Kunstvermittlung zwischen Rationalismus und Bildung

Der Bildung sind keine Grenzen gesetzt, dem Begriff der Bildung schon. Wer die Grenzen des Deutschsprachigen überschreitet, findet sich weiterhin in Ländern wieder, wo gelehrt und unterrichtet wird, nur wird der Begriff der Bildung fehlen und ersetzt sein durch andere traditionelle Vokabeln, die sich entweder aus dem lateinischen Substantiv für Erziehung, educatio, gebildet haben oder eigenen Sprachtraditionen gefolgt sind, wie im Niederländischen der Begriff vorming, zu Deutsch Formung, Durchformung, im Sinne von Bildung. Nun enthält dieser letzte Satz bereits zahlreiche komplexe Implikationen, die eine Übersetzung wiederum schwer machen würden. Habe ich den Begriff der Bildung bereits in Anspruch genommen, wenn ich sage, etwas habe sich gebildet, in diesem Fall sprachlich, über Generationen hinweg? Der aufklärerische Bildungsbegriff, mit seinem Fokus auf das sich selbst bildende, freie Individuum, kann hierauf nicht angewandt werden. Und doch stehen überindividuelle, sich bildende Prozesse im Hintergrund zur Befähigung des oder der Einzelnen, sich selbst bilden zu können.

Im 19. Jahrhundert wurden diese Prozesse deutlich herausgearbeitet: durch die Konzeptualisierung von Geschichte für bereits das theoretische Denken bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel; durch die Entwicklung der Evolutionstheorie und ihrer Folgen für das Naturverständnis nach Charles Darwin; durch die Erschließung des Unbewussten in der psychoanalytischen Forschung von Sigmund Freud, um nur drei markante Beispiele zu nennen. Weder konnte das Individuum weiterhin als universal gelten noch eine Idealisierung des Natürlichen à la Jean-Jacques Rousseau verfolgt werden, geschweige denn die Behauptung aufrechterhalten, der bloße Wille zählt. Dies wirkte sich ebenfalls auf die Vorstellungen von Bildung wie auch Kritik aus, wie sie im 18. Jahrhundert aufgetreten waren. Friedrich Fröbel etwa begründete 1840 in Thüringen den Kindergarten als eine Einrichtung, die gezielt die Entwicklung des Kindes (seine Geschichte, Genese) pädagogisch förderte, hinsichtlich entsprechender Forschung; und philosophisch wurde Kritik einerseits im Sinne der hegelschen Dialektik stark gemacht, wie bei Karl Marx, zugunsten realer Veränderungen, andererseits im ‚unzeitgemäßen‘ Verständnis konterkariert, wenn Friedrich Nietzsche der Dialektik und ihrer Geschichtsauffassung vom Fortschritt nicht nur inhaltlich eine Absage erteilte, sondern bereits in der Form des Philosophierens, indem er die gesamte Tradition der Dialektik seit Platon in seinen Schriften sezierte. Kulturelle Bildung also übersteigt und ermöglicht individuelle Bildungsprozesse, einer Emphase des Selbst als gar selbst behaupteter Autonomie ist damit bereits das Wasser abgegraben, das Fundament unterspült. Eingangs stellte sich die Frage nach äquivalenten Begriffen zu Bildung in anderen Sprachen. Bildung ist in Konkurrenz zum Begriff der Erziehung entstanden. Interessanterweise steht im Titel eines der überzeugendsten und wirkungsvollsten Plädoyers für Bildung im deutschen Sprachraum genau der lateinisch stämmige Begriff, wenn nämlich Friedrich Schiller seine Bildungstheorie überschreibt: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, erstmals 1795 erschienen (vgl. Schiller 2000). In der deutschen Begriffsfindung gibt es historische Unschärfen, womöglich bis heute, denn educatio lässt sich nicht auf Ausbildung reduzieren, beinhaltet auch Reifung.[1] Innerhalb des Deutschen ist also eine sprachliche Differenzierung notwendig, nicht anders wie bei Übersetzungen in andere Sprachen, zum Beispiel ins Niederländische. Vorming meint Bildung, jedoch vor ganz anderen kulturellen Hintergründen, sprachlichen Traditionen, Mentalitäten. Das Verständnis des begrifflich Ähnlichen unterscheidet sich dann nicht weniger gravierend. In meinem Beitrag möchte ich versuchen, diese Differenzierungen zu veranschaulichen, im Hinblick auf ihre Konsequenzen für den Begriff der Kritik in der Kunstpädagogik, und das kann nur gelingen, wenn man nicht nur auf der wortwörtlichen, begrifflichen, definitorischen Ebene bleibt, vielmehr über den Diskurs hinaus die angesprochenen kulturellen Einbettungen mit aufscheinen lässt, so schwer das auch sein mag. Denn wie vermittelt man eine Erfahrung, die sich der klaren Begrifflichkeit vielfach entzieht, wie die einer Mentalität zum Beispiel? Für das trans- und interkulturelle Verständnis untereinander ist das von entscheidender Bedeutung. Ein Begriff mag übersetzbar sein, wie aber wird er im anderen, kulturellen Zusammenhang aufgefasst, verstanden, verwendet? Diese Dimension ist Teil der hier angesprochenen Problematik. Um sie konkret aufzuzeigen, gehe ich zunächst von signifikanten Beispielen der eigenen Erfahrung aus.

 

2.  Kunstpädagogik – aus praktischer Sicht

Als junger Kunsthistoriker zog ich von Köln nach Brüssel und suchte dort Arbeit. Vielleicht könnte ich Führungen im Kunstmuseum machen? Also rief ich in den Königlichen Museen für Schöne Künste an. Am anderen Ende begrüßte mich eine Frau auf Französisch, ich antwortete ihr auf Französisch und wurde mit dem service éducatif verbunden. Man empfing mich dort für ein Vorstellungsgespräch, ich durfte bald anfangen, mit Führungen auf Deutsch und Englisch, dafür war Bedarf. Nach einigen Wochen fragte ich – um mein Gehalt aufzubessern –, ob auch Führungen auf Niederländisch für den service interessant sein könnten, ich hätte Niederländisch während des Studiums in Amsterdam gelernt. Da schaute mich die freundliche Leiterin der Museumspädagogik überrascht an und zeigte mit dem Finger nach oben – die niederländischsprachigen Führungen würden von den flämischen Kolleg*innen veranstaltet, deren Büro läge genau über dem der Französischsprachigen. Es gab also zwei voneinander unabhängige museumspädagogische Dienste im gleichen Haus? Genau. Ich bewarb mich somit ein zweites Mal, nun eine Etage höher, auch dort wurde ich angenommen. Bald erkannte ich die Logik dahinter, typisch für die belgische Hauptstadt: Die Französisch-sprachigen bedienten ihre Kundschaft aus Wallonien und Brüssel, während die Niederländischsprachigen Flandern und Brüssel versorgten. Diese Unterscheidung sei wichtig, um auf die unterschiedlichen Mentalitäten eingehen zu können. Als Deutscher dazwischen ergab sich folgende Gemengelage: Einerseits musste ich mich auf die verschiedenen Bedürfnisse einstellen, andererseits war ich – im Gegensatz zu den meisten anderen – in beiden Abteilungen zuhause. Eine typische Erfahrung, die man als Ausländer in Brüssel, wenn man sich zweisprachig integriert, machen kann: eine wechselseitig belgische Perspektive zu gewinnen statt paritär dem Französisch- oder Niederländischsprachigen verhaftet zu bleiben, wie es die Mehrheit in Wallonien und Flandern tut, im Unterschied zur Vielsprachigkeit der Brüsseler*innen selbst. Woran lassen sich Mentalitätsunterschiede aber festmachen? Mit Blick auf die Situation im Kunstmuseum kann ich das heute nur schwer sagen. Ich spürte Unterschiede im Umgang, doch über Stereotype und Klischees hinaus könnte ich sie nicht benennen. Sie wurden jedoch zum Reizthema, als aus Spargründen vor einigen Jahren beide museumspädagogischen Abteilungen fusioniert werden mussten, und von beiden Seiten gerade der eigene, jeweils andere Stil in der Kunstvermittlung betont wurde. Inzwischen ist die Vereinigung Alltag und regt sich niemand mehr darüber auf. Mentalitätsunterschiede – Schnee von gestern, der einfach schmelzen kann?

Nicht ganz. Seit 2004 bin ich in Gent und heute auch Brüssel an der flämischen Kunsthochschule Sint-Lucas bzw. LUCA School of Arts tätig. Ein Kollege dort, Peter Van der Cotte, der ebenfalls zeitweilig in Frankreich an einer Kunstakademie Gestaltung unterrichtete, meinte einmal zu mir, dass in Frankreich die Studierenden sehr viel redegewandter seien als in Flandern, damit aber auch schlechtere Entwürfe bisweilen konzeptuell zu kaschieren versuchten, während flämische Studierende durchaus diskursiv Nachholbedarf hätten, sich dafür jedoch auch nicht hinter der Sprache verstecken würden, sondern nah am Bild und seinen Stärken und Schwächen blieben. Alle hätten sie das gleiche Ziel, hervorragende Gestaltung, nur die Wege seien sichtbar andere. Das zeigte sich mir einmal, als eine Erasmusstudentin unserer Partnerakademie in Deutschland, der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle, ihre Arbeiten präsentierte. Burg Giebichenstein steht zum Teil weiterhin in der Tradition des Bauhaus. Am Bauhaus galt die Materialerkundung als erster Grundsatz der Lehre, alle Studierenden absolvierten zunächst einen Kurs hierzu, bevor sie sich für spezielle Disziplinen wie Malerei oder Gestaltung entschieden (vgl. Itten 1963). Die Studentin zeigte sehr spannende Materialexperimente. Ihre flämischen Mitstudierenden reagierten jedoch wenig begeistert, suchten sie doch von vornherein – ihrer Ausbildung gemäß – kohärent bildliche Qualitäten, solche der bildlichen Formung des Materials. Der Hintergrund der Bauhaustradition war ihnen fremd, und sie waren zu unerfahren, um sich einem konzeptuell gänzlich anderen Rahmen zu öffnen, auch wenn sie ihn intellektuell verstehen mochten. Die Bildung im eigenen Rücken, die kulturelle Einbettung wirkte stärker.

Es braucht den Vergleich von Erfahrung und Konzept, und wie er zwingend wird, im sozialen Unverständnis füreinander, dann tritt Hintergründiges zu Tage, muss es thematisch werden. Um dieses Unverständnis fruchtbar zu machen, braucht es zudem persönliche Geduld und Offenheit wie auch den sozialen Rahmen für eine Annäherung, Begegnung. Prämissen, die keinesfalls selbstverständlich sind, weder unter Studierenden noch Lehrenden, und die Teil eines Verständnisses von Kritik in der Kunstpädagogik sind, wie ich es zum Abschluss des Beitrags zusammenfassen werde.

Das Beispiel der Museumspädagogik in Brüssel und das von meiner Kunsthochschule zeigen bereits drei verschiedene Richtungen auf, wenn es um die Frage der kulturell geprägten Kunstpädagogik geht, in diesem Fall eine französische Spielart, eine flämische und eine deutsche. Die kulturelle Prägung bestimmt zum Beispiel die Sprechweise in der Vermittlung, das Vokabular, die Gestik sowie Anspielungen, die als verständlich weil allgemein gebräuchlich angenommen werden können. Was wiederum als Kunst betrachtet wird, ist eine weitere Frage. Wort, Bild und Materie sind zweifellos verschiedene Aspekte der gleichen, gemeinsamen Komplexität von Kunst und Gestaltung, wie diese Aspekte jedoch gewichtet werden, mag, so mein Kollege, selbst kulturelle Präferenzen kennen, im französischen Kulturraum etwa für die Sprachlichkeit, mit der sich dieser Raum auch begreift, denn la République des lettres ist überall dort, wo das Französisch kultiviert wird, im Unterschied zu Flandern oder Deutschland, wo es dieses Phänomen nicht gibt, schon die inhärente Verknüpfung von Republik und Schriftkultur nicht besteht, gerade Bildung – im Falle Deutschlands – als Selbstbildung im Kontrast zur Ausbildung durch den Staat aufgefasst wurde und damit auch von den politischen Implikationen gelöst, zugunsten jenes wohligen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert, entgegen revolutionärer Kämpfe für eine republikanische Verfassung.

Die Legitimität des eigenen Verständnisses von Lehre und Unterricht gestaltet sich historisch und kulturell sehr unterschiedlich. Hier kommen Erfahrung und Konzept zusammen und entzündet sich auch das beidseitige Unverständnis. In Flandern etwa gibt es zwar eine mögliche Übersetzung von Bildung als vorming, der kulturelle Hintergrund dort unterscheidet sich jedoch sehr von dem der Nachbar*innen im Osten, den Deutschen also. Jegliche Form eines ‚Deutschen Idealismus‘ gilt in Belgien allgemein eher als Übersteigerung, Überreizung, bestätigt durch die bitteren Erfahrungen zweier Weltkriege und Besatzungen, in einer Reihe mit zahlreichen Fremdbeherrschungen seit den Habsburgern, dem spanischen Königshaus, dem französischen, niederländischen. Mag der Begriff Bildung auch einigermaßen als vorming übersetzbar sein – im Sinne von Gestalt gebend, formend –, so endet die Nähe bei anverwandten Begriffen wie Bildungsideal. Da runzeln die Nachbar*innen (im Westen) schon die Stirn. Der zentrale Begriff mag übersetzbar erscheinen, das linguistische Feld dieses Begriffs aber verliert sich mitunter bei der ersten Assoziation und Konnotation.

 

3.  Die Methode Jacotot

2009 sprach mich während der Mittagspause ein anderer Kollege in Gent, der Fotograf Marc De Blieck, auf ein Buch von Jacques Rancière an, ob ich es kenne, Der unwissende Lehrmeister. Zwei Jahre davor war es sowohl in der niederländischen wie in der deutschen Übersetzung veröffentlicht worden, im Original erschien es 1987 (vgl. Rancière 2007a). Ich kannte es, wunderte mich jedoch als Marc zu mir meinte, er halte es geradezu für ein Lehrbuch zur künstlerischen Praxis, denn Kunst kommt nur am Rande vor. In erster Linie handelt es von politischen Fragen der Gleichheit und Emanzipation sowie von solchen des autodidaktischen Lernens und entsprechenden Lehrens. Rancière ließ sich hierfür von einem der grundlegenden Praktiker und Theoretiker des Selbstlernens im frühen 19. Jahrhundert inspirieren, Joseph Jacotot. Dieser war Rechtsgelehrter und Philologe, Anhänger der französischen Revolution gewesen, und musste unter Napoleons Herrschaft fliehen. In Leuven fand er 1818 die Anstellung eines Lektors für französische Sprache an der Staatsuniversität, damals noch unter niederländischer Herrschaft (die belgische Revolution ereignete sich zwölf Jahre später). Erstmals war er mit der Situation konfrontiert, dass er die Sprache seiner Schüler nicht beherrschte. Dem Ideal des Lehrers, Meister des Wissens wie seiner umsichtigen Korrektur zu sein, konnte er auf die Art nur indirekt nachkommen. Seine Notlösung war: Die Schüler sollten sich anhand einer zweisprachigen Ausgabe des didaktischen Romans Les Aventures de Télémaque (Die Abenteuer des Telemach) von François Fénelon, 1699 erschienen, die Sprache des französischen Originals selbst erschließen, er würde als Lehrer beurteilen können, wie weit sie auf eigene Faust damit kämen. Zu seinem Erstaunen sehr weit, so dass er begann grundsätzliche Überlegungen zum Selbstlernen festzuhalten, in seiner Schrift Enseignement universel – Langue Maternelle von 1823, worin der Erwerb der Muttersprache zum Paradigma des Erlernens von Sprache erhoben wird, durch den Gebrauch und seine handlungsleitenden Maximen, die zu drei pädagogischen Grundfragen an jede und jeden führen, wie Rancière in seinem Buch über Jacotot festhielt: Was siehst du? Was denkst du darüber? Was machst du damit?

Die niederländischsprachige Ausgabe von Le maître ignorant, Der unwissende Lehrmeister, wurde von Jan Masschelein übersetzt, der Erziehungsphilosophie an der Universität von Leuven lehrt (vgl. Rancière 2007b). Die Bedeutung von Rancières Buch sieht er, wie er im Vorwort schreibt, darin, dass es einen Ausweg aus der Zwickmühle bietet, Pädagogik als Hilfsmittel zur Überwindung sozialer Ungleichheit zu sehen, womit diese Überwindung, den Lehrenden und ihren Einrichtungen übertragen wird, so dass Expert*innen zur Bekämpfung von Ungleichheit entstehen die sich gleichzeitig über diese Ungleichheit bestimmen, sie als Existenzrecht brauchen und dadurch bleibend reproduzieren. Zu erreichende Kompetenzen würden so eine Zielführung vorspiegeln, die historisch in die Irre führt, im ständigen Wandel von Anforderungen an die Gesellschaft. Genau hieran schloss mein Kollege Marc an: Die Künste sind derart divers und vielschichtig geworden, dass wir an der Kunsthochschule entweder Spezialist*innen für jede Nische entwickeln müssen oder Generalist*innen des ständigen Neuanfangs, die nicht von bekanntem Wissen ausgehen. Die Herausforderung an die Pädagogik besteht also darin, Gleichheit im Lehrbetrieb produktiv werden zu lassen.

Für Jacotot wie Rancière bildet die lebendige, gesprochene Sprache den Schlüssel hierzu. Während Jacotot im 19. Jahrhundert vom rationalistischen Vernunftdenken der Aufklärung ausging, für das der Wille entscheidend war, orientiert sich Rancière zugleich am poststrukturalistischen Denken, das Sprache arbiträr versteht, als kodifizierendes Kontrastphänomen ohne Wirklichkeitsbezug, nach der Sprachtheorie von Ferdinand de Saussure. Das rationalistische Erbe findet sich auf die Art hochgradig differenziert wieder und bleibt doch der französischen Vorliebe für das Sprachliche erhalten. Dieses Spannungsfeld habe ich in meinem Buch Der Kunstlehrer Jacotot – Jacques Rancière und die Kunstpraxis 2016 erörtert (vgl. Mühleis 2016).

In seinem Vorgehen werden die Dimensionen von Sprache und Wille von Rancière kaum überschritten, während er zugleich andere Dimensionen damit einfordert: Dass zum Beispiel politische Teilhabe nicht mit dem Erheben der eigenen Stimme oder gar einem Argument beginnt, sondern mit der öffentlichen Wahrnehmung einer erhobenen Stimme. Er wendet sich also der Wahrnehmung zu, achtet jedoch auf seine operative Sicherheit im sprachlichen Rationalismus und reduziert derart das Besprochene auf das, was es augenscheinlich zu besprechen gibt. Ist die Suche über die Kongruenz von Sprache und Wahrnehmung hinaus allerdings wirklich irreführend? Nein, denn Spracherwerb und Wahrnehmungserwerb verlaufen auch nicht kongruent, gleichförmig, achtet man auf die Bildung der Sinne im Verhältnis zu jener der Sprachbefähigung im Kleinkindalter ebenso wie auf das Kultivieren von Sinnlichkeit und Sprachlichkeit später, ein Leben lang (vgl. Merleau-Ponty 1994). Genealogisch lässt sich diese poststrukturalistische Prämisse einer strikten, das Unsprachliche der Wirklichkeit ausschließenden Kongruenz, nicht aufrecht erhalten. Hierauf machte bereits der Hermeneutiker Paul Ricœur nachdrücklich aufmerksam.[2]

 

4.  Artuarium – The Grammar of Art School

An diese Zusammenhänge fühlte ich mich erinnert, als ich 2019 mit einer Kollegin, der Kunstpädagogin Nancy Vansieleghem, die Arbeit an der Herausgabe einer Sammlung kunstpädagogischer Texte begann. Früher war es in Flandern so, dass alle Kunststudierenden allgemein ihren Disziplinen nachgingen – ob Malerei oder Glaskunst oder Gestaltung –, und, wer wollte, danach eine Zusatzausbildung für das Lehramt machen konnte. Mir erscheint das nach wie vor am besten so, auf die Art bildet sich keine unproduktive Hierarchie zwischen den Studierenden ohne Lehrambitionen und jenen mit, wie das in Deutschland oder in Österreich etwa der Fall ist. Um das Lehramt jedoch stärker in den Lehrplänen der Kunsthochschulen zu verankern – angesichts der größeren Chancen von Lehrbefähigten auf dem Arbeitsmarkt danach –, ist man in Flandern davon abgewichen und hat seit wenigen Jahren nach angelsächsischem Vorbild einen Masterstudiengang Kunstpädagogik eingeführt. Die Studierenden müssen sich jetzt also nach dem gemeinsamen Bachelor entscheiden, ob sie ihren Abschluss auf Lehramt oder frei machen wollen. In diesem Rahmen entstand die Frage nach einer neuen Sammlung kunstpädagogischer Beiträge.

Meiner Kollegin schwebte zunächst ein Buch vor, wie Jan Masschelein, ihr Doktorvater, es für die Pädagogik allgemein herausgegeben hatte. Unter dem Titel Dat is pedagogiek: Actuele kwesties en sleutelteksten uit de Westerse pedagogische traditie van de 20ste eeuw eröffentlichte er 2019 gemeinsam mit einem Team von zwölf Kolleg*innen auf über 500 Seiten Ausschnitte originaler Schlüsseltexte für die Erziehungswissenschaft (vgl. Masschelein 2019). Sie band ihn in unser Vorhaben mit ein, auch ich kenne ihn seit langem. Beide sprachen sich dafür aus, dass wir in unserem Buch kunstpädagogischer Texte auf jegliche Form von Kommentar oder Einführung verzichten sollten, um originale Ausschnitte für sich selbst sprechen zu lassen. Ich war damit durchaus einverstanden – auf Rancières Tenor, die Ungleichheit wo möglich nicht zu reproduzieren, konnten wir uns ohnehin einigen. Wir unterschieden uns nur darin, dass ich die Ausschließlichkeit von Rancières methodischem Vorgehen – gemäß dem rationalistischen Erbe von Sprache und Wille, poststrukturalistisch differenziert – in Zweifel zog, und damit auch den Sinn einer radikalen Präsentation originaler Texte. Wir einigten uns zum Beispiel darauf, ebenfalls Bilder in die Sammlung aufzunehmen, als Seh- und Denkanstöße. Hinzu kam, dass wir selbstverständlich eine möglichst diverse Expertise in unserem Band gespiegelt sehen wollten, um viele Sichtweisen und Blickwinkel zu eröffnen. Dieser Aspekt führte wiederum dazu, dass manche Kolleg*innen auch selbst entwickelte Positionen zum Thema der Kunstpädagogik vorschlugen, Pierangelo Maset etwa oder Eva Koethen aus dem deutschsprachigen Raum. Da mir die Fixierung auf nur originale Beiträge zu sehr einem rigiden Korsett verhaftet zu bleiben schien – im Zweifel an Rancières methodologischer Exklusivität –, schlug ich zudem die Aufnahme von Texten vor, die weder einführten noch kommentierten, jedoch Reflexionen der Originale einbrachten, als Schlaglichter, Anreize, um einer Stilisierung der Originale als solchen entgegenzuwirken, sie ebenso als Teil vielschichtig sich artikulierender, differenzierender Betrachtungen zu zeigen.

An diesem Punkt kam es zum Konflikt innerhalb unseres Teams, dem eingangs erwähnten Unverständnis, an dem nicht nur unsere Lesart von Rancière auf dem Spiel stand, vielmehr auch unsere verschiedenen Hintergründe. Ich traute der rationalistischen Zuspitzung ebenso wenig wie umgekehrt meine Kollegin jenen Einflüssen, die sich deutlich ihrem pädagogischen Verständnis entzogen, letztlich in meine Hintergründe deutschsprachiger Sozialisation im Bildungsdenken führten, wobei romantische Skepsis am Rationalen mitschwingt und damit Erfahrungswissen nicht vollends einem positiv sich ausweisenden Wissen überantwortet wird. Das Projekt drohte an unserer Uneinigkeit zu scheitern. Ich schlug als neuen konzeptuellen Rahmen für diese Vielschichtigkeit ein exemplarisch-offenes Abcdarium vor, dass also nicht jeder Buchstabe von A bis Z eingetragen sein müsste, wir kein System präsentieren würden, vielmehr ein Spiel, das einer losen Reihung folgt, mit Stichwörtern, die wir für den kunstpädagogischen Diskurs als relevant erachten, und die mit entsprechenden originalen oder ergänzenden Texten bzw. Bildern verbunden sind. So entstand das Konzept und der Titel unserer Sammlung, genannt Artuarium – The Grammar of Art School. Gemeinsam mit der Gestalterin Hannah Boogaerts entschieden wir uns für variable Gestaltungsformen der unterschiedlichen Inhalte: eine bestimmte Typografie für die ergänzenden Texte, Wiedergaben Abdrucke der originalen Drucke originaler Texte etc. Die Abbildungen des 2022 erschienenen Bandes geben einen Eindruck hiervon (Abb. 1 bis 3, vgl. Vansieleghem/Mühleis 2022). Insgesamt sind darin in drei Sprachen – Englisch, Französisch und Niederländisch – Beispiele kunstpädagogischer Reflexion quer durch die Geschichte mit Blick auf ihre aktuelle Bedeutung enthalten, hinsichtlich diverser Medien und Kulturen, von Augusto Boal, Serge Daney, Fernand Deligny, Marguerite Duras, Jerzy Grotowski, Lisa Jevbratt, Eva Koethen, Audre Lorde, Pierangelo Maset, Kakuzo Okakura, Ousmane Sembene, Richard Serra, Michel Serres, Susan Sontag u.v.m. Das Ergebnis unserer Zusammenarbeit stellt demnach nicht allein kritische, kulturell diverse Positionen zur Kunstpädagogik dar, es ist selbst aus wechselseitiger Kritik am jeweils anderen pädagogischen Verständnis entstanden, zugunsten einer offenen Zwischenform, als neuer, selbst transkultureller Stellungnahme zum Thema. Vor diesem Hintergrund möchte ich abschließend gern einige allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Kritik und Kunstpädagogik formulieren. Dabei erscheint es mir hilfreich, nicht bei Ausrichtungen auf Erziehung oder Bildung zu beginnen, vielmehr die Voraussetzungen dieser Akzentuierungen mit in den Blick zu nehmen. In diesem Sinn schlage ich eine Verschiebung zum Begriff der Kunstvermittlung vor, um im Folgenden sein Potential im Verhältnis zur Kritik zu erörtern.

Abb. 1–3: Hannah Boogaerts, Artuarium.

 

5.  Kritik und Kunstvermittlung

Mentalität und Kultur übersteigen und durchdringen einzelne Äußerungen und Vorstellungen, wie es am Beispiel der Übersetzbarkeit des Begriffs Bildung – noch ganz abgesehen von spezifischen Bildungsbegriffen – deutlich geworden ist. Wo ein Konflikt entsteht, bei dem niemandem etwas vorzuwerfen ist, wirken sich diese untergründigen Einflüsse aus. Der Widerstreit liegt in Bedingungen der eigenen Verfasstheit, die weder gewählt sind noch sich willentlich ändern lassen, ob sozialer Art oder individueller, etwa in Hinsicht eines Körpers, zu dem es sich als dem eigenen primär zu verhalten gilt, in welcher Weise auch immer. Strukturen der Vergleichbarkeit sind zu begrüßen, wie intersubjektive und objektive Formen sie ermöglichen, geteiltes Sprachverständnis und messbare Berechenbarkeit. So wie Jean-François Lyotard den Widerstreit als unaufhebbar für die sprachliche Auseinandersetzung, den Diskurs zeigte – in seinem Buch Le Différend von 1983 (vgl. Lyotard 1987) –, so analysierte ihn Edmund Husserl mit dieser Bezeichnung bereits 1904/05 als Phänomen der Wahrnehmung, in seinen Vorlesungen über Phantasie und Bildbewußtsein (vgl. Husserl 2006).[3] Widerstreit, Dissens, Unverständnis motivieren Verstehen, Konsens, Verständnis. Letztere zu bilden, vollzieht sich überhaupt nur entlang der zuerst Genannten. Das Figur-Grund-Schema der Gestaltpsychologie, wie es seit Aron Gurwitsch in die Phänomenologie Eingang gefunden hat (vgl. Gurwitsch 1935 und 1964)[4], als Kontrast von Thema und Hintergrund, bei dem in den Vordergrund treten kann, was zuvor abseitig war und umgekehrt, lässt sich derart auch als ein Schema kritischer Akzentuierungen begreifen, wobei Momente von Widerstreit und Verstehen einander in Wechselwirkungen erhellen, zumindest in dem Maße, wie ein Wechsel möglich ist, der Hintergrund sich der gemeinsamen Konstellation nicht völlig entzieht. Bernhard Waldenfels hat eingehend die Differenzierung von Kontrasten untersucht, welche selbst als Prozess uneinholbar bleibt, unumkehrbar ist – wenn der uneinholbare zeitliche Verlauf zwar zeitliche Phänomene auch in ihrer wechselwirksamen Variation generiert, Rhythmen zum Beispiel, sich der stiftende Verlauf jedoch selbst einer Umkehrung entzieht, ungreifbar bleibt (vgl. Waldenfels 2009).

Kritik in diesem Sinn ist situativ eingebettet, bedarf der Erkundung des Wendbaren, Variierbaren, thematisch Werdenden, immer eingedenk nicht verhandelbarer Schatten- und Rückseiten, die auf Seiten der Beteiligten erst zum Verstehen motivieren, dem eigenen Wollen und Wählen entzogen. Das Vordergründige findet Anschluss im intersubjektiv und/oder objektiv Teilbaren, im Rahmen seiner dissensuellen Grenzen, jenes radikalen Entzugs, wie Waldenfels ihn beschreibt, nicht nur auf erkenntnistheoretischer, ebenso auf handlungsleitender Ebene, da es ein eigenes Tun ohne das Zutun Anderer nicht gibt, unumkehrbar – ich kann nicht in die Haut all der Anderen schlüpfen, immer gibt es Hintergründe, Motivationen, die sich mir völlig entziehen und die zugleich die soziale Situation beeinflussen.

Wir können also sprachliche und messbare Prämissen gemeinsam thematisch machen und vergleichen – was ich unter Rationalismus verstehe, warum ich ihn in der französischen Tradition der Kunstpädagogik bis heute wirksam sehe, auf welche Art er auch Auffassungen der Kunstpädagogik in Belgien beeinflusst hat, welche Rolle ein möglicher Brückenschlag zur deutschen Tradition der Bildung über den niederländischen Begriff der vorming denkbar ist, wie sich dieser Brückenschlag in der flämischen Kultur wieder anders darstellen würde als in den Niederlanden selbst, was damit wiederum über die Unterschiede zu Fragen der Bildung gesagt werden könnte, im Zeichen auch der Kritik wiederum von Bildung in Deutschland, der internationalen Vergleiche seit den PISA-Erhebungen, dem europäischen Bologna-Prozess usw. Der Begriff der Kritik nähert sich so dem der Vermittlung an. Und gelten nicht für beide, Kritik wie Vermittlung, die drei pädagogischen Grundfragen, von denen Rancière mit Blick auf Jacotot spricht: Was siehst du? Was denkst du darüber? Was machst du damit? Denn beide müssen Antworten bieten auf die gleiche Aufgabe: eine Orientierung zu finden und in Abwägung der jeweils thematischen Konstellation plausibel zu machen. Die Wahl der Vermittlung folgt Präferenzen, die legitimiert, ausgewiesen werden müssen, ebenso wie die der Kritik – der Unterschied besteht dann in der Ausrichtung dieser Präferenzen (steht die entsprechende Sache im Dienst sozialer Teilhabe, dient die soziale Teilhabe der Erkenntnis, Erfahrung einer bestimmten Sache?). Schließlich würde das bedeuten: Nicht das bessere Wissen steht am Anfang der Kritik oder Vermittlung – gar im Sinne eines Konzepts von Erziehung oder Bildung –, vielmehr ein Drehen und Wenden des Gegebenen, um es auf seine Erkundbarkeit hin zu prüfen, produktiv zu machen, im ständigen Abtasten, Abschatten, Abgleichen des Widerstreitenden mit dem Verständlichen, zwischen den äußersten Enden eines dissensual Entzogenen – wir können beide nicht fassen, was uns stört – und konsensual Überschüssigen (etwas ist für uns beide überwältigend, evident und doch unfassbar).

Nicht nur bilden Vermittlung und Kritik auf die Art einen Chiasmus, eine gemeinsame Figur der Durchkreuzung – die gefundene Kritik an einer Sache etwa muss selbst wiederum kritisch vermittelt werden. Das erfordert eine Reflexion hinsichtlich der Bedingungen von Vermittlung, wie etwa der verwendeten Sprache, Medien etc. Kunstkritik richtet sich zugleich eingedenk dieser Reflexion auf die Befragung, Differenzierung, Kontextualisierung des entsprechenden Gegenstands Kunst, am Beispiel ihrer Manifestationen in Werken, Performances, Ausstellungen usw. Eine kunstkritische Vermittlung ginge so zunächst mit jeder Form von Vermittlung einher, als eine der spielerischen, erprobenden Befragung des thematisch, figürlich Veränderbaren, zugunsten sich ändernder Erfahrbarkeit, dem Impuls diese zu teilen, gemeinsame Situationen zu erleben, leibhaftig oder medial übertragen, im Hinblick auf unterschiedliche Vorlieben im weiteren Umgang damit, in vielleicht der Motivation zum eigenen künstlerischen Gestalten, oder dem Reiz eines Widerworts in Form buchstäblicher Kunstkritik, oder auch der stillen Übertragung des Gesehenen auf den eigenen Lebensraum, wenn man nach dem Ausstellungsbesuch eine Postkarte mitgenommen hat, um sie zuhause in die Küche zu hängen, sich weiter an dem Bild zu erfreuen, ohne Kommentar.

Das Erkunden des Gegebenen birgt die Vorform expliziter Kritik, so wie Kunst sich dank ihrer Erfahrung vermittelt, noch bevor jemand das Wort für sie ergreift (vgl. Mühleis 2011: 131f. sowie ders. 2014). Der emanzipatorische Gedanke Rancières, das Wiederentdecken der Gleichheit über ein geteiltes Objekt – im Fall Jacotots das Buch von Fénelon – lässt sich meines Erachtens phänomenologisch vertiefen, um mit Hilfe des Figur-Grund-Schemas mit dem Sprachlichen auch das Nicht-Sprachliche thematisieren zu können, mit dem Wahrnehmbaren das sich der Wahrnehmung Entziehende, etc. Angesichts der eingangs erwähnten Differenzierung der Diskurse von Bildung und Kritik seit dem 19. Jahrhundert orientiere ich mich hierbei an der kunstpädagogischen Forschung, wie sie vor allem Käte Meyer-Drawe im Rahmen der Phänomenologie seit den 1970er Jahren etabliert hat und weiterhin entwickelt. Das erwähnte Schema führt darüber hinaus zu einer Kontrastierung der Begriffe von Kritik und Vermittlung – pragmatischer, handlungsgeleiteter Kritik von Kunst im Erörtern ihrer produktiven Veränderbarkeit und der Vermittlung von Kunst, im Sinne dessen, was sie der Erfahrung gibt oder schenkt, was uns stimuliert damit bewusst umzugehen, es zu teilen, ob über eigene Wege künstlerischer Aktivität, über Antworten in Form ausdrücklicher Kritik oder über Umgangsweisen, die das sich Vermittelnde weitertragen, in den gemeinsamen Raum, und ist es nur durch das Bild einer Postkarte. Im Rücken aktiver Kritik und Vermittlung würde so das passive Erfahren aufscheinen, immer mit von der Partie sein, in all seinen Schattierungen. Es ist dieser Hintergrund, vor dem sich dann spezifisch pädagogische Fragen eingedenk ihrer besonderen Konzeptualisierungen erst abzeichnen.

 

Anmerkungen

[1] die humanistischen Erziehungsbücher für die Aristokratie, etwa von Erasmus von Rotterdam Die Erziehung des Christlichen Fürsten, im Original 1516 veröffentlicht (von Rotterdam 1968).

[2] die folgende Anmerkung Ricœurs: „Nach diesem [Saussureschen, Anm. V.M.] Modell erzeugt die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat eine doppelgesichtige Entität, das eigentliche Zeichen, bei dessen Erfassung die Beziehung zum Referenten unberücksichtigt bleibt. Dieses Ausschließen ist das Werk des theoretischen Blicks, der das Zeichen zum homogenen Thema der linguistischen Wissenschaft erklärt. Das bipolare, den Referenten ausschließende Signifikant-Signifikat-Modell hat sich in allen Regionen der Sprache, die einer semiotischen Behandlung zugänglich sind, ausgebreitet. So hat eine Narratologie Saussureschen Typs die modellbedingte Verbannung des Referenten auf lange textuelle Sequenzen ausdehnen können. Wenn die Auswirkungen auf die Fiktionserzählung noch diskutabel scheinen konnten […], so mußten sie für die historische Erzählung […] umso verheerender sein […].“ (Ricœur 2004: 378–379)

[3] die folgende Passage Husserls: „um seiner Einheit willen hat das ganze Bildobjekt […] diesen Widerstreitcharakter. Es hat überhaupt in doppeltem Sinn einen Widerstreit zu tragen. Einmal a) den Widerstreit gegen die aktuelle Wahrnehmungsgegenwart. Das ist der Widerstreit zwischen Bild als Bilderscheinung und zwischen Bild als physischem Bildding; b) das andere Mal den Widerstreit zwischen der Bildobjekterscheinung und der sich damit verschlingenden oder vielmehr sich mit ihr überschiebenden Vorstellung des Sujets.“ (Husserl 2006: 53)

[4] über den Einfluss von Gurwitsch auf Maurice Merleau-Ponty aus einem Brief des deutschen Phänomenologen an seinen Kollegen Alfred Schütz vom 11. August 1947: „Ich lese jetzt Merleau-Ponty’s »Perception« [Anm. V.M.: Phénomenologie de la Perception, 1945 in Paris erschienen, wo Merleau-Ponty bei Gurwitsch studiert hatte]. Ich höre aus dem Buch enorm viel aus meinen Vorlesungen heraus. Er hat viel von mir gelernt und übernommen. Nicht nur in den Einzelheiten, wo er manches entwickelt hat. Ich zweifle daran, ob er ohne meinen Einfluß auf die Idee gekommen wäre, das psycho-pathologische Material phänomenologisch auszudeuten. Meine Stimmung bei der Lektüre ist eine Mischung aus Freude und Melancholie. Ehrliche Freude über das gelungene Buch, das wirklich eine schöne Leistung ist; und Freude auch darüber, daß mein Einfluß dabei in einem gewissen Sinne Pate stand.“ (Schütz/Gurwitsch 1985: 158-159)

 

Literaturverzeichnis

Gurwitsch, Aron (1935): Développement historique de la Gestaltpsychologie. In: Thalès, Vol. 2., S. 167-176.

Gurwitsch, Aron (1964): Field of Consciousness. Pittsburgh: Dusquesne University Press.

Husserl, Edmund (2006): Phantasie und Bildbewußtsein. Herausgegeben und eingeleitet von Eduard Marbach. Hamburg: Felix Meiner.

Itten, Johannes (1963): Mein Vorkurs am Bauhaus. Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg: Otto Maier.

Lyotard, Jean-François (1987): Der Widerstreit. Aus dem Französischen übersetzt von Joseph Vogl. München: Wilhelm Fink.

Masschelein, Jan (2019): Dat is pedagogiek. Actuele kwesties en sleutelteksten uit de Westerse pedagogische traditie van de 20ste eeuw. Leuven: Universitaire Pers.

Merleau-Ponty, Maurice (1994): Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949-1952. Aus dem Französischen übersetzt von Antje Kapust. München: Wilhelm Fink.

Mühleis, Volkmar (2011): Ein Kind lässt einen Stein übers Wasser springen. Zu Entstehungsweisen von Kunst. München: Wilhelm Fink.

Mühleis, Volkmar (2014): Mädchen mit totem Vogel. Eine interkulturelle Bildbetrachtung. Paderborn: Wilhelm Fink.

Mühleis, Volkmar (2016): Der Kunstlehrer Jacotot. Jacques Rancière und die Kunstpraxis. Paderborn: Wilhelm Fink.

Rancière, Jacques (2007a): Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Aus dem Französischen übersetzt von Richard Steurer. Wien: Passagen.

Rancière, Jacques (2007b): De onwetende meester. Vijf lessen over intellectuele emancipatie. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Jan Masschelein. Leuven: Acco.

Ricœur, Paul (2004): Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek. München: Wilhelm Fink.

Schiller, Friedrich (2002): Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Herausgegeben von Klaus L. Berghahn. Stuttgart: Reclam.

Schütz, Alfred/Gurwitsch, Aron (1985): Briefwechsel 1939-1959. Herausgegeben von Richard Grathoff. München: Wilhelm Fink.

Vansieleghem, Nancy/Mühleis, Volkmar (Hrsg.) (2022): Artuarium. The Grammar of Art School. Gent: Grafische Cel.

von Rotterdam, Erasmus (1968): Die Erziehung des Christlichen Fürsten. In ders.: Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani. Einführung, Übersetzung und Bearbeitung von Anton J. Gail. Paderborn: Schöningh.

Waldenfels, Bernhard (2009): Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

 

Abbildungsverzeichnis

Abbildungen 1-3, Hannah Boogaerts, Artuarium.

Von Volkmar Mühleis

Veröffentlicht am 3. August 2025

Zitiervorschlag

Mühleis, Volkmar: Kunstvermittlung zwischen Rationalismus und Bildung, in: Iris Laner (Hg.): Kritik (in) der Kunstpädagogik. Ihre Formen, Relationen und Potenziale denken, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2025. Quelle: https://zkmb.de/kunstvermittlung-zwischen-rationalismus-und-bildung/; Letzter Zugriff: 18.09.2025

Review-Verfahren

Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.