Kunstunterricht als Beitrag zu einem gelingenden Leben? Gesellschaftskritische Ansätze in der westdeutschen Kunstpädagogik zwischen 1970 und 1980

Einleitung

Zwischen 1970 und 1980 wurden in der Geschichte der westdeutschen Kunstpädagogik erstmals verschiedene Zugänge zu populären und alltäglichen Phänomenen visueller Kultur abseits der Bildenden Kunst breit und vielfältig diskutiert. Als ausschlaggebend für die Ende der 1960er Jahre einsetzende Auseinandersetzung mit diesem neuen Themenfeld gilt Saul Paul Robinsohns 1967 erschienenes Buch Bildungsreform als Revision des Curriculums (Tewes 2018: 165). Robinsohn forderte darin die gesellschaftliche Relevanz fachlicher Inhalte im Unterricht und lieferte damit wichtige Impulse für die bestehenden Didaktiken insgesamt. Zur Debatte stand vor allem, „was von einem Schüler im Laufe seiner ‚Vollschulzeit‘ erfahren werden muß, damit er für ein mündiges, d.h. sowohl personell als auch ökonomisch selbständiges und selbstverantwortetes Leben so gut wie möglich vorbereitet sei“ (Robinson 1967: 46). Fachinhalte, so wurde gefordert, sollten insbesondere mit Blick auf eine emanzipatorische Entwicklung von Schüler*innen ausgewählt und aufbereitet werden. Dabei schien es „unwahrscheinlich, daß ‚Mündigkeit‘ erreichbar ist ohne Einsicht in die Bedingungen sozialen Lebens und politischen Handelns“ (Robinsohn 1967: 18). Vor diesem Hintergrund sollte in den 1970er Jahren hinsichtlich des Kunstunterrichts der Auseinandersetzung mit populären und alltäglichen visuellen Phänomenen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Es wurde intensiv diskutiert, wie visuelle Artefakte und Praktiken jenseits der Bildenden Kunst integriert werden konnten. Was diese Diskussionen für das Thema Kritik (in) der Kunstpädagogik relevant macht, ist, dass viele der dabei diskutierten kunstpädagogischen Ansätze, so meine These, eine deutliche gesellschaftskritische Komponente enthalten. Im Zusammenhang mit (post-)marxistischer Theoriebildung im Kontext der Neuen Linken wurden insbesondere benachteiligte soziale Milieus thematisiert und die Verbesserung der Lebensmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit wenig ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital wurde zum wichtigen Bestandteil der kunstpädagogischen Debatte.

Um zu zeigen, wie gesellschaftskritische Zugänge in verschiedenen kunstpädagogischen Ansätzen formuliert wurden, werde ich im Folgenden zunächst ein Verständnis von Gesellschaftskritik formulieren, wie es in kritischer Gesellschaftstheorie geläufig ist. Dabei orientiere ich mich an Maeve Cooke, die einen Begriff von Gesellschaftskritik entwickelt, der sowohl für die Theorietradition der Frankfurter Schule als auch für poststrukturalistische Theoriezusammenhänge Gültigkeit beansprucht. In den folgenden drei Abschnitten werde ich verschiedene kunstpädagogische Ansätze aus den 1970er Jahren untersuchen, um zu verdeutlichen, wie sich darin typische Merkmale von Gesellschaftskritik widerspiegeln. Zuerst steht die Visuelle Kommunikation im Fokus, die vor allen Dingen massenkulturelle Bilder problematisierte. Zweitens werde ich zeigen, wie in den späten 1970er Jahren in den Debatten über das populärkulturelle Phänomen des Kitsches die Geschmackshoheit der herrschenden Klasse in der Kunstpädagogik für eine falsche Werteerziehung in der Schule verantwortlich gemacht wurde. Schließlich werde ich darauf eingehen, wie in der Auseinandersetzung mit populären Jugendkulturen lebensweltlich relevante Bildwelten im Kunstunterricht eingefordert wurden. Insgesamt soll deutlich werden, dass die verschiedenen Ansätze das Potenzial der Kunstpädagogik thematisierten, einen Beitrag dazu zu leisten, klassenbedingte Benachteiligung zu reduzieren. Die kunstpädagogische Praxis wurde somit als Handlungsraum begriffen, in dem Chancen auf ein besseres Leben gegeben werden sollten.

 

Systematische Merkmale von Gesellschaftskritik

Meinen Begriff von Gesellschaftskritik lehne ich an Maeve Cooke an. Sie versteht darunter eine Art der Kritik, wie sie im Rahmen von verschiedenen Gesellschaftstheorien geübt wird. Cooke identifiziert drei charakteristische Komponenten, die auch in den kunstpädagogischen Debatten um populäre ästhetische Artefakte und Praktiken zwischen 1970 und 1980 präsent sind. Erstens stehen immer „die als kontingent aufgefassten, gesellschaftlichen Bedingungen eines gelingenden Menschenlebens“ (2009: 117) im Fokus. Die Theorien gehen von der Annahme aus, „dass in der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft ein gelingendes Leben durch bestimmte Verhältnisse, Institutionen, Praktiken usw. verhindert wird“ (ebd.). Diese Bedingungen sind jedoch nicht natürlich, sondern sozial hergestellt und können deshalb durch menschliches Handeln verändert werden. Zweitens wird davon ausgegangen, dass „die bestehende Sicht der Dinge falsch sein könnte“ (Cooke 2009: 118). Möglicherweise werden die Gründe gesellschaftlichen Leides nicht oder falsch wahrgenommen. Insofern wird damit gerechnet, dass „zuerst eine kognitive Transformation erforderlich wäre, bevor die institutionellen und anderen strukturellen Hindernisse beseitigt werden könnten, die ein gelingendes Menschenleben verhindern“ (ebd.). Als drittes Kennzeichen beschreibt Cooke eine in der Regel negative Ausrichtung, da vor allem auf gesellschaftliche Faktoren hingewiesen wird, „die das Gelingen des menschlichen Lebens beinträchtigen“ (ebd.). Gleichzeitig jedoch stellt sie immer auch eine utopische Komponente von Gesellschaftskritik fest, da die Vorstellung einer besseren Gesellschaft, in der solche Barrieren abgebaut sind, zumindest implizit evoziert wird (ebd.).

Diese drei Komponenten von Gesellschaftskritik – bestehend aus einer Auseinandersetzung mit den Bedingungen gelingenden Lebens, der Notwendigkeit eines Bewusstseinswandels, um verändertes Handeln möglich zu machen und schließlich einer Vorstellung davon, wie es besser sein könnte – erweisen sich auch in den kunstpädagogischen Debatten der 1970er Jahre, die sich mit dem Stellenwert verschiedener populärkultureller Artefakte befassen, als relevant. In der Folgezeit von 1968 und im Kontext post- und neomarxistischer Theoriebildung wurden insbesondere sozialhierarchische Strukturen mit Konzeptionen von Klasse, Schicht oder Milieu in den Fokus gerückt. Je nach Zugang wurde Klasse stärker über ökonomische Spezifik, über kulturell vorhandenes bzw. nicht vorhandenes Kapital oder eine spezifische Lebensweise gedacht. In den folgenden Abschnitten wird erläutert, wie die drei Merkmale der Gesellschaftskritik in verschiedenen kunstpädagogischen Ansätzen zwischen 1970 und 1980 zum Ausdruck kamen.

 

Kultur- und Bewusstseinsindustrie: Die Verstrickung visueller Kultur mit ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen im Kunstunterricht

Zu Beginn der 1970er Jahre bildete sich als unmittelbare Antwort auf die in der Einleitung benannten Forderungen Robinsohns nach emanzipatorischer Bildung die Visuelle Kommunikation heraus. Ihr zentrales Anliegen war es, die industriell gefertigte Konsumkultur in den Mittelpunkt des Kunstunterrichts zu stellen. Die Frankfurter Schule stellte in dieser Zeit den dominanten theoretischen Hintergrund zur Problematisierung der „Kulturindustrie“ dar. Die Befähigung zum kritischen Medienkonsum galt als notwendiger Schritt, um schließlich zu einem emanzipatorischen Mediengebrauch zu gelangen (Möller 1974: 23). Mit einer derartigen Neuerung reagierte die Visuelle Kommunikation keineswegs auf ein „fachspezifisches Problem“ der Kunstpädagogik, sondern agierte „in unmittelbarem Zusammenhang einer umfassenden Krise im Selbstverständnis des gesamten Bereichs der Sozialwissenschaften“ (Sprinkart 1979: 23).[1] „Innerhalb kurzer Zeit entstanden in allen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen gegen Ende der 1960er Jahre kritische Neuformulierungen der diesen Fächern zugeordneten Ziele, Gegenstandsauffassungen und Methoden; gemeinsam war all diesen Neuerungsversuchen die Bezugnahme auf das Wissenschaftskonzept der ‚Kritischen Theorie‘ [.].“ (ebd.). Die von der Kulturindustrie entwickelten ‚falschen‘ Bedürfnisse, die diese im Umkehrschluss nicht müde wurde zu befriedigen, verhindere, so die Theorie, eine „Bildung autonomer, selbständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen“ (Adorno 2021: 345). Für eine demokratische Gesellschaft erschienen aber gerade solche autonomen Individuen als Voraussetzung. Die Kulturindustrie stünde somit der „Emanzipation“ (Adorno 2021: 345) der Individuen und damit auch der Herausbildung einer demokratischen Gesellschaft entgegen. Stattdessen gingen profitable Gewinne für wenige mit der Schaffung von Abhängigkeitsverhältnissen der Massen einher. „[D]ie Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft“ (Adorno/Horkheimer 2013: 129) würde über die Kulturindustrie gesichert. Hans Magnus Enzensberger folgte analytischen Zugängen wie dem Adornos, um den manipulativen Charakter der Kulturindustrie aufzudecken, die er als „Bewußtseinsindustrie“ bezeichnete (2004: 268). Gleichzeitig schrieb er gerade den Massenkommunikationsmedien egalisierendes Potenzial zu, wenn nur genügend Menschen einen kompetenten Umgang mit ihnen pflegen könnten (ebd.).

Auf dieser gesellschaftstheoretischen Basis wurde es zum Ziel der Visuellen Kommunikation, „Jugendliche aus Abhängigkeitsverhältnissen herauszuführen […] und zu veränderndem Handeln zu befähigen“ (Möller 1974: 25). Vor allem ein problematisierender Blick auf die Kulturindustrie wurde von Vertreter*innen der Visuellen Kommunikation übernommen und es wurde zum erklärten Ziel, bei den Schüler*innen ein Bewusstsein für den manipulativen Charakter der Massenmedien zu schaffen, der – so die Theorie – die Bildung autonomer Individuen verhindere (z.B. Ehmer 1971: 8, Möller 1974: 22-23). Im Sinne der ersten Komponente von Cookes Kennzeichen von Gesellschaftskritik wurde der Kunstunterricht somit zu einem Handlungsraum erklärt, in dem der Missstand des Ausgeliefertseins an die Kulturindustrie bekämpft werden konnte. Ein gelingendes Leben war schließlich in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigt: Es konnten nicht nur die eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahrgenommen werden, sondern im Zuge dessen wurden auch ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse, die ungleiche Verteilung ökonomischen Kapitals und die Vernebelung von Ungleichheit durch die Kulturindustrie aufrechterhalten.

Entsprechend der von Cooke formulierten zweiten Komponente sollte ein Unterricht in Visueller Kommunikation auf eine Transformation des Bewusstseins abzielen, um darauf aufbauend ein verändertes Handeln zu ermöglichen. Eine Chance zur Transformation wurde vor allem in einer theoretisch angeleiteten Medienkritik gesehen, die eine Auseinandersetzung mit „historischen, soziologischen, psychologischen und informationstheoretischen Grundlagen und Wirkungen“ (Möller 1974: 23) in Gang setzen konnte. Die Analysen und Interpretationen, die in einem derartigen Unterricht zum Einsatz kamen, erschienen „im ständigen Aufweis jeweiliger Bezüge des Unterrichtsgegenstandes zur gesellschaftlichen Umwelt“ (Möller 1974: 23) sinnvoll durchführbar. Denn „eine emanzipatorische Veränderung der Wahrnehmung“, eine Form von Wahrnehmung also, die nicht den Vorgaben der Kulturindustrie entsprach, war „in isolierten, von Banalem und Alltäglichem abstrahierenden, also aus dem sozialen Kontext gelösten bildnerischen Vollzügen“ (Ehmer 1974: 5) nicht denkbar. Was das in der Unterrichtspraxis bedeuten konnte, wie also eine solche veränderte Wahrnehmung in der Schule gelernt werden sollte, wird in dem 1973 erstmals herausgegebenen Band Kunst/ Visuelle Kommunikation (1976) von Hermann K. Ehmer deutlich. Hier finden sich in fast allen der vorgestellten Projekte detaillierte Anleitungen zur Bildanalyse. Dabei werden so unterschiedliche Formate herangezogen wie Fernsehsendungen, Werbung, Comics, Bildgeschichten, aber auch die eigene Lesefibel, Glanzbilder oder Weihnachtspostkarten – allesamt aus der Lebenswelt der Jugendlichen. In den Fokus der Analysen geraten, neben der Darstellung unterschiedlicher, festschreibender Stereotype[2], die Mechanismen von Produktwerbung oder die visuellen Wirkungsweisen der Bildzeitung. Neben der Frage danach, was gezeigt wird, ist für die Gesellschaftskritik der Visuellen Kommunikation auch relevant, was nicht gezeigt wird, zum Beispiel, weil es sich um Motive handelt, die nicht dem kulturindustriell anerkannten Normenkanon entsprechen, wie etwa streitende Kinder (Dettke 1976). Mit solchem analytischen Unterricht sollte die manipulative Ebene der auf den ersten Blick unterhaltsamen, informativen oder faszinierenden Bildwelten erfahrbar gemacht werden.

Derartige Überlegungen zu einer neu ausgerichteten Wahrnehmung können in der Theorie als Voraussetzung angesehen werden für Cookes utopisches Moment kritischer Gesellschaftstheorie. Besonders Möller ging es nicht allein darum, dass ein Zustand falscher Bedürfnisse in Zusammenhang mit der Festigung gesellschaftlicher Macht als solcher erkannt wird. Vielmehr sollte der Unterricht darauf ausgerichtet sein, genau diesen Zustand aufzulösen. Ziel war eine Gesellschaft, in der der*die Zuschauende „aus der Haltung des Rezipienten, des bloßen Empfängers herausfindet und sich als Sender, als ‚Teilhaber‘, als Mitspieler, als Mitproduzierender versteht“ (Schönig zit. in Möller 1974: 25). Entsprechend sollten bereits in der Schule ästhetische Produktionen von den Interessen der Schüler*innen ausgehen (Möller 1974: 25). Eine solche praktische Ausbildung der Schüler*innen im Umgang mit den damals neuen Medien fand in der Unterrichtspraxis jedoch kaum statt (Legler 2011: 309) und musste insofern Utopie bleiben.

Die Anlage der Visuellen Kommunikation kann im Sinne Cookes als gesellschaftskritisch angesehen werden. Die Kulturindustrie wird problematisiert, weil sie vielen Menschen ein gelingendes Leben verwehre. Ziel der Vertreter*innen dieser Ausrichtung war es, dem entgegenzuwirken und ein entsprechendes Bewusstsein bei jungen Menschen zu schaffen. Durch einen von Bildanalysen geprägten Unterricht sollte ein veränderter Blick auf kulturindustrielle Bilder erreicht werden. Im Idealfall sollten junge Menschen auch praktisch im Umgang mit Medien so weit geschult werden, dass ein Weg hin zu einer Gesellschaft geebnet werden konnte, in der nicht mehr einige wenige Mächtige über das Bewusstsein vieler verfügen konnten, sondern in denen allen echte Beteiligung gewährt werden sollte.

 

Fragwürdiger Kitsch: Klassenspezifische Wertehaltungen als Thema in der kunstpädagogischen Diskussion

Eine andere Linie der Gesellschaftskritik bildete sich in den 1970er Jahren in Debatten um das massenkulturelle Phänomen des Kitsches heraus. Diese Art der Kritik lässt sich anhand von Bourdieus Zusammenhang von Geschmacksurteil und gesellschaftlicher Klasse verstehen. In seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede (1979; Deutsch erstmals 1982) zeigt er auf Basis einer großen Fülle empirischer Daten auf, wie Geschmack und ästhetische Vorlieben mit sozialer Klasse in Zusammenhang stehen. Solche Überlegungen wendet er auch auf die Hochkultur konsequent an. Durch soziale Prozesse in die Position der legitimen Kultur gerückt, werden Bourdieu zufolge in der Hochkultur ‚andere‘ Geschmacks- und Kulturformen permanent abgewertet. Ein bestimmter Geschmack gilt für Bourdieu keinesfalls als natürliche Präferenz, sondern als sozial vermittelt: „Was die Ideologie des natürlichen Geschmacks als zwei gegensätzliche Modalitäten der kulturellen Kompetenz und ihrer Anwendung ausgibt, sind in Wirklichkeit unterschiedliche Arten des Erwerbs von Kultur und Bildung“ (Bourdieu 1987: 120). Anhand seiner soziologischen Untersuchungen zeigt er auf, dass die Vorherrschaft über das Kulturelle eine eigene Form gesellschaftlicher Herrschaftsausübung darstellt. Sie wird nicht durch eine ökonomische Vormachtstellung gekennzeichnet, sondern etabliert sich durch die Durchsetzung einer bestimmten Weltsicht (Brehmer/ Lange-Vester/Vester: 292f).

In den späten 1970er Jahren wurde in der deutschsprachigen Kunstpädagogik eine Diskussion über etablierte Geschmacksformen im Zusammenhang mit Kitsch aufgeworfen. Zu dieser Zeit waren Die feinen Unterschiede zwar noch nicht veröffentlicht, doch hatte Bourdieu den Zusammenhang zwischen ästhetischen Vorlieben und etablierten Klassenlagen bereits mehrfach adressiert, prominent etwa in der für den deutschen Markt erstmals 1970 zusammengestellten Aufsatzsammlung Zur Soziologie der symbolischen Formen (2015). Die Debatte um normative Vorgaben auf Grundlage eines traditionellen bürgerlichen Kunstverständnisses war zudem im kunstwissenschaftlichen Diskurs keineswegs neu. Verschiedene Zugänge zum Phänomen des Kitsches machen das deutlich. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff insbesondere im Zusammenhang mit populärkulturellen Artefakten verwendet, die per Definition nicht die Tiefgründigkeit der Schönen Künste aufwiesen. Dies sollte sich spätestens mit dem Aufkommen der Pop Art ändern. 1964 wurde Kitsch schließlich für Susan Sontag zur relevanten Referenzkategorie in ihren Notes on „Camp“ (2018) und erfuhr dadurch eine ästhetische Aufwertung (Schwender 2021: 52). Kitsch ließ sich nun nicht mehr ohne Weiteres als die falsche Ästhetik der Kulturindustrie abtun und wurde zum viel debattierten Thema in Kunst- und Kulturwissenschaften.

Gegen Ende der 1970er Jahre fanden solche Debatten um Geschmack und Kitsch Eingang in den kunstpädagogischen Diskurs und erhielten eine gesellschaftskritische Prägung. Zuvor wurde Kitsch hauptsächlich als defizitäre ästhetische Erscheinung im Rahmen einer Werteerziehung abgelehnt. Diese Ablehnung zeigte sich, indem vor allem als typisch geltende „Funktionen des Trivialen“ wie das Angebot von „Heile-Welt-Ideologen“ oder die Ermöglichung von „Fluchträume[n]“ (Kämpf-Jansen 1978: 32) behandelt wurden, wie sie für den Ansatz der Visuellen Kommunikation ausschlaggebend waren.[3] Axel von Criegern und Christian Kattenstroh schlagen in Kitsch und Kunst (1977: 7) eine neue Richtung ein. Ihnen zufolge haben „[d]ie Probleme einer klassen- und schichtenspezifischen Ästhetik […] den Bildungsauftrag der ‚Geschmacks‘-Erziehung verdrängt“. Sie wenden sich dezidiert dagegen, Kitsch und Trivialästhetik unter den Aspekten von minderer Wertigkeit zu behandeln.[4] So werden etwa Unterrichtsentwürfe von Studierenden problematisiert, wenn diese sich darin „wieder auf den herkömmlichen Standpunkt dessen [begeben], der glaubt, qualitativ zwischen Kitsch und Kunst unterscheiden und beide werten zu müssen“ (von Criegern/Kattenstroh 1977: 128). Sie bemängeln, dass bürgerlich gesetzte Normen, wie eine Ablehnung von Kitsch, die öffentliche Erziehung nach wie vor bestimmten. Kinder aus dem Proletariat seien diesen ausgesetzt, während der bürgerliche Nachwuchs sich mit proletarischen Normen und Werten nicht auseinandersetzen müsse (ebd.: 60). Zwar wäre es wohl zu weit gegriffen, darin die systematische Verhinderung eines gelingenden Lebens nach Cookes erstem Punkt zu sehen, jedoch wird offensichtlich, dass Kinder aus Arbeiter*innenfamilien im Bildungssystem einen enormen Nachteil haben. Eine derartige Erziehung entspricht nämlich ihren eigentlichen Interessen, so von Criegern und Kattenstroh, nicht, sondern steht ihnen vielmehr entgegen (ebd.).

Um einer solchen wertenden Logik entgegenzuwirken, sie im Sinne Cookes zu transformieren, halten von Criegern und Kattenstroh es für notwendig, ein Bewusstsein sowohl für die geschichtliche Entstehung von Kitsch als auch für die soziale Determiniertheit von Rezeptionscodes bzw. einem bestimmten Geschmack zu schaffen (1977: 8).[5] Es ging also auch ihnen um eine objektivere Betrachtungsweise – hier am Beispiel des Phänomens Kitsch. Helga Kämpf-Jansen hat in einer Umfrage mit Studierenden zu Eigenschaften von Kitsch und Trivialem ähnliche Beobachtungen gemacht. Wie von Criegern und Kattenstroh stieß auch sie insbesondere auf Werturteile. Deshalb fordert sie eine dezidierte Auseinandersetzung mit ethischen Wertungen über Kitsch. Für Kämpf-Jansen bedeutet das, „trivial-ästhetische Objekte immer im Kontext ästhetischer, sozialpsychologischer und ökonomischer Gegebenheiten [zu] begreifen“ (1978: 43). Ähnlich wie von Criegern und Kattenstroh geht es auch ihr darum, Werteinstellungen zu reflektieren, um sich nicht auf ein irrationales und ideologisch manipulierbares Gefühl zu verlassen (Kämpf-Jansen 1978: 42-43). Auch ihr zufolge war es notwendig, sich sowohl über die historische und soziale Bedingtheit des Urteils als auch die Historizität von Normen und ihre gesellschaftliche Funktion bewusst zu werden (ebd.: 43). Sowohl Kämpf-Jansen als auch von Criegern und Kattenstroh fordern eine Abschaffung der subjektiven Wertevermittlung in der Kunstpädagogik. Insbesondere bei von Criegern und Kattenstroh wird in diesem Zusammenhang die Utopie der „Gleichheit der Chancen im Bildungs- und Ausbildungsbereich (als Postulat des früheren Bürgertums nach der französischen Revolution)“, ausschlaggebend, die „bis heute nicht verwirklicht worden ist“ (1977: 59). Die von ihnen problematisierte Vorherrschaft bürgerlicher Normen und Werte im Bildungssystem (ebd.: 60) ist in dieser Bildungsutopie nicht mehr vorhanden. Ein derartiges System wird von einer Schule abgelöst, in der Normen und Werte unterschiedlicher Milieus positive Beachtung finden können.

Sowohl für Kämpf-Jansen als auch für von Criegern und Kattenstroh ist also eine veränderte Sichtweise auf das Thema Kitsch relevant. Besonders bei den beiden letztgenannten Autoren wird eine gesellschaftskritische Komponente deutlich. Ihr Ansatz zielt nicht allein darauf ab, eine herkömmliche Werteerziehung, die der Geschmackshoheit der herrschenden Klasse entspricht, als überholt zu kennzeichnen und daher eine neue Perspektive erforderlich zu machen. Darüber hinaus sehen sie in einer derartigen Neuperspektivierung auch die Möglichkeit zu erkennen, dass eine traditionelle Werteerziehung speziell für Kinder aus Arbeiter*innenfamilien nachteilige Folgen hatte. Sie hegen die Hoffnung, dass eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Kitsch dazu führen könnte, dass Lehrer*innen entsprechend handeln, um auch die Bildung junger Menschen aus Arbeiter*innenfamilien stärker zu fördern.

 

Populäre Jugendkulturen: Die Problematisierung milieuabhängiger Zugänglichkeit von Lerninhalten im Kunstunterricht

Der dritte kunstpädagogische Ansatz mit gesellschaftskritischer Ausprägung setzt sich mit der Stellung von Lehrpersonen im sozialen Kontext der Schule auseinander. Helmut Hartwig bemängelt in seiner Monografie Jugendkultur. Ästhetische Praxis in der Pubertät (1980), dass Lerninhalte für Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Schichten schwer zugänglich seien. Seine Arbeit ist geprägt von den theoretischen Prämissen und Forschungen des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham. Kultur wird in dieser Forschungsrichtung von vornherein nicht an eine spezifische kulturelle Produktion der oberen Schichten gebunden. Stattdessen wird Kultur nach Raymond Williams als „a whole way of life, […] as a mode of interpreting all our common experience“ (Williams 1987: 33) aufgefasst. Ein Begriff, der die Vorstellung vermittelt, dass Kultur hauptsächlich der gesellschaftlichen Elite vorbehalten ist, wird damit ausdrücklich zurückgewiesen. Von Anfang an hatten die Cultural Studies eine gewisse Skepsis gegenüber den Lerninhalten des öffentlichen Bildungssystems. In seiner Studie Learning to Labour. How Working Class Kids get Working Class Jobs (1977, 1979 auf Deutsch erschienen) arbeitet etwa Paul Willis in Beobachtungen einer Gruppe männlicher Jugendlicher heraus, wie der gesellschaftliche Klassenunterschied zwischen ihnen und den Lehrpersonen dazu führt, dass die von Williams durchaus als vernünftig betrachteten Lerninhalte von den Schüler*innen nicht nachvollzogen werden konnten. An den lebensweltlichen Erfahrungen der Jugendlichen gingen diese nämlich schlichtweg vorbei. Außerdem wurden in den Cultural Studies verschiedene jugendkulturelle Praktiken der Arbeiter*innenschicht in den Blick genommen, wobei insbesondere der Umgang mit massenindustriell gefertigten Konsumgütern im Fokus stand. In verschiedenen Studien wurde herausgearbeitet, dass Jugendliche Konsumgüter nicht nur auf die vorgesehene Art und Weise nutzen, sondern sie im Sinne einer Bricolage kreativ und abweichend von gesellschaftlichen Normen verwenden (Hall/Jefferson 1993). Im Gegensatz zu Horkheimers und Adornos Überlegungen zur Kulturindustrie werden hier Konsumpraktiken als aktive Handlungen angesehen.

Für Hartwig wird entsprechend eine etwaige Distanz zwischen den Herkunftsmilieus von Erwachsenen und den jungen Menschen, mit denen sie arbeiteten, ein für die Kunstpädagogik ernstzunehmendes Thema. Er geht davon aus, „daß die meisten Erwachsenen, die – besonders in der Schule – mit Arbeiterjugendlichen zu tun haben, nicht aus deren Klasse stammen und deshalb in der Gefahr sind, nicht nur bewußt – was auch vorkommt –, sondern unbewußt ihre eigenen Normen, Verarbeitungsweisen von Erfahrung und Zugriffsweisen als Basis für Forderungen und Unterweisungen von Arbeiterjugendlichen anzusetzen.“ (Hartwig 1980: 120) Hartwig problematisiert, dass Erwachsene, die selbst nicht aus dem Arbeiter*innenmilieu stammten, im Umgang mit jungen Menschen aus diesem Milieu häufig die ihrer Lebensweise entsprechenden Zugänge wählten. Entsprechend werden Zugänge zu einer ästhetischen Praxis vernachlässigt, die für junge Menschen, die anderen sozialen Milieus angehören als ihre Lehrer*innen, tatsächlich relevant sind. Die Förderung einer für die Jugendlichen zugänglichen ästhetischen Praxis konnte also nicht stattfinden. Um auf Cookes ersten Punkt zu kommen, geht es bei Hartwig vielleicht nicht um ein umfassend gelingendes Leben, jedoch um eine gelingende Schulbildung, die wiederum eine Chance für ein gelingendes Leben bieten kann. Gleichzeitig wird die Schule als ein Ort betrachtet, an dem auch ein andersartiges Handeln möglich ist. Etwa, indem als Ausgangsbasis von Kunstunterricht nicht die eigenen etablierten Normen dienen, sondern indem die unterschiedlichen Sozialisationen der Schüler*innen mitbedacht werden sollten.

Voraussetzung hierfür – und das entspricht Cookes Komponente des Hinterfragens und der Transformation – ist ein verändertes Bewusstsein von Seiten der Lehrpersonen. Hartwig stellt rhetorisch die Frage, ob „nicht viel gewonnen [wäre], wenn die Erwachsenen […], die Bedingungen kennen würden, von denen aus eine motivational, eine bereits in Fähigkeiten und Zukunftsperspektiven angelegte erweiterte Reproduktion der Persönlichkeit […] in Gang kommen könnte“ (Hartwig 1980: 119). In diesem Zusammenhang erachtet er „die Bewußtwerdung sozialer Distanz“ von Seiten der Lehrpersonen nicht nur als wichtiges Ziel, sondern auch als „die Voraussetzung für solidarische Interaktion oder gar Kooperation“ (Hartwig 1980: 119-120) mit jungen Menschen. Das Erkennen der sozialen Distanz, die insbesondere im Verhältnis zu Schüler*innen aus der Arbeiter*innenschicht häufig herrscht, wird für ihn als grundlegend erachtet, um schließlich mit ihnen solidarisch sein zu können und zu begreifen, was für sie relevant sein könnte. Vor diesem Hintergrund setzt er sich mit der ästhetisch-kulturellen Sozialisation von Arbeiter*innenjugendlichen sowie mit den Orten, an denen sie stattfindet, auseinander. Er vergleicht sie mit ästhetischen Praktiken der Mittelschichten und den entsprechenden Orten. Dabei ist ihm wichtig, ein positives Bild der ästhetischen Sozialisation von Arbeiter*innenjugendlichen zu vermitteln. Kinobesuche etwa stärkten kollektive Beziehungsgefüge unter ihnen. Die Filme böten außerdem einen Anlass für weitere Kommunikation wie für verfremdendes Nachspielen diverser Szenen (Hartwig 1980: 133-134). Das Malen und Zeichnen von Bildern, also anerkannte Praktiken des Kunstunterrichts, sind ihm zufolge in der Lebenswelt von Arbeiter*innenjugendlichen im Vergleich zu Mittelschichtsjugendlichen tendenziell nicht präsent.

„Während im Lebenszusammenhang der Mittelschicht bildorientiertes Zeichnen und Malen kulturell anerkannte Tätigkeiten sind, für die es von den Erwachsenen Bestätigungen, für deren Endprodukte es in der Wohnung Wände zum Aufhängen, Mappen zum Sammeln und in der Öffentlichkeit Ausstellungen, Wettbewerbe usw. gibt, sind diese Tätigkeiten im Leben der Unterschichtsjugendlichen lebenspraktisch und kulturell nicht verankert. Die Herstellung von ‚freien‘ Zeichnungen ist als kulturelle Praxis der Verschönerung des Motorrads, dem Besticken und Schmücken der Kleidung mit Abzeichen und Symbolen durchaus nachgeordnet. Für sie ist nicht das Bildermachen selbstverständlich, sondern eher das Experimentieren mit der Kleidung (oder auch der Haut) und dem Motorrad.“ (Hartwig 1980: 149)

Er geht davon aus, dass ein motiviertes eigenes kreatives Schaffen am wahrscheinlichsten im Zusammenhang mit Themen oder Gegenständen entsteht, die für Jugendliche von Bedeutung sind und ihnen möglicherweise soziales Ansehen im für sie primär relevanten Milieu bringen können. Daher hält er eine Auseinandersetzung mit solchen Praktiken für unerlässlich (Hartwig 1980: 149). Aber nicht nur das:

„Wer also ästhetische Praxis mit Jugendlichen der Unterschicht betreiben will, der muß zuerst einmal verlernen, von den traditionellen Kunstgattungen, von deren Hierarchie aus und formal zu denken. Statt vom Zeichnen her, von den Kleidern aus, statt vom Bild an der Wand eher vom Emblem für das Motorrad, statt von der Landschaftsmalerei eher von phantastischen Motorradbildern aus.“ (Hartwig 1980: 149)

Anerkannte Bildungsinhalte, die einen traditionellen Kunstbegriff repräsentieren, sollten laut ihm hinterfragt werden. Stattdessen sollte versucht werden, von den ästhetischen Praktiken und Interessen der jeweiligen Schüler*innen auszugehen.

Hartwigs Interesse, „nach Ansätzen und Quellen möglicher ästhetisch-kultureller Produktivität in den Bedürfnissen und in der Alltagspraxis von Jugendlichen in unterschiedlichen sozialen Schichten und Klassen“ (Hartwig 1980: 9) zu suchen, impliziert eine utopische Denkweise. Für ihn besteht die Hoffnung, dass Lehrer*innen in Zukunft Kunstunterricht anbieten, der sich nicht allein am bürgerlich gängigen Referenzsystem der Bildenden Kunst orientiert, sondern vielmehr an ästhetische Praktiken anknüpft, die für die jeweiligen Schüler*innen relevant erscheinen. Es geht ihm um „Versuche, einzelne Tätigkeiten auf bereits vorhandene soziale Situationen hin zu orientieren oder für sie einen Rahmen zu schaffen, durch den […] ein kommunikativer und soziokultureller Kontext gezielt mitproduziert wird“ (Hartwig 1980: 325). So scheint eine ästhetische Bildung möglich, die eine sinnhafte ästhetische Praxis bei jungen Menschen unterschiedlicher Milieus fördern kann.

Gesellschaftskritisch kann Hartwigs Ansatz insofern gelesen werden, als dass er in einem herkömmlichen, vor allem an der Hochkultur orientierten Kunstunterricht für viele junge Menschen keine Möglichkeit sieht, eine für sie sinnhafte ästhetische Praxis zu entwickeln. Eine gelingende Schulbildung als Teil eines gelingenden Lebens wird demnach insbesondere jungen Menschen aus dem Arbeiter*innenmilieu versagt. Dem könnte ihm zufolge entgegengewirkt werden, wenn Lehrpersonen ihr herkömmliches Bezugssystem der Hochkultur in Frage stellten und sich verstärkt den ästhetischen Praktiken und damit einhergehenden Potenzialen junger Menschen aus Armuts- und Arbeiter*innenmilieus widmeten. Unter dieser Voraussetzung kann seiner Ansicht nach ein Unterricht möglich werden, der auch Schüler*innen aus solchen Milieus die Möglichkeit gibt, die Relevanz ästhetischer Praktiken im eigenen Leben und für eine selbstbestimmte Gestaltung zu entdecken.

 

Fazit

Die drei diskutierten kunstpädagogischen Ansätze setzen sich allesamt mit alltäglichen und populären visuellen Phänomenen auseinander, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Gemeinsam ist ihnen jedoch der Wunsch, in der schulischen Kunstpädagogik dazu beizutragen, Menschen aus sozial benachteiligten Milieus zukünftig ein gelingenderes Leben zu ermöglichen. Dies wird teils während der Schullaufbahn angestrebt (etwa durch einen Unterricht, in dem nicht der eigene Geschmack denunziert wird, oder durch einen Unterricht, an den angeknüpft werden kann). Teils geht es aber auch um einen Unterricht, der die Chancen auf ein gutes und selbstbestimmtes Leben in der Zukunft maximiert. Gemeinsam ist allen Ansätzen außerdem, dass sie die Notwendigkeit einer Änderung der vorherrschenden Sicht auf die Dinge für unabdingbar halten, um ein verändertes Handeln möglich zu machen. Je nach Ansatz geht es entweder um einen Bewusstseinswandel unter den Lehrer*innen oder unter den Schüler*innen. Alle drei Ansätze haben außerdem gemeinsam, dass ein utopisches Moment darin gesehen wurde, dass Barrieren für gesellschaftlich benachteiligte Klassen oder Milieus abgebaut werden könnten. Damit erfüllen die Ansätze Cookes drei Kriterien von Gesellschaftskritik.

Wie die Gesellschaftskritik jeweils ausbuchstabiert wird, ist jedoch je nach Ansatz sehr verschieden. Im Falle der Visuellen Kommunikation sollte ein von Bildanalysen geprägter Unterricht einen veränderten Blick auf kulturindustrielle Bilder ermöglichen, um (der Theorie nach) schließlich Schüler*innen dabei zu unterstützen, zu Kritiker*innen und aktiven Produzent*innen der sie umgebenden Bildwelten zu werden. Idealerweise sollte ein derartiger Unterricht zu einer Gesellschaft beitragen, in der echte Teilhabe aller möglich sein sollte und in der nicht mehr einige wenige Herr*innen über das Bewusstsein der Vielen sein und ungehindert Kapital bei sich anhäufen konnten. Dieser Ansatz birgt einerseits das Potential, mit Bildern zu arbeiten, die im Leben junger Menschen eine Rolle spielen und sie kritisch für gerade diese Bildwelten zu sensibilisieren. Andererseits hat ein derartig negativ geprägter Zugriff auf populäre Bilder im Sinne der Frankfurter Schule eine Schwachstelle, die in der Geschichte der Kunstpädagogik als ausschlaggebend für das Scheitern der Richtung betrachtet wird: Es fehlte die Frage danach, welche Rolle sie in der Lebenswelt junger Menschen tatsächlich spielten (Ehmer 1980; Legler 2011; Tewes 2018). Diese Problematik, die relativ schnell deutlich wurde, kann auch als Impuls gewertet werden, um sich mit anderen Bezugstheorien auseinanderzusetzen und entsprechend andere Zugänge zu alltäglichen und populären visuellen Phänomenen zu finden. Gegen Ende der 1970er Jahre sind solche Richtungswechsel zu verzeichnen: Von Criegern und Kattenstroh, aber auch Kämpf-Jansen, grenzten sich von Debatten ab, in denen Kitsch mit einem negativen Werturteil belegt wurde. Stattdessen nahmen sie die Auseinandersetzung mit dem Kitsch zum Anlass, um innerhalb der Kunstpädagogik eine Reflexion über die historisch und sozial bedingte Abhängigkeit derartiger Geschmackswertungen anzustoßen. Insbesondere von Criegerns und Kattenstrohs Ansatz kann als gesellschaftskritisch verstanden werden, ging es ihnen doch darum, nachteilige Folgen, die eine traditionelle ästhetische Werteerziehung für Kinder aus armen Familien haben konnte, in Zukunft zu verhindern. In der Forderung einer Form von Bildung, die nicht über Geschmacksvorlieben urteilt, sondern sich vielmehr mit den eigenen Wertungen auseinandersetzt, liegt auch das Potential dieses Ansatzes. Dabei geraten jedoch zu problematisierende Bildinhalte ins Hintertreffen. Schließlich wurde mit Hartwig eine Stimme laut, die – auf Grundlage einer frühen Rezeption der englischen Cultural Studies – eine verstärkte Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken junger Menschen aus Arbeiter*innenmilieus forderte, um ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, die an ihre Lebenswelt anknüpfen. In Bildungssituationen auf milieubedingte ästhetische Praktiken zu reagieren ist begrüßenswert und durchaus keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig bleibt unklar, inwiefern es zu einer Verbesserung eines gelingenden Lebens im Ganzen beitragen kann, wenn die ästhetischen Wertungen, die in einer Gesellschaft herrschen, nicht auch verändert werden. Dahingehend bietet dieser Ansatz jedoch keine Lösung an. Er bleibt darin verhaftet, Vermittlungssituationen v.a. mit Blick auf Anknüpfungspunkte für Arbeiter*innenkinder zu denken.

Ich möchte mit dieser Zusammenschau zurück zur Einleitung kommen und zum Ausgangspunkt der beschriebenen Debatten. Diesen bildete Robinsohns Frage, was Schulbildung denn leisten müsse, um auf ein ökonomisch eigenständiges und selbstverantwortliches Leben vorbereiten zu können. Vor diesem Hintergrund gerieten in allen drei genannten Beispielen sozial benachteiligte Milieus besonders in den Blick. Aladin El-Mafaalani (2021) bestätigt in Mythos Bildung, wie schwierig ein sozialer Aufstieg für von Armut betroffene Kinder und Jugendliche auch heute noch ist. Das impliziert: zu einem ökonomisch selbständigen und selbstverantwortlichen Leben trägt schulische Bildung häufig gerade für Kinder aus armen Milieus nicht auf gleiche Weise bei wie für ohnehin privilegierte. Fragen danach, wie Kunstlehrer*innen gerade für solche Schüler*innen produktive Bildungssituationen schaffen können, sind entsprechend nach wie vor brisant.[6] Eine kritische Auseinandersetzung mit Bildwelten und ästhetischen Praktiken, die für sie emanzipatorisch wirken können, aber auch ein stetiges Hinterfragen der eigenen Selbstverständlichkeiten von Seiten der Lehrpersonen, wie sie in den beschriebenen Ansätzen diskutiert werden, bilden noch immer keine Selbstverständlichkeit. Sie beinhalten jedoch durchaus Potential, vor allem wenn auch die Schwachstellen der jeweiligen Zugänge mitbedacht werden. Darüber hinaus drängt sich die Frage auf, welche Rolle Schüler*innen in einem sozialkritisch angelegten Unterricht spielen, die selbst nicht betroffen sind. Also Schüler*innen, die weder Schwierigkeiten haben, an die gegebenen Diskurse anzuschließen, noch aus benachteiligten Milieus stammen und mit Unterstützung des gegebenen Schulsystems leicht ihren Weg in die Gesellschaft finden. Will Schule gesellschaftlich benachteiligte Milieus ernsthaft fördern, dann müssen auch diejenigen in den Blick genommen werden, die qua Herkunft Vorteile genießen und danach gefragt werden, was für ihre Bildung notwendig erscheint, um sie zu gesellschaftskritischem Handeln zu befähigen. Auch bei ihnen anzusetzen, scheint für eine zeitgenössische Kunstpädagogik, die sich gesellschaftskritisch engagieren möchte, unabdingbar.

 

Anmerkungen

[1] Der Titel des zitierten Aufsatzes „Wissenschaftstheoretische und methodologische Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Kunstpädagogik“ macht deutlich, dass Kunstpädagogik als eigene Wissenschaft aufgefasst wurde.

[2] Analysiert werden beispielsweise Stereotype von Kindern, Frauen und Männern, Mädchen und Jungen, männlichen Comichelden, Berufsgruppen oder Menschen aus der Armuts- und Arbeiter*innenschicht und mit Migrationshintergrund.

[3] Helga Kämpf-Jansen lässt 1978 in der Zeitschrift Kunst + Unterricht die Thematisierung des Trivialen (das sie in ihrem Artikel mit dem Begriff Kitsch synonym setzt) Revue passieren und zählt seit dem ersten Erscheinen 1968 insgesamt 29 Beiträge (Kämpf-Jansen 1978: 33).

[4] Klaus Kowalskis nur ein Jahr zuvor erschienenes Buch Kitsch oder Kunst? Analysen und Unterrichtsbeispiele für die Sekundarstufe I (1976) sehen sie als „vorläufigen Schlußpunkt hinter die traditionellen Versuche der Wert-Erziehung in bezug auf ästhetische Gegenstände“ (von Criegern/Kattenstroh 1977: 7). Kowalski unternimmt darin noch den Versuch einer Kunstpädagogik, die Schüler*innen dabei unterstützen soll „der Herrschaft des Kitschs zu entkommen“ (ebd.:164).

[5] Bourdieus Soziologie der symbolischen Formen (2015) wird an anderer Stelle des Buches auch zitiert.

[6] Gerade das Feld der Kunst wirkt nach wie vor besonders exkludierend und ein Zugang zu Kunstunterricht ist an vielen Schulformen abseits der Gymnasien nicht selbstverständlich (Sturm 2025). Ungleichheiten werden in der kritisch angelegten Kunstpädagogik (z.B. Mörsch 2009, 2019; Sternfeld 2012) intersektional in den Blick genommen.

 

Literaturverzeichnis

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Von Birke Sturm

Veröffentlicht am 3. August 2025

Zitiervorschlag

Sturm, Birke: Kunstunterricht als Beitrag zu einem gelingenden Leben? Gesellschaftskritische Ansätze in der westdeutschen Kunstpädagogik zwischen 1970 und 1980, in: Iris Laner (Hg.): Kritik (in) der Kunstpädagogik. Ihre Formen, Relationen und Potenziale denken, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2025. Quelle: https://zkmb.de/kunstunterricht-als-beitrag-zu-einem-gelingenden-leben-gesellschaftskritische-ansaetze-in-der-westdeutschen-kunstpaedagogik-zwischen-1970-und-1980/; Letzter Zugriff: 28.08.2025

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