritik Vermittlungsräume à jour zu bringen. Einen Unterschied bildet ebenso die verschieden gewichtete Relevanz der Verbindung zwischen den Orten des Kritikübens und den Gegenständen der Kritik. Sternfeld belässt es dabei, Orte der Vermittlung als „Möglichkeitsräume“ zu definieren. Wo sich diese befinden, ist kein wesentliches Thema. Bei Krauss ist der Umstand entscheidend, dass der Ort, an dem kritische Denkarbeit und künstlerische Praxis stattfinden, gleichzeitig der Gegenstand ist, nämlich der Alltagsraum Schule. Hier zeigt sich bereits einer von mehreren Aspekten, der auf die Signifikanz von Nähe im Üben von Kritik in ästhetischen Erfahrungsräumen hindeuten.

Im Hinblick auf die Bedeutung von Nähe, die ich der Übung von Kritik in diesem Beitrag zuschreibe, bleibt zu klären, inwiefern sich diese in den beiden Zugängen ausmachen lässt. Näheverhältnisse können in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen eine Rolle spielen: Als zwischenmenschliche und zeitliche Komponenten ebenso wie als ortsbezogene. In Krauss’ Projektkontextualisierungen drückt sich ein Nahe-Werden in der bewusst gewählten Zeitspanne der gemeinsamen Arbeit mit den Schüler*innengruppen aus, die sich über mehrere Monate hin erstreckt und in der Phasen des miteinander Warmwerdens von Vermittelnden und Schüle*innen sowie des Vertrautmachens und intensiven Auseinandersetzens mit dem Gegenstand Platz haben. Die Frage nach der Bedeutung eines Näheverhältnisses in gemeinsamen Verlernprozessen verstanden als Beziehungsaufbau zwischen Vermittelnden und Lernenden bleibt in Sternfelds Theorierahmen in expliziter Form noch offen.

Das Verständnis von Kritik[9], für das ich argumentiere, ist eines, das in Analogie zum Lernprozess als Prozess des Erfahrens verstanden werden will, den Käte Meyer-Drawe vertritt, wenn sie sagt, dass ein „Fortschritt der Erkenntnis einen Bruch mit der vertrauten Sicht der Dinge [erfordert]“ und dabei „Geläufiges in ein Zwielicht [gerät]“ (Meyer-Drawe 2012: 14). Das Aufbrechen der Sicht, von dem Meyer-Drawe spricht, möchte ich aufgreifen, um es in Verbindung mit der kontextspezifischen Vermittlung von Sprechfähigkeit als ästhetisches Ausdrucksmittel und des Sich-oder Etwas-Zeigens zu bringen. Das Initiieren der Brüche ist ein Momentum, das für die Hinführung zu einer angewandten Repräsentationskritik zentralen Stellenwert hat. Das Heranführen von Lernenden an das Erkennen und Wahrnehmen von Irritationen dieserart begreife ich als notwendige Stimuli nicht nur für Lernen allgemein, sondern auch für ein Kritisch-Werden. Dem geht eine selbstreferentielle Positionsbestimmung der Lehrpersonen ebenso wie in weiterer Folge der Lernenden voraus, die ein Sich-in-Beziehung-Setzen mit dem Gegenstand sowie mit dem Feld, von dem dieser und sie selbst Teile sind, und ein miteinander In-Beziehung-Treten bedingt. Letzteres zeugt von der Wichtigkeit, die Gemeinschaft in diesem Zusammenhang hat.

Das Üben von Kritik im Sinne eines Verlernens tradierter Machtstrukturen ist ein iterativer, immerwährender Vorgang. Er wird in Bewegung gehalten von all jenen, welche die Kraft und Möglichkeiten haben, sich selbst ebenso wie die Gegenstände und die beteiligten Akteur*innen fortlaufend und in Verbindung mit der zeitlichen, räumlichen, kontextuellen und individuellen Eingeschriebenheit aufs Neue zu hinterfragen. Kritisch-sein ist in diesem Verständnis etwas Aktives, das nie Stillstand billigen kann, das Kraft und Motivation erfordert, sich auf Verbundenheit – auf ein Naheverhältnis – stützt und danach strebt, das Wir zu vergrößern. Das Bemühen, Neues und neue Sprechende einzubeziehen mit dem Ansinnen, einander näher zu kommen, um das Feld und die Gemeinschaft auf diese Weise zu erweitern, sind dabei substanzielle Elemente. Darauf bezugnehmend möchte dieser Beitrag abschließend dazu anregen, die Rolle der Nähe für das Kritisch-Werden im Vermittlungskontext ästhetischer Erfahrungsräume ausführlicher und explizit zu thematisieren und eingehend zu untersuchen. Eine vertiefende Auseinandersetzung unter dieser Schwerpunktsetzung würde nicht nur den notwendigen Diskurs um Verständnisse von Kritik anregen, sondern auch das Bewusstsein hin zur Bedeutsamkeit ästhetischer Erfahrungsräume in der Bildung fördern.

 

Anmerkungen

[1] Anders als die spezifischen ästhetischen Erfahrungsräume der Beispiele in diesem Beitrag, in denen Kunst explizit – im einen Fall rezeptiv, im anderen produktiv – prävalenter Gegenstand ist, sei festgehalten, dass allgemein gesehen ästhetische Erfahrungsräume nicht zwingend mit Kunst oder dem Kunstschönen zu tun haben müssen. Hier lohnt sich ein Blick auf die begriffliche Herkunft des Terminus ‚ästhetisch‘, das aus dem Griechischen übersetzt „die Empfindung und Wahrnehmung betreffend“, „für die Sinne faßbar“ meint (vgl. Schweizer 1988: VII).

[2] Ich beziehe mich dabei auf den aktuell in Österreich geltenden 136-mal ist darin das Adjektiv kritisch zu finden (vgl. Lehrplan der AHS 2023: z. B. 115, 124, 127, 129, 155, 157, 163, 180, 188, 189, 194, 196, 200, 205, 217).

[3] Es sei festgehalten, dass ein Referenzieren auf die dazumal kritischen, vernunftgeleiteten Bewegungen der Aufklärung um 1800 nicht mehr für eine heutige Bezugnahme genügend ist und auf einer übergreifenden Folie – so es diese heute überhaupt geben kann – ‚Kritik‘ viel mehr als Selbstkritik, also Kritik gegenüber „den Leistungen unseres Vernunftvermögens“ zu fassen ist (Breinbauer 2023, 297). Vor einem repräsentationskritischen Hintergrund gilt es hier zu spezifizieren, wer das Wir sein kann, auf das Breinbauer sich im Zitat bezieht. Eine Kontextbestimmung nehme ich später vor. An dieser Stelle sei aber bereits bemerkt, dass die Positionalität der Adressat*innenschaft für die Aufforderung zur Kritik als Selbstkritik eine ist, die von geerbten Privilegien und von als gegeben begriffenen Vorzügen gezeichnet ist, die dieser Gruppe eine begünstigte Stellung im gesellschaftlichen Miteinander einräumen.

[4] Ich beziehe mich hier rein auf Einschätzungen des ästhetischen Äußeren und der Vermittlung und dezidiert nicht auf den Antisemitismus-Skandal, wenngleich dieser einen ebenso notwendig zu diskutierenden Gegenstand kunstpädagogischer Forschung darstellt, der an anderer Stelle unbedingt (weiter) zu führen ist.

[5] Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser Schwerpunktsetzung siehe Rahel Pufferts Beitrag in dieser Sammlung.

[6] Ich spreche an dieser Stelle bewusst nicht von einem Gegenkanon, da dadurch terminologisch die machtverhältnismäßige Bipolarität aufrechterhalten werden würde und das dem Auflösen des Machtgefälles abträglich wäre.

[7] Spivak definiert Personengruppen der Subalternen als diejenigen, die sich anderen unterzuordnen haben und in politischen und gesellschaftspolitischen diskursiven Gefügen keine repräsentative Stimme haben (vgl. Spivak 2008: 9).

[8] Spivak bezieht sich ihrem akademischen Hintergrund entsprechend an dieser Stelle auf den literarischen Kanon, der in England gelehrt wurde und wird. Der Diskurs lässt sich aber mit jedweder Form epistemischer Anthologie in Beziehung setzen.

[9] Ich möchte an dieser Stelle einen großen Dank an meine Kolleginnen Lea Wiednig, die wichtige Impulsgeberin für wesentliche Punkte und wertvolle Reflexions- und Gesprächspartnerin war und ist, sowie Alba Malika Belhadj Merzoug, die mich in der Recherchearbeit tatkräftig unterstützt hat, aussprechen!

 

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Von Eva-Maria Schitter

Veröffentlicht am 3. August 2025

Zitiervorschlag

Schitter, Eva-Maria: Kritisch werden im Vermittlungskontext ästhetischer Erfahrungsräume. Zwei Beispiele aus der Repräsentationskritik, in: Iris Laner (Hg.): Kritik (in) der Kunstpädagogik. Ihre Formen, Relationen und Potenziale denken, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2025. Quelle: https://zkmb.de/kritisch-werden-im-vermittlungskontext-aesthetischer-erfahrungsraeume-zwei-beispiele-aus-der-repraesentationskritik/; Letzter Zugriff: 28.08.2025

Review-Verfahren

Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.