„Wenn Sie noch einmal Zigeuner sagen, werde ich Sie anzeigen, und zwar alle“ (Kenan Emini).
Eine Gruppe von drei jungen Frauen steht erhöht, eine andere sitzt am Boden. Um diese bewegen sich langsam kreisend vier Menschen, die sitzende Gruppe spricht laut den Anfang des Gedichtes Der Spiegel von Jovan Nikolić [1].
„Ein kleiner Junge spaziert mit seinem Vater durch die Stadt. Er hört, wie jemand in ihrem Rücken ihnen ein Wort nachwirft: Z I G E U N E R !“ (Nikolić 2014: 17).
Sie sprechen jeden Buchstaben einzeln aus, dabei stürzen die Laufenden panisch durcheinander. Eine ruhige Stimme spricht von den erhöhten Plätzen:
This performance preceded a lengthy discussion on the use of racist and discriminatory terms, and the implications of repeating them. How does the harmful language we use need to change? What is implied with the slang we speak? After the performance, we discussed what it means to spell out the word Zigeuner, does it make the word less powerful? Or, conversly, give the term more emphasis?
„Artikel 2 (Verbot der Diskriminierung) Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des Weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebiets, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist“ (Amnesty International 2009).
Fußstampfen, Papierrascheln, weiße Blätter werden in die Höhe gehalten, straff auseinander gezogen und zerknittert.
„Er versteht das Wort nicht, spürt aber, wie etwas in ihm vom Feuer der väterlichen Hand, die ihn hält, zu brennen beginnt. Er ahnt, dass dieses Wort, voll einer unbekannten Gefahr, einen verhängnisvollen Einfluss nehmen wird auf sein künftiges Leben“ (Nikolić 2014: 17).
Die Vortragenden am Boden werden dicht umkreist von den Laufenden. Ein Chor unterbricht das Gedicht und ein weiterer Artikel der Menschenrechte wird vorgetragen. Die Stimmen werden abwechselnd lauter und betonen unterschiedliche Aspekte.
In doing this exercise where one interrupts a conversation, we found using the list of human rights provided us with an excellent opportunity to discuss the stark differences and injustices between which basic human rights should exist and the reality of marginalized groups in Europe. Namely: the Right to Democracy, Social Security, Food and Shelter for All and the Right to Education. Although a simple text, the reading and reacting to the United Nations Universal Declaration of Human Rights has, in all of our workshops, been a successful and fruitful jumping off point for later discussions and performance strategies.
Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben. Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen“ (Amnesty International 2009).
Fußstampfen, Papierrascheln, weiße Blätter werden in die Höhe gehalten, straff auseinander gezogen und zerknittert.
„dass es, den Kiefer voll niederträchtiger Konsonanten, nach ihm schnappen und sein Herz mit den scharfen Zähnen des Spotts und der Verachtung heimsuchen wird. Seither bleibt er immer ein wenig länger vor dem Spiegel stehen; er wartet, dass dort, im Abbild seiner Gestalt, die Bedeutung dieses Worts aufscheint und sich ihm entdeckt“ (Nikolić 2014: 17)
Zwei Menschen stehen sich gegenüber, spiegeln ihre Hände, die sich aneinander pressen und sprechen miteinander:
„,Wie geht es Dir heute?’
,Wie es mir geht? Wie geht es einem, dessen Frau und Kinder abgeschoben wurden und der sie seit vier Monaten nicht gesehen hat?’ Der 37-Jährige schweigt kurz und antwortet dann leise: ‚Wie immer. Beschissen.’“ (derFreitag 2017)
Die ,Kreisenden’ hocken sich hin und versuchen sich zu verbergen, die am sitzende Gruppe trägt das Gedicht weiter vor:
„Zugleich verspürt er die große Angst, er werde dort etwas Verhängnisvolles und Schmerzliches sehen, das die Seele für alle Zeit davon tragen könne“ (Nikolić 2014: 17).
Der erhöhte Chor fährt mit den Menschenrechtsartikeln fort:
This exercise is an example of how students in the workshops have begun to experiment with mixing theories and texts in a performative setting. Beginning with reading Jelinek’s play we have found that a constructive way to begin writing a script – or score – for a final performance, as well as an excellent way to acquaint students with the text, has been to slowly introduce this idea of mixing texts, interrupting with new text, and integrating reactions to the texts at hand.
Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ (Amnesty International 2009).
Fußstampfen, Papierrascheln, weiße Blätter werden in die Höhe gehalten, straff auseinander gezogen und zerknittert.
Wieder das Gedicht:
„So dass er nicht mehr sicher sein kann, auf welcher Seite des Spiegels er selbst und auf welcher jener dort steht, der ihn mit den eigenen Augen ansieht“ (Nikolić 2014: 17).
Und wieder ein Artikel des Chores:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen“ (Amnesty International 2009).
Fußstampfen, Papierrascheln, weiße Blätter werden in die Höhe gehalten, straff auseinander gezogen und zerknittert.
Das Ende des Gedichtes:
„Und den Fehler sucht“ (Nikolić 2014: 17).
Das Papier wird von allen zerrissen.
The praxis component of our workshop at Institut für Kunst & Kunsttheorie focused on reacting, responding, re-reading and experimenting with art and performance strategies based on the topic Widerlegen, Widersetzen, Widerstehen: zur Situation der Sinti und Roma in Europa und in Deutschland. We worked through questions such as: what would it mean to respond to this subject as a Lecture Performance? What are appropriate and inappropriate artistic strategies when addressing this topic? How can performance, lectures and reading experiments help us to understand this issue differently and work through our own, often privileged, positionality?
While exploring topics and political issues surrounding migration, we have employed a loose definition of the Lecture Performance to help our classes create a collective performance out of the discussions and questions that arise during the course.
The Lecture Performance acts as an amalgam of the traditional lecture format, pedagogical practices, academic research, performance techniques and visual art.
It is a means of shifting predominant art discourses and forming a new exchange of art dialogue perpetuated by artists. With a movement toward dialogue and alternative pedagogies both on- and offline such as: Grant Kester’s Dialogical Aesthetics, the Bruce High Quality Foundation, MOMA’s recent Art Speech, a Symposium on Symposia and Hennessy Young-man’s youtube lectures Art Thoughtz, there is an increasing interest in using the hybrid and often fictionalized lecture format not as a supplementary tool to one’s art practice but as a central part of it.
As an introduction to the Lecture Performance, we begin with a review of Lecture Performance as a sub-genre of 1960’s performance art with lectures such as Robert Morris’ 21:3 (1963) and Joseph Beuys’ How to explain pictures to a dead hare (1965). From here, we move into the role of the Lecture Performance in institutional critique with lectures such as Andrea Fraser’s Museum Highlights (1989). Lastly, we examine some contemporary Lecture Performances strategies both on- and offline with work from artists like Rabih Mroue and Hennessy Youngman. Through this framework, we investigate the gaining momentum of this genre in contemporary art.
Migration innerhalb der Festung Europa. Das ist das, was kaum jemand weiß, da es keine Erzählung mit Brisanz dazu gibt. Da ist es jetzt sicher. So ist das! Da sitzen wir nun in Köln und begeben uns in eine Recherche… Wo sind die Bücher, Texte und Dokumente einer sogenannten Rückführung? Einige in einer kalten Garage im Kosovo, Mazedonien, Serbien oder Neukölln. Der akademische Kanon ist so, wie er ist. Er kennt die Migration, aber es braucht die Trüffelschweine, die die Dokumente und Selbstzeugnisse von Rassismus und Migration suchen und zur Verfügung stellen. Jetzt müssen wir einen weiten Weg gehen. Die Studierenden ,meinen’ viel. Da gilt es jetzt viel kaputt zu machen und Quellen und O-Töne zu suchen: bei youtube, dem Verlag ohne ISBN und den wichtigen und gut recherchierten objektiven und subjektiven Beiträgen…[2]
Die Studierenden werden zu Lehrenden ausgebildet. Sie haben mit uns gemeinsam die Möglichkeit, über den strukturellen Ausschluss im Bildungskontext zu diskutieren. Und viele gehen raus mit dem Wissen um die eigene Involviertheit, Verantwortung und Möglichkeit.
Keine spricht klarer über die Exklusivität eines Schulbesuchs für Kinder angesichts des Stresses als EU-Zuwanderer*innen aus Rumänien, der Minderheit der Roma zugehörig[3], als Eva Ruth Wemme: „Später ging sie oft nicht hin, weil sie ihre Schwester und deren Kinder unterstützen musste, weil sie keine Schwimmsachen hatte, keine Winterschuhe, weil sie an dem einen oder anderen Tag nicht daran dachte. Zur Schule gehen, das war etwas, was man tat wie zu einer Geburtstagsfeier zu gehen. Man konnte es nur tun, wenn alle Pflichten erfüllt waren, wenn man sich nicht vor der Famillie dafür schämen musste, sich so einen Luxus zu gönnen“ (Wemme 2015: 37).
[1]Jovan Nikolić, 1955 in Belgrad geboren, wuchs in einer Romasiedlung bei Cacak in Serbien auf. Er veröffentlichte bislang zahlreiche Lyrikbände, Theaterstücke sowie satirische Texte in serbokroatischer Sprache. 1999, nach dem Bombardement der NATO, emigrierte er aus Belgrad und lebt seitdem in Köln. Er war Stipendiat der Heinrich Böll Stiftung, Akademie der Künste Berlin, Writers-in-Exile-Programms des deutschen PEN-Zentrums der Stadt Graz, der Stiftung Künstlerdorf Schöppingen sowie von KulturKontakt Austria. Im Jahr 2000 erlebte das von Nikolić zusammen mit Ruzdija-Ruso Sejdović verfasste Antikriegsstück Kosovo mon amour bei den Ruhrfestspielen seine Uraufführung. Seit 2002 ist Nikolić Vizepräsident des Internationalen Romani Schriftstellerverbandes (IRWA), außerdem ist er Mitglied im serbischen. In deutscher Übersetzung erschienen seit 2004 die Lyrik- und Prosabände Zimmer mit Rad (2004), Weißer Rabe, schwarzes Lamm (2006) und Käfig (2009), alle in Klagenfurt. Weißer Rabe, schwarzes Lamm wurde 2011 zum Buch für die Stadt der Stadt Köln gewählt.
[2]Research based art nach Stefanie Busch: Stefanie Busch arbeitet in kollektiven Prozessen im Kontext der kulturellen Bildung und zeitgenössischer Im Zentrum der Recherchen stehen Selbstzeugnisse nichtakademischen Publizierens. Sie integriert akademische, pop- und subkulturelle Dokumente und schafft eine unkonventionelle Bildungsumgebung mit utopischem Potenzial und Widerspruch.
[3]Die Minderheit der Roma und Sinti ist mit zwölf Millionen die größte in Es gibt Angehörige der Minderheit mit einem deutschen Pass, sie sind mehrheitlich Sinti. Es gibt ehemalige Gastarbeiter*innen in Westdeutschland, die in den 1970ern und 1980ern nach Deutschland migriert sind. Hier leben Verfolgte aus dem ehemaligen Jugoslawien in Asylverfahren und Arbeitsmigrant*innen, EU-Bürger*innen aus der Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Es gibt daher keine einheitliches Narrativ und keine strukturelle Bildungsungerechtigkeit, die für alle zutrifft – doch der Rassismus trifft alle (vgl. Heinrich Böll Stiftung Sachsen 2017 zum Projekt RomaRespekt).
Amnesty International (2009): Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Online: https://www.amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemeinen-erklaerung-der-menschenrechte [27.12.2017]
derFreitag (2017): Porträt. Als Tito lebte, hatten wir noch Rechte. Online: https://www.freitag. de/autoren/der-freitag/als-tito-lebte-hatten-wir-noch-rechte [27.12.2017]
Heinrich Böll Stiftung Sachsen (2017): RomaRespekt – Lokalrecherchen & Empowerment. Online: http://www.weiterdenken.de/de/romarespekt [3.5.2019]
Nikolić, Jovan (2014): Der Spiegel. Aus der Serbischen von Bärbel Schulte. In: Heinrich Böll Stiftung Heimatkunde/ Migrationspolitisches Portal: Dossier Perspektiven und Analysen von Sinti und Rroma in Deutschland. Online: https://heimatkunde.boell.de/sites/ default/files/dossier_perspektiven_und_analysen_von_sinti_und_rroma_in_deutschland. pdf [3.5.2019]
Wemme, Eva Ruth (2015): Meine 7000 Nachbarn. Berlin: Verbrecher Verlag, S.37.
Abb. 1: Diagramm von Busch/Tetrault (2018).
Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.