„Make Every Second Count“. Musikalisierte Mikroformate als Zentrum der Kurzvideo-App und Social-Media-Plattform TikTok

Zusammenfassung

Spätestens Donald Trumps Drohungen gegen TikTok im US-Wahlkampfgetöse des Corona-Sommers 2020 haben die chinesische Kurzvideo-App und Social-Media-Plattform über Teenagerkreise hinaus einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Der Artikel fragt nach den medienästhetischen Hintergründen für den immensen Erfolg der App, der insbesondere am gewählten Mikroformat von usergenerierten Kürzestvideos festzumachen ist. Vor dem Hintergrund jüngerer Forschung zu den „Umgangssprachen“ vergleichbarer Angebote wie Instagram oder YouTube geht es dabei in erster Linie darum, die spezifisch musikkulturellen Aspekte von TikTok herauszuarbeiten.

 

Die Macht der Mikroformate? – Einleitung

Ist die Kurzvideo-App und Social-Media-Plattform TikTok mittlerweile zu einem politischen Faktor von internationalem Gewicht geworden? Mikroformat – maximaler Impact? Geht man dieser Tage – im Corona-Sommer 2020 – die Schlagzeilen und Themen der Newsfeeds durch, dann könnte dieser Eindruck durchaus entstehen. ‚TikTok Teens trollen Trumps Wahlkampf‘ lautete sinngemäß eine der Schlagzeilen (Lorenz et al. 2020), ein USA-Bann der App ging als Drohszenario der Trump-Regierung öffentlichkeitswirksam über Wochen durch alle Medien, erwies sich letztlich als Rohrkrepierer (Anon 2020a; Cohen 2020). Indien ist dagegen einen Schritt weiter und hat im geopolitischen Konflikt mit dem mächtigen Nachbarn China gleich eine ganze Reihe dort ansässiger Apps gesperrt – allen voran das unter Spionageverdacht stehende TikTok, zum großen Kummer der angeblich um die 200 Millionen dortigen aktiven Nutzer*innen (Anon. 2020b, c). Auch in Deutschland gerät die Plattform ins Visier gesellschaftlicher und politischer Debatten. Vor allem der Einfluss sozialer Medien sei es gewesen, der zu den gewalttätigen Ausschreitungen der „Party- und Eventszene“ im sich vorsichtig aus dem Pandemie-Lockdown öffnenden Stuttgart geführt habe, diese Meinung äußerten Politiker*innen und Polizeivertreter*innen im Anschluss an das Geschehen im Frühsommer 2020 (Koch 2020). Ein Kommentator der FAZ ergänzte präzisierend, man solle dahin gehend insbesondere einmal einen Blick in die „Verlebendigungs-App-Tiktok [sic]“ werfen. Deren „disparates Videofeuerwerk“ erzeuge einen ungeheuren – und etwa im Vergleich mit Instagram, Snapchat und anderen Social-Media-Plattformen oder gar dem verstaubten Fernsehen – unmittelbar zur konkreten Aktion animierenden, kollektiven Sog: „In diese Bilder will man rein“, und sei es auf Kosten einer veritablen Straßenplünderung, so die bürgerlich-verschreckte Analyse einer offenbar zunehmend von der Macht flackernder Kürzestvideos sozialisierten Gesellschaft (Reichert 2020).

Probiert man es für eine Weile selbst als Nutzer*in von TikTok, so kommt einem die in den Beispielen beschworene Erzählung vom ungeheuren Einfluss der Plattform auf Einzelne  wie auf ganze Gesellschaften und politische Systeme zunächst einmal geradezu grotesk vor. Schon mit dem ersten Öffnen der App ergießt sich – einer weitgehend undurchschaubaren wie unbeeinflussbar wirkenden Vorschlagslogik folgend – ein nie versiegender Strom von User Generated Content (UGC) über Bildschirm und Audioausgang des Smartphones: meist 15-, aber auch bis zu 60-sekündige, vertikal aufgenommene Kurzfilme, Content, durch den man sich wie bei Tinder oder Instagram mit dem Daumen wischend navigiert, und der – zumindest wenn man nach irgendeiner herkömmlichen Form von Handlung oder Aussage sucht – jeder für sich in der allergrößten Mehrheit an Banalität, Infantilität und Harmlosigkeit kaum zu überbieten ist. „Hier kommen Menschen aus der ganzen Welt zusammen, um lustige Erfahrungen und Erlebnisse auszutauschen“, hieß es denn auch in einer früheren Version der deutschsprachigen Community-Richtlinien der Plattform (TikTok 2019a).[1]„Snackable Content“, leicht verdauliche Inhalte, wird so etwas im Jargon von Social Media Agenturen und Consultants bezeichnet (Sbai 2020, S. 17). Worauf also soll sich die vermeintliche Macht von TikTok gründen, was macht den globalen Einfluss dieses Angebots aus?

Folgt man den Argumentationslinien der Presseberichte zu den Eingangsbeispielen, so wären im Wesentlichen vier Faktoren zu nennen: Erstens, die schiere Größe und das weiterhin rasante Wachstum der TikTok-Community; weltweit ist die App (Stand Juli 2020) mittlerweile in etwa 140 Ländern zugänglich und wurde bereits knapp zwei Milliarden Mal heruntergeladen. Zudem verzeichnet sie, für Werbekunden besonders relevant, auch im Vergleich zu Instagram oder Snapchat durchschnittlich deutlich längere tägliche Bildschirmaktivitätszeiten der Nutzer*innen (übertroffen allenfalls von Game-Blockbustern wie Fortnite) mit allen sich daraus ergebenden ökonomischen wie politischen Einfluss-Möglichkeiten (Anon. 2020d, Iqbal 2020).

Zweitens, die Tatsache, dass ByteDance, die Mutterfirma von TikTok, trotz Verlagerung des Firmensitzes auf die Kaiman-Inseln 2019 letztlich in China beheimatet ist und damit, anders etwa als Facebook, Apple, Google und viele andere Global Player der westlichen Internetökonomie, dem direkten Zugriff eben jener westlichen Welt entzogen zu sein scheint. Vor allem dieser Umstand hat dazu geführt, dass TikTok mit zunehmender Brisanz (und etwa vergleichbar mit dem Huawei-Konzern) gleichzeitig Waffe und Spielball in Handels-, System- und handfesten geopolitischen Kriegen geworden ist (Höflinger 2020; Nicas et al. 2019). Stellenweise ist im Zusammenhang mit TikTok gar von einer neuen Ära des „Kalten Kriegs“ die Rede, wo einmal mehr wirtschaftliche und kulturelle Stellvertreterschauplätze ins Zentrum der Konflikte rücken (Holderried 2020).

Drittens, die Schlagkraft, digitale Mobilität und hochgetaktete Responsivität der zugehörigen Community – überwiegend Nutzer*innen aus nach 2000 geborenen Generationen, die von Kindesbeinen an nach den Spielregeln und Mechanismen von Social Media und intensiver Smartphone-Nutzung aufgewachsen sind. Nicht zuletzt mithilfe von TikTok bauen sie die Reichweite und Relevanz von Social Media noch weiter aus und verwenden sie auch dazu, ihren politischen Ansichten und Stimmungen kollektiv Gehör zu verschaffen (Herrman 2020; Literat & Kligler-Vilenchik 2019). Und schließlich, viertens, die Kontinente und verschiedenste Kulturräume umspannende, zunehmend auch andere Altersstufen erfassende Attraktivität von TikTok, die universalen Grundbedürfnissen des Kommunizierens, Spielens, Schauens und (Selbst)Darstellens auf für das 21. Jahrhundert angemessene Weise ein (digitales) „Zuhause“ zu geben scheint (Sbai 2020; TikTok 2020).

In jedem Fall wären noch andere Faktoren zu nennen, die im Zusammenhang mit TikTok immer wieder diskutiert werden, etwa Aspekte des Daten- wie Kinder- und Jugendschutzes oder auch urheberrechtlichen Fragen. Im Folgenden spielen diese nur am Rande eine Rolle, vielmehr sollen zumindest einige Teilbereiche des vierten angerissenen Themenkomplexes im Mittelpunkt stehen. Die Fragen dazu lauten: Gibt es eine spezifische TikTok-Ästhetik, und wenn ja, warum entwickelt sie momentan die beschriebene universale Attraktivität? Wie hängt diese Anziehungskraft mit dem dort angebotenen Mikroformat zusammen bzw. wie konstituiert sie sich womöglich daraus? Inwiefern kann man bei TikTok überhaupt von einem Mikroformat sprechen? Welche Vorbilder und Einflüsse greift die App auf, seien dies unmittelbare Vorgänger-Angebote oder weiter zurückliegende medienhistorische oder auch -nostalgische Elemente, und wie wirkt TikTok wiederum selbst inzwischen auf andere kulturelle Bereiche ein, etwa den der Musikproduktion? Schließlich stellt sich, zumal aus der Perspektive der Musikwissenschaft, die Frage, welche Rolle denn Musik nun eigentlich spielt innerhalb der kulturellen Praxis, als die man die Nutzung von TikTok sicher bezeichnen kann (in der anglo-amerikanischen Welt ist TikToking inzwischen ein fester Begriff innerhalb der Jugendsprache geworden[2]). Immer wieder wird die ganz besondere Bedeutung von Musik für TikTok betont, nicht umsonst hieß die Vorgänger-App bis 2018 musical.ly (Anon. 2020e). Doch worin genau besteht der Zusammenhang – vor allem auch über bloße Zuschreibungen hinaus, die schlichtweg von einer Lipsync- oder Dance-Contest-App sprechen (Flemming 2019)? Warum und in welchen Funktionen und Rollen ist Musik für diese Plattform und ihre Community wichtig und welchen Anteil hat sie an der so oft postulierten universalen Attraktivität von TikTok?

 

Forschungsstand und Methode

Methodisch sind die hier aufgeworfenen Fragen alles andere als trivial zu bearbeiten. Zwar wächst international die Forschung zu TikTok in einem ähnlichen Tempo wie die App selbst, doch beschränkt sich ein Großteil der Publikationen auf eine qualitative oder quantitative Auswertung des verfügbaren UGC oder auf in kleinerem Umfang durchgeführte Nutzer*innenbefragungen entsprechend der jeweiligen Zielsetzung. Hinter die Kulissen der App zu schauen, vor allem in technischer und auch ökonomischer Hinsicht, scheint aus wissenschaftlicher Perspektive momentan so gut wie unmöglich, von einer Nutzung der riesigen firmeneigenen Datenkorpora zu Forschungszwecken ganz zu schweigen.[3] Bisherige Ansätze, etwa mit reverse engineering mehr über technische Spezifikationen von TikTok oder gar dessen Code zu erfahren, beschränken sich weitgehend auf die brisanteste, und daher Aufmerksamkeit versprechende Frage: Welche Daten sammelt die App über ihre Nutzer*innen (opensecurity.in 2020; tobrown05 2020). Dass solche Äußerungen über TikTok als vermeintlicher Spionage-Software jüngst noch einmal verstärkt und zunehmend mit durchaus propagandistischen Absichten erhoben werden, verwundert angesichts der aufgezeigten politisch aufgeheizten Debatten rund um die App nicht (Anon. 2020f). Insgesamt ist davon auszugehen, dass zumindest teilweise auch wissenschaftliche Untersuchungen zu TikTok von den eingangs thematisierten politischen Interessen gefärbt sind. So zielen Studien aus China momentan meist aus Engineering-Perspektive auf technologische Verbesserungen oder eine generelle Steigerung der „Charm Factors“ der App (Feng et al. 2019; Yu 2019). In Indien, Thailand oder Singapur, wo bislang neben China mit Abstand die meisten wissenschaftlichen Publikationen zu TikTok entstanden sind, dominieren Arbeiten zu medienethischen Fragen (etwa nach der „addictiveness“ von TikTok) sowie aus pädagogischer und Marketing-Perspektive (Kalyani 2020; Kiran & Sharma 2020; Liqian 2018). In Deutschland liegt der Schwerpunkt bislang ebenfalls auf einer Thematisierung der App aus medien- und musikpädagogischer Sicht (Höfer 2019; Neuburger-Dumancic 2019) sowie auf Fragen der Lizenzierung der Musikausschnitte innerhalb des UGC hinsichtlich sich wandelnder Urheberrechtsgesetze (Gräfe & Kunze 2020). Arbeiten aus den USA hingegen liegen bislang im Verhältnis weniger vor, vermutlich weil TikTok dort erst spät an Popularität gewonnen hat. Auffällig am gegenwärtigen Forschungsstand ist zudem, dass grundlegendere medienästhetische oder auch popkulturelle Reflexionen nur sehr selten begegnen (Bresnick 2019; Zeh 2020) oder aber eher in journalistischen Darstellungen (Herrman 2019; Sbai 2020) bzw. studentisch-universitärem Umfeld zu finden sind (Wang 2019).

Und noch einer weiteren Herausforderung muss sich jede Form der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit TikTok und vergleichbaren Angeboten wie Snapchat oder Instagram stellen: Ein Grundmechanismus dieser Social-Media-Plattformen besteht darin, dass sie sich, den Marktlogiken ständiger Neuheitsversprechungen folgend, in verschiedener Hinsicht in einem Zustand ständiger und dynamischer Veränderung befinden. Zudem existieren, je nach kulturellem und rechtlichem Umfeld, diverse nationale Varianten. Generelle Aussagen über Apps wie TikTok sind daher schwierig und können im Grunde nur für einen jeweiligen zeitlichen oder auch regionalspezifischen Stand getroffen werden. Ein großes Problem stellt die Sicherung der für solche Beschreibungen nötigen Quellen für künftige, etwa medienhistorische Forschung dar. Mit einfachen Screenshots oder der lokalen Speicherung bestimmter Contents, Softwarepakete oder auch Funktionsweisen der App (etwa durch Bildschirm-Recording) ist es dabei nicht getan, ebenso wenig mit dem Aufbau eines Online-Repositoriums vergleichbar mit Angeboten wie KnowYourMeme.[4] Denn bei TikTok und anderen Social-Media-Plattformen, die man ja in gewisser Weise selbst als Archive bezeichnen könnte (Geismar 2017), müsste es immer um eine langfristige Dokumentation nicht nur der App selbst, sondern auch von deren Benutzung durch ihre Community gehen. Die Entwicklung von Strategien, technischen wie auch rechtlichen und ethischen Standards sowie einer zugehörigen Forschungsdateninfrastruktur für die dauerhafte Sicherung und Verfügbarhaltung solcher Daten, die auch den quellenkritischen Anforderungen einer wissenschaftlichen Nutzung genügt, steht nach wie vor erst ganz am Anfang (siehe etwa die Social-Media-Annotationsplattform VATAS, beschrieben in Patton et al. 2019 sowie, für die gegenwärtige Debatte um „historische Quellenkritik im digitalen Zeitalter“, Föhr 2018). Es bleibt zu hoffen, dass durch die 2020 in Deutschland anlaufenden NFDI-Programme hierzu in nächster Zeit zumindest für die dortige Wissenschaftslandschaft erste nachhaltige Schritte unternommen werden.[5]

Auch der vorliegende Beitrag kann sich den beschriebenen Dilemmata nicht entziehen, schon gar nicht auf Basis einer breiten Datenerhebung. Er versteht sich vielmehr im Gefolge jüngerer Arbeiten zu Memes (Shifman 2014), Social Media (Leaver et al. 2020) und Musikvideos (Vernallis 2013). Dort werden ebenfalls aus einer vorwiegend medienästhetischen Perspektive jeweils bestimmte Entwicklungen im Bereich neuer visueller und audio-visueller Technologien und Angebote im Bereich von Social Media sowie UGC-Plattformen und -Netzwerken vor allem phänomenologisch beschrieben. Als Ausgangsmaterial dienen in der vorliegenden Untersuchung Selbstaussagen aus dem Umfeld von TikTok, etwa Werbekampagnen, Interviews der Gründer sowie auch die Community-Richtlinien, Terms & Conditions, Mission Statemens etc. Auch hier steht darüber hinaus eine analytische Beschreibung der App und des UGC im Zentrum, teilweise auch vor dem Hintergrund der Verhaltensweisen der TikTok-Community. Besonders wichtig scheint mir eine Auswertung des Designs, des look & feel von App und Plattform. Dabei kann und soll es an keiner Stelle um Vollständigkeit gehen. Ähnlich wie es Vernallis (2013, S. 127) für YouTube beschrieben hat, so ist auch TikTok dafür bereits jetzt zu unübersichtlich und dynamisch.

 

TikTok als „Greatest Hits Compilation“? Grundlegende Beobachtungen

Der amerikanische Journalist John Herrman hat TikTok treffend als eine „greatest hits compilation“ beschrieben, „featuring only the most engaging elements and experiences of its predecessors“ (Herrman 2019). Ähnlich äußerte sich Alex Zhu, einer der beiden Gründer von TikTok, in einem Interview. Nach dem gescheiterten Start einer Plattform für Education-Videos habe sich, so der Gründungsmythos, die Idee zur Entwicklung der Vorgänger-App musical.ly aus der Beobachtung von Teenagern ergeben, die während einer Zugfahrt mehrere Apps gleichzeitig auf ihren Smartphones nutzten, um parallel Videos aufzunehmen und zu teilen und dabei Musik zu hören bzw. diese auch in die Videoerstellung einzubinden (Carson 2016). Diese Einordnung von TikTok als eine Art Meta-Angebot und Container-Plattform trifft letztlich auf Design und Nutzerführung von TikTok ebenso zu wie auf die erstellten Inhalte. Zentral für den Erfolg dürfte die radikale Ausrichtung der App auf die Verbindung von Musikkonsum, exzessiver und im Alltag omnipräsenter Smartphone-Nutzung und die Verabredung zur Kommunikation via vertikal gefilmter Bewegtbilder sein. Vorläufer hierzu hatte es bereits reichlich gegeben. Zu nennen wäre Instagram, das bereits 2013 ein Feature zur Erstellung 15-sekündiger Videos implementiert hatte (Leaver et al. 2020, S. 218), weiterhin Apps bzw. Plattformen wie Vine oder Dubsmash, die ausdrücklich auf die Erstellung von geloopten 6-Sekundenvideos im Stil von mit Sound unterlegten GIFs bzw. Memes ausgerichtet waren (ebd., S. 69). Schließlich ist noch YouTube zu nennen als universaler Verbreitungskanal für alle nur erdenklichen Formate von Bewegtbild, zwischen mit großem Aufwand produziertem professionellem Musikvideo und Unmengen an selbst generiertem Content mit teilweise hohem „cringe“-Faktor. Entsprechend hat gerade YouTube seit seinen Anfängen nicht nur den ,Berufsstand‘ des YouTubers, sondern auch eine ganze Reihe eigener Unter-Genres und ,Umgangssprachen‘ bei der Produktion von audio-visuellem UGC hervorgebracht, die wiederum Einfluss auf allgemeine Sehgewohnheiten und die Produktionsästhetik etwa von Kinofilmen ausgeübt haben (Vernallis 2013, S. 127–203).

Allerdings sind auch die Unterschiede dieser Vorgänger zu TikTok hervorzuheben. Den Hauptpunkt dürfte dabei einerseits das Format bilden: einzig von den User*innen selbst erstellte, vertikal gefilmte und meist musikunterlegte Kürzestfilme. Hierauf zielt auch einer der Hauptslogans für TikTok im englischsprachigen Raum seit 2018: „Make very second count“, der die Betonung auf das Format, zugleich aber auch auf den „authentischen“, aus der alltäglichen Lebensrealität der User*innen stammenden Inhalt legt. Im Gegensatz zu Instagram mit seinen oft stark polierten visuellen Selbstinszenierungen setzt TikTok auf „Realness“, also darauf, dass dort vermeintlich „normale“ und unverstellte Menschen zu sehen sind und auch der generierte Content ohne großen Aufwand entsteht (TikTok 2020a, siehe auch den derzeitigen Hauptslogan auf der Webstartseite von TikTok: „Make your day. Real People. Real Videos“). Dass gerade hinter der vermeintlichen Leichtigkeit und Authentizität vieler Beiträge der sogenannten „großen“ TikToker*innen mit hoher Reichweite mittlerweile Brand Manager, Social Media Agenturen und entsprechend aufwendige und etwa mit professionellen Videobearbeitungsprogrammen und in größeren Teams erstellte Produktionen stehen können, scheint eine übliche Entwicklung im Lebenszyklus solcher Social-Media-Plattformen zu sein (vgl. etwa zu den Produktionen von Falco Punch, dem derzeit erfolgreichsten deutschen TikToker, Anon. 2019, siehe hierzu auch Sbai 2020, 93).

Die ausschließliche Fokussierung auf kurze, vertikal gefilmte Smartphone-Filme ist nicht nur eine ästhetische Entscheidung. Das Format ermöglicht zudem, etwa im Vergleich zu YouTube-Filmen, eine Reduktion der Datenmengen und damit technisch eine sehr viel schnellere Bearbeitung und ein komfortableres Teilen der Contents ebenfalls ausschließlich durch Smartphones, was die App auch bei verhältnismäßig schlechter Netzabdeckung nutzbar macht (Wang 2019). Zudem gab, anders als bei Vine, vor allem zu Anfang die Ausrichtung auf Musik gleichsam als Unterlage und Auslöser aller Aktivitäten den Ausschlag für die Attraktivität, der Name musical.ly der Vorgänger-App machte dies auf eindeutige Weise klar. Erste größere Fundraising-Runden erlaubten in diesem Zusammenhang bereits im Sommer 2016 Lizenzverträge mit einigen der Major Labels, was, etwa im Unterschied zu Dubsmash, frühzeitig für eine legale Nutzbarkeit der allergrößten Mehrheit gegenwärtiger und auch historischer Popmusikproduktionen für die User*innen des musical.ly- und später des TikTok-Kosmos sorgte, ein Win-Win-Deal für Musikindustrie und App-Entwickler gleichermaßen (Roof 2016; Rys 2016). Dies führt dazu, dass sich heute Radio-Rotation, Charts und die überwiegende Mehrheit der in TikTok genutzten Musikausschnitte unmittelbar aus dem gleichen Pool an Songs speisen (später mehr zu diesen Crossover-Effekten).

Mindestens genauso wichtig ist in diesem Zusammenhang das, was einige der frühen Investoren von TikTok beschrieben als „ability to turn a tool into a social network“ (Roof 2016). So wie Instagram zwar um das Thema Fotografie und vor allem Fotobearbeitung kreist und die entsprechenden Werkzeuge bereitstellt, insgesamt aber vor allem als Kommunikationsmittel zu verstehen ist (Leaver et al. 2020, S. 1), so liefert TikTok zwar als Werkzeug ein großes Repertoire an Möglichkeiten der Film- und Audiobearbeitung, doch auch hier stehen letztlich soziale Praktiken im Vordergrund. Als Vorbilder dienen dabei kulturell seit Langem eingespielte Formate, worauf einer der Warner Brothers-Repräsentanten im Umfeld des 2016 geschlossenen Deals mit TikTok ausdrücklich hinwies: „Musical.ly has taken the art of lip syncing, air guitaring and dancing with friends to a new level“ (Rys 2016). Es ist sicher kein Zufall, dass alle genannten, in erster Linie ja musikalischen Praktiken – zu denen unbedingt auch noch Karaoke oder TV-Castingshows hinzuzufügen wären – bereits seit einigen Jahren als Computer- bzw. Konsolenspiele etabliert und daher millionenfach auch schon in ,virtueller‘ Form bekannt sind (Miller 2012, 2017). In TikTok werden sie nun noch einmal zusammengefasst und für die Nutzung in einer Social Media- und Smartphone-Umgebung gebündelt, woraus sich letztlich die eigene und in dieser Form neue Umgangssprache der App und Community ergibt.

Der ,greatest hits‘-Moment von TikTok muss daher also über Fragen des App-Designs, der technischen Umsetzung, und Anlehnungen an andere Social-Media-Plattformen hinaus auf weitere kulturelle Bereiche bezogen werden. Hierzu zählt insbesondere auch ein reichhaltiger Fundus an medienhistorischen und teilweise auch -nostalgischen Versatzstücken und Kunstgriffen. Ähnlich wie bei Instagram und anderen Fotobearbeitungs-Apps bietet auch TikTok zahlreiche ,Retro‘-Filter, die den aufgenommenen Filmen etwa die Anmutung von veralteten Computergrafiken, verwackelten VHS- oder grobkörnigen Super-8-Aufnahmen verleihen (vgl. Abb. 1a-e, zu Vintage- und Retro-Aspekten bei Instagram Leaver et al. 2020, S. 52–58).

 

 

Abb. 1a-e: Retro-Filter für die Videobearbeitung (Bildinhalte und Screenshot vom Verfasser)

 

Ein Schwerpunkt liegt dabei auf visuellen glitches, Gleiches gilt für noch ältere, auf die Sphäre von Rummelplatz und Budenzauber zurückweisende Wahrnehmungsattraktionen wie Zerrspiegel, Spiral- und Daumenkinoeffekte und Ähnliches mehr. Hinzu kommen grundlegende Verfahrensweisen der Bild- und Filmbearbeitung wie split screens, Zeitlupen- und Zeitraffer aufnahmen, Farbinversionen usw. Tatsächlich elaboriert werden solche mediengeschichtlichen Rückbezüge nicht – etwa durch eigene Einstellungsmöglichkeiten. Vielmehr dienen sie als schnell einsetzbare stereotypische Angebote innerhalb der Bearbeitungspalette der App, mit denen auch ohne jegliches Wissen um die historischen Kontexte oder womöglich auch die semantischen Bezüge dieser Features gespielt werden kann.

Auf akustischer Ebene spielen mediennostalgische Elemente bei TikTok eine wesentlich geringere Rolle. Durchaus denkbare Filter –  etwa  für  klischeehaften  Schellackplatten- oder Röhrenradiosound bzw. Effekte wie Bandsalat, Scratchen, CD-Glitches oder auch für EDM-Tracks typische ,Filterfahrten‘ – finden sich nicht, zumindest bislang. Dafür werden ,Klassiker‘ der Klangbearbeitung angeboten, mit denen sich, vergleichbar mit den bekannten visuellen ,Alterungsfiltern‘ oder solchen, die Gender-Bending und andere spielerische Identitätswechsel ermöglichen, vor allem eigene Sprachaufnahmen durch altbekannte Stimmeffekte – Mickey Mouse, Darth Vader, Roboterstimme – verändern lassen. Insgesamt aber scheint es, dass die Integrität der gewählten Musikunterlegung weitgehend unangetastet bleiben soll, vermutlich auch um die erwünschten Transfereffekte mit der Musikindustrie zu gewährleisten.

Zusammenfassend kann insgesamt – in Anlehnung an Carol Vernallis – auch bei TikTok von einer „mixing-board aesthetic“ gesprochen werden, die für heutige digitale und vernetzte Plattformen mit medialem UGC als zentralem Kommunikationsmittel typisch ist (Vernallis, 2013, S. 5f.). Diese beinhaltet das Angebot von zahlreichen Versatzstücken aus älteren vor allem medientechnischen Bearbeitungstools und den zugehörigen ästhetischen Strategien  für eine spielerische Nutzung der App gleichsam im Vorbeigehen. So steht bei TikTok für Layering und Nachbearbeitung, audio-visuelle Remix- und Mashup-Verfahren ein umfangreiches und ständig erweiterbares Repertoire von intuitiv handhabbaren medienhistorischen Schablonen, aber auch von immer wieder gänzlich neu entwickelten Filtern etc. zur Verfügung. Zugleich werden einem durch den in Dauerschleife vorgeführten Content der anderen User*innen permanent Modelle und Vorlagen für den möglichen Umgang damit vorgeführt. Der Clou von TikTok liegt dabei darin, aus einem solchen Mixingboard-Ansatz durch die Kombination aus Musikunterlegung und Videobearbeitungsfunktionen ein unverwechselbares Angebot zu schnüren. Diese Strategie wird vom heutigen Logo der App, eine durch einen stilisierten VHS-Camcorder-Glitch visuell animierte Note, kongenial wie simpel illustriert.

 

Mikroformat, Social-Media-Umgangssprache oder Massenmedium: Was ist TikTok?

Unbestritten steht bei TikTok ein Mikroformat im Zentrum. Fragt man nach den Gründen  für die Limitierung der geposteten Videos auf 15 bzw. 60 Sekunden, so sind hierfür vonseiten des Unternehmens keine offiziellen Stellungnahmen zu finden. Spekulationen reichen daher von dahinterliegenden Lizenzbedingungen bei der Verwendung der Musikausschnitte (Jamie 2020; Sbai 2020, S. 167) über die explizite Anlehnung an Vorgängerangebote (allen voran Instagram Video mit Clips der gleichen Länge) bis hin zur generalisierten Feststellung, TikTok würde sich damit explizit an den Unterhaltungsbedürfnissen eines weitgehend fragmentierten Lebensstils unserer heutigen Zeit orientieren: Ein paar TikTok-Videos durchscrollen, das schafft man in der U-Bahn, beim Essen oder sogar auf dem Klo (Yu 2019, S. 31f.). Mir scheint vor allem wichtig, dass die Macher*innen von TikTok durch die Beschränkung auf das Mikroformat ganz gezielt einen auf Geschwindigkeit getakteten Rezeptionsrhythmus vorgeben wollten, um eine eigene, bei allen Verschiedenheiten der geteilten Inhalte gewissermaßen universale und wiedererkennbare audio-visuelle Umgangssprache der Plattform  zu etablieren. Auf die Bedeutung solcher verbindenden Umgangssprachen für Social-Media-Plattformen wurde bereits mehrfach hingewiesen (Leaver et al. 2020, S. 62–65). Diese wird nie von der App und ihren Entwickler*innen einfach vorgegeben, vielmehr entsteht sie im steten Wechselspiel zwischen den technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie den Reaktionen und Inhalten der User*innen darauf. Bei SnapChat etwa führte die Setzung, dass jedes Bild nur für 10 Sekunden betrachtet werden kann, zu stark verdichteten Formen visueller Kommunikation durch Selfies, zu „meaningful ‘language games’ using images as both grammar and vocabulary” (Katz & Thomas Crocker 2015, S. 1862). Auch TikTok und seine Community haben inzwischen eine solche Umgangssprache entwickelt. Basale Elemente hiervon sind die Festlegung auf audio-visuelle Inhalte, die Verwendung von Musik, das vertikale Bildformat, wie bei Instagram oder SnapChat ebenfalls sehr oft Selfie-Aufnahmen, oder zumindest solche Videos, die die körperliche Präsenz der Filmschaffenden erkennen lassen, die Filter- und Bearbeitungspaletten von TikTok, die sehr kurze Dauer der Filme mit entsprechend darauf ausgerichteter Dramaturgie der Inhalte sowie schließlich die eigene Haltung zu den erstellten Contents.

Gerade hinsichtlich der beiden letztgenannten Aspekte gibt es bereits Vorschläge für eine Klassifizierung, etwa dahin gehend, dass der Aufbau der überwiegenden Mehrheit der Filme im Stil von kurzen Comedy-Beiträgen und vor allem auch in Anlehnung an viele Memes einem zweiteiligen Schema folgt: Eine Exposition, in der eine womöglich ernsthaft erscheinende Situation, ein Charakter, eine Stimmung vorgestellt wird, wird durch eine punchline, einen Effekt, einen besonderen Filter überraschend und oft humorvoll gebrochen (Bresnick 2019, zu ähnlichen Strukturen bei Memes Shifman 2014, S. 67). Hinzu kommen einige spezielle, noch verstärkt auf Austausch und Kommunikation zielende Elemente wie Challenges und Duette, also die Möglichkeit, direkte Antwortvideos zu bestimmten Themen zu generieren, oder die eigene Aufnahme mit anderen „im Duett“ zu synchronisieren (vgl. Abb. 2a/b).

 

Abb. 2a/b: Audiovisuelle Duette als TikTok-Format Format (Duette von @leon.content und addisonre, Screenshots vom Verfasser)

 

Zudem erlaubt TikTok – natürlich nur innerhalb der Plattform – den Remix der Inhalte anderer User*innen, also etwa die Übernahme der Soundfiles von anderen Videos usw. Besonders solche Angebote zeigen die bewusste Nähe von TikTok zu musikalischen Praktiken, die, noch stärker als etwa bei Instagram, den Community-Charakter der Plattform betonen, der das Erstellen, Teilen und Koppeln von Beiträgen in allererster Linie zu Kommunikationsakten werden lässt (vgl. Leaver et al. 2020, S. 1).

Innerhalb dieser zunächst einmal sehr grundlegenden durch die Umgangssprache vorgegebenen Rahmenbedingungen lassen sich im UGC von TikTok inzwischen nahezu uferlos Inhalte und Unterdialekte jeglicher Art finden, wobei die Hauptströmungen immer noch im Bereich von Lipsync-, Tanz-, Gesangsvideos und vielfachen Formen von Pranks (Streichen), Mockery, Slapstick, Fail Videos und Parodien sowie Beiträge aus nicht selten riskanten und sich im öffentlichen Raum abspielenden Sportarten zu liegen scheinen. Sich innerhalb dieser Möglichkeiten einen eigenen Stil, einen unverwechselbaren und wiedererkennbaren TikTok-Charakter und damit womöglich eine große Schar an Follower*innen aufzubauen, gehört dabei, neben den spielerischen Aspekten der Plattform, zu den Hauptanreizpunkten, sich dauerhaft mit der App zu beschäftigen (vgl. insgesamt hierzu Sbai 2020, S. 76–93).

Die Frage nach Art, Organisation und Präsentation der Inhalte verweist auf ein anderes zentrales Feature, den Vorschlagsalgorithmus von TikTok. Dabei zeigt sich ein substanzieller Unterschied zu den genannten Vorgängerangeboten, denn der Inhalt, der einem direkt beim Öffnen der App entgegenströmt, der sogenannte „Für Dich“-Bereich („For You Feed“), ist eben nicht wie etwa bei Instagram an Inhalte oder Empfehlungen von Freund*innen und Follower*innen gebunden, auch nicht an das, was man in irgendeine Suchfunktion selbst eingibt oder eingegeben hat. Vielmehr erscheint dort vom allerersten Moment an eine sehr bunte Mischung aus einer unbegrenzten, sich selbst in Gang setzenden Hits-der-Woche-Playlist, der Startoberfläche einer Dating-App wie Tinder (auch hier werden nicht gefallende Inhalte im Sekundentakt weggewischt) und dem Moment, in dem sich der Vorschlagsalgorithmus von YouTube scheinbar zufällig und selbstständig von einem Ausgangsvideo zu weit weg liegenden Inhalten weiterbewegt hat.

Und noch eine weitere Anspielung liegt zur Beschreibung dieses Phänomens nahe, zumal   es ja um das in rasend schnellem Tempo erfolgende Navigieren durch audio-visuelle Inhalte geht: die des Zappens durch endlose Kanäle eines weitgehend aus Musikfernsehen bestehenden TV-Senderangebots. Schon das Zappen wurde mit Erfindung der Fernbedienung seinerzeit als frühe Form der Selbstermächtigung der Zuschauer*innen innerhalb ebenso linearer wie streng hierarchisch organisierter Programmfolgen beschrieben (wahlweise kulturpessimistisch auch als Symptom sinkender Aufmerksamkeitsspannen, vgl. Heinrich 1999, S. 499f.; Schlicker 2016, S. 14f.). Für TikTok-User*innen wird dieser Ermächtigungsaspekt scheinbar zum Programm, zumal ja auch der Inhalt ausschließlich aus der Community selbst kommt (und sich daher etwa ein von Jennifer Lopez produziertes TikTok-Video auf den ersten Blick kaum von denen der anderen TikToker unterscheidet). Dieses Programm allerdings bleibt stets individuell, nicht wiederherstellbar und ist im Vorhinein unbekannt, im Gegenteil: „Part of the magic of TikTok is that there’s no one For You feed – while different people may come upon some of the same standout videos, each person’s feed is unique and tailored to that specific individual.“ (TikTok 2020c).

Über die hinter der Vorschlagslogik, der „magic“ von TikTok wirkenden Mechanismen wurde bereits umfangreich und teilweise sehr kontrovers spekuliert, u. a. weil angeblich Beiträge „unattraktiver“ User*innen oder auch bestimmter ethnischer Gruppen bewusst in ihrer Reichweite gedrosselt oder sogar blockiert wurden. Das Gleiche gilt für bestimmte politische Inhalte, etwa im Umfeld der Hongkong-Proteste von 2019/20 (Reuter & Köver 2019; Sbai 2020, 104–113). In einem vom Guardian und netzpolitik.org veröffentlichten geleakten Dokument ließen sich einige der TikTok-Moderationskriterien nachlesen. Daraus wurden nicht nur einige durchaus fragwürdige ethische und politische Maßstäbe ersichtlich, sondern vor allem auch, mit welchem Aufwand die bei TikTok hochgeladenen Inhalte von Moderationsteams händisch getaggt, also inhaltlich ausgezeichnet werden, um sie für die Weiterverarbeitung (data mining, Vorschlagsalgorithmen, Gesichtserkennung etc.) operationalisierbar zu machen (Netzpolitik.org 2019). Gerade vor dem Hintergrund der genannten Kontroversen entschieden sich die Anbieter von TikTok zu diversen Transparenzkampagnen zur inhaltlichen Moderation (TikTok 2019b) sowie jüngst auch zu den Logiken des For You Feeds (TikTok 2020c). Sie erklärten, dass frühere Likes und Shares bei dessen Zusammenstellung ebenso berücksichtigt werden wie die Inhalte der eigenen hochgeladenen Videos und dabei vergebene hashtags. Schließlich seien aber auch die User*innen selbst in der Lage, ihren For You Feed ihren Interessen gemäß zu personalisieren und zu trainieren. Generell käme es TikTok neben Aspekten der Sicherheit (etwa dem effektiven Herausfiltern von zwar nicht generell verbotenen aber womöglich schockierenden Videos) darauf an, ein „diversifying“ der Inhalte zu gewährleisten und „repetitive patterns“, also bestimmte Sehgewohnheiten der User*innen, überraschend zu durchbrechen (TikTok 2020c).

Kommt man noch einmal zur Eingangsfrage dieses Abschnitts zurück, so lässt sich argumentieren, dass hinter dem bescheidenen Mikroformat von TikTok, den harmlos und spielerisch anmutenden 15-Sekunden-Filmen, ein maximal hierarchisches und hochprofessionelles Unternehmen steht. Insofern kann und sollte TikTok in erster Linie als web- und communitybasierte Form eines interaktiven Massen- und Unterhaltungsmediums verstanden werden, bei dem ein Mikroformat letztlich nur als Vehikel für die Kommunikation der User*innen dient. Deren Community bildet, so das Geschäftsmodell, einerseits eine lukrative Plattform für verschiedenste Formen von Werbung und Marketing. Zugleich ermöglicht die App große Datensammlungen über die TikTok nutzenden Menschen anzulegen und finanziell nutzbar zu machen. Bei diesem Modell finden sich, anders als man vielleicht vermuten könnte, meiner Ansicht nach insgesamt nur sehr wenige Anknüpfungspunkte zwischen TikTok und früheren Formaten des Musikfernsehens, allenfalls im Bereitstellen eines sinnlichen Überangebots, eines auf Dauer gestellten Flimmerns und optischen wie klanglichen Pulsierens, in das man sich jederzeit ein- und wieder ausklinken kann. Hier liegt zumindest eine grundsätzliche strukturelle Parallele zu den Angeboten von MTV und später Viva, oder zumindest zu dem Eindruck, den diese ab Anfang der 1980er-Jahre als radikal neuartig empfundenen Angebote seinerzeit gemacht haben (vgl. Zeh 2020).

Ein solcher „alles so schön bunt hier“-Moment lässt musical.ly und TikTok in geradezu klassischer Weise als popkulturelles Phänomen erkennbar werden, mit den dazugehörigen „moral panic“-Reaktionen älterer Generationen, wie etwa der des FAZ-Kommentators am Anfang dieses Beitrags. Entsprechend liegt der Verdacht nahe, dass TikTok womöglich eine Rolle zukommt, die in westlichen Gesellschaften bis vor Kurzem zu größten Teilen von Popmusik übernommen wurde. Es bietet eine Plattform für Praktiken des Coming of Age, für das Austesten von Identitäten, zu einem gewissen Grad für die Auflehnung gegen bzw. zumindest die Abgrenzung von der Elterngeneration, für das Suchen nach Anerkennung und die Aneignung von kulturellen Räumen, für das gegenseitige Zurschaustellen von oft riskanten Körperpraktiken. Bei TikTok werden diese Funktionen professionalisiert, institutionalisiert und globalisiert, sodass die Bedürfnisse, Emotionen, Wünsche von Teenagern selbst im Vergleich zu kommerzieller Popmusik noch einmal weit radikaler ausgewertet und einer ökonomischen Verwertung (oder auch staatlicher Überwachung) zugeführt werden können als bisher. Dabei dient Musik weiterhin gewissermaßen als Katalysator einer Vielzahl der Aktivitäten. Allerdings wird sie nicht mehr in erster Linie als Distinktionsmittel bestimmter Gruppen oder etwa auch als Sprachrohr gegen oder Zufluchtsort vor bestimmten sozialen oder politischen Verhältnissen eingesetzt. Insgesamt geht es bei TikTok in der überwältigenden Mehrheit um das Ausstellen eines weitgehend affirmativen Verhältnisses zur eigenen Lebenswelt (zu der auch die Plattform selbst gehört), um Reichweiten und Geschwindigkeit von Kommunikation, um Unterhaltung und Spiel sowie darum, einer Mehrheit zu gefallen. Schließlich ist es der Traum vieler User*innen, an den entstehenden Aufmerksamkeits-und Verwertungsmärkten selbst auch finanziell partizipieren zu können. Die im Umfeld von Social Media- und Influencer Marketing entstandene TikTok-Bibel bringt diese weitverbreitete Haltung in folgenden Sätzen auf den Punkt: „Als Content Creator und auch (Personal) Brand sollte man immer auf der Suche nach unterbewerteten Märkten sein. Social Media ist ein wenig vergleichbar mit Börsenhandel: Angebot und Nachfrage bestimmen den Kurs.“ (Sbai 2020, S. 30).

 

Musikwissenschaftliche Perspektiven auf TikTok

Für musikwissenschaftliche Fragestellungen bildet TikTok zweifellos einen besonders interessanten Untersuchungsgegenstand. Wie bereits erwähnt, sind App und Plattform in vielfacher Weise mit musikalischen Praktiken gleichsam unterfüttert, zudem bestehen inzwischen die geschilderten Cross-media-Geschäftsbeziehungen zwischen der Mutterfirma ByteDance und den Major Labels der Musikindustrie. Mir scheinen bei TikTok u. a. folgende Aspekte aus einer spezifisch musikwissenschaftlichen Perspektive untersuchenswert: Erstens, die Art und Weise der ökonomischen und rechtlichen Verflochtenheit von TikTok und der Musikindustrie, zweitens, die Ästhetik und Machart heutiger Popsongs und Electronic Dance Music Tracks in Relation zur möglichen Nutzbarkeit im Kontext von TikTok; bzw. andersherum gefragt, welche Auswirkungen haben App und Plattform auf aktuelle Mainstream-Pop-Produktionen? Drittens, die damit eng verbundene Frage, ob die erwähnte ,Umgangssprache‘ von TikTok dezidiert musikalische Elemente beinhaltet. Und schließlich, viertens, inwiefern die genannten musikalischen Praktiken, Karaoke, Remix, LipSync etc. auch in das Design und Handling der App eingeflossen sind und ob hier etwa von einer gleichsam musikalisierten Nutzer*innenführung und Usability gesprochen werden kann.

Zu den ersten drei Fragen liegen bereits diverse Beiträge und Interviews vor, etwa mit Künstler*innen, die gegenwärtig darauf abzielen, in ihren Songs und Tracks ausdrücklich ,Tik- Tok-Momente‘ zu platzieren, um durch eine virale Nutzung ihrer Produktionen dort auch außerhalb der Plattform kommerzielle Erfolge erzielen zu können (Bereznak 2019). Im Interview fasste ein TikTok-User die Kriterien für die TikTok-Eignung von Songausschnitten folgendermaßen zusammen: „[M]inimal lyrics, a bass drop, a double meaning you can make into a joke […], and, most important, it should ‚be epic‘” (ebd.). Während die letztgenannte Kategorie naturgemäß schwer greifbar bleiben muss, lassen sich die drei erstgenannten Bestandteile leichter fassen. So ist offenbar von großer Bedeutung, dass der Song Meme-fähige Textzeilen enthält, d. h. eine gleichermaßen simple und schnell erfassbare wie möglichst vielfältig, überraschend und ironisierend bebilderbare Botschaft enthält. Ähnlich wie bei Snapchat besteht eine der zentralen gestalterischen Strategien von TikTok darin, an Emojis angelehnte und durch Gestik und Mimik, mitunter auch comicartige Spracheinblendungen, vermittelte visuelle Botschaften so zu choreografieren, dass sie die Aussage des Songtexts verdoppeln, kommentieren, unterlaufen oder auch konterkarieren (Rettberg 2017). Dabei spielen die Geschwindigkeit, pointierte Synchronisierung und multimediale Überlagerung dieser Choreografien oft eine wichtigere Rolle als etwa die Komplexität der Aussage selbst. Musik kommt in dieser Hinsicht einerseits eine ordnende und gliedernde Funktion zu, allen voran durch den unterlegten Beat des Musikausschnitts. Sie kann aber auch dramaturgische Funktionen übernehmen, etwa durch die im Zitat erwähnten Stilmittel wie bass drop oder auch beat drop (Solberg 2014). Solche Elemente stammen ursprünglich aus Genres der Electronic Dance Music, in den meisten Tracks als dramaturgischer Höhepunkt, bei dem innerhalb eines längeren dynamischen Aufbaus (build ups) Bass und/oder Bass Drum bzw. restlicher Beat kurz aus dem Gesamtmix herausgenommen werden, um dann, oft noch künstlich hinausgezögert, um so heftiger wieder einzusetzen. Der Track Astronomia von Tony Igy im Remix von Zac Waters kann hierfür als Paradebeispiel angeführt werden, basiert doch seine ganze Attraktivität darauf, einen solchen Drop-Moment fast schon in der Art eines Popsong-Refrains wieder und wieder herauszustellen. Er dient auf TikTok als Unterlegung unzähliger und auch sehr verschiedener Kurzfilme, wobei insbesondere fail clips auf das 2019/20 viral gegangene Coffin-Dance-Meme Bezug nehmen. Die Popularität solcher Tracks ist dabei so groß, dass TikTok-User*innen auch selbst gesungene Varianten verwenden, die, gerade weil sie schlecht gesungen sind, unmittelbar erkennbar werden und deshalb Kultstatus erreichen (etwa die Versionen des sehr erfolgreichen TikTokers junya1go). Inzwischen werden bass und beat drops auch tausendfach in Popsongs verwendet, gerade im Übergang zum Refrain, der Hook-Line. Dies hängt vermutlich auch mit den Anforderungen des Hörens über Streaming-Plattformen zusammen, wo Refrains zur Generierung von – lizenzrechtlich und mit Blick auf Tantiemen- ausschüttung überaus relevanten – längeren Abspielzeiten oft schon zu Beginn der Songs auftauchen und daher im weiteren Songverlauf durch dramaturgische Soundeffekte dynamisiert werden müssen (vgl. den Beitrag von Keden und Neuhaus in diesem Band).

Für die Kurzvideos von TikTok liefern diese Elemente einen idealen kurzzeitigen musikalischen Spannungsaufbau und Kippmoment – eine Mikroform in der Form –, die sich für eine effektvolle Visualisierung, etwa einen überraschenden Kostüm- bzw. Filterwechsel oder andere visuelle Punchlines hervorragend eignet (Sbai 2020, S. 99; Zeh 2000). Entsprechend finden sich zahllose Beispiele für eine derartige Verwendung dieser Songstellen, oft auch im Rahmen größer angelegter Challenges, bei denen TikTok genau solche Abschnitte bereits als Vorauswahl bereitstellt. Sehr bekannte Fälle, bei denen musikalische Phrasen bestimmter Songs zu viralen TikTok-Memes wurden, sind etwa OK Boomer oder vor allem auch Lil Nas X und Bill Ray Cyrus‘ Old Town Road, ein Song, der 2019 über Wochen die Billboard Charts in den USA anführte, ursprünglich aber bei TikTok berühmt geworden war. Beide Beispiele zeigen zugleich auch, dass hinter dem Erfolg solcher auf den ersten Blick womöglich infantil oder auch simpel erscheinenden kollektiv erstellten Meme-Schwärme die Aushandlung komplexer gesellschaftlicher Themenfelder stehen kann, ja vielleicht sogar gerade die Attraktivität bestimmter Songausschnitte erst ausmacht. Bei Old Town Road etwa ging es bei den vielfältigen visuellen Cosplays (also Verkleidungsspielen im weitesten Sinn) und anderen Inszenierungsformen rund um das Thema Cowboy gerade in der US-amerikanischen TikTok-Community immer auch um die damit zusammenhängenden Gender- und Race-Stereotype (Stauffacher & Plaga 2019). Bei Ok Boomer standen Generationenkonflikte zwischen Eltern (aus der Generation der Babyboomer) und Teens (aus der Generation der Millennials und später) im Zentrum. Für TikTok-Videos bietet ein solcher Generationenkonflikt einen besonderen Charme, da ja nicht zuletzt die exzessive Smartphonenutzung und die von Eltern vielfach als gefährlich, kulturell minderwertig und abhängig machend eingestuften Social-Media-Plattformen selbst sehr oft im Zentrum dieser Konflikte stehen (Zeh 2020).

Schließlich sei noch ein weiterer Aspekt der ,Musikalität‘ von TikTok angesprochen, der zugleich zum letzten Abschnitt des Beitrags überleitet, der sich mit Aspekten von ,mixed reality‘ als elementarer Bestandteil dieser App und Plattform beschäftigt. Als Hauptpunkt für die Attraktivität von TikTok wird oft die einfache und intuitive Benutzbarkeit der App angeführt, die etwa Elemente von Bild- und Videobearbeitung als spielerisch leicht zu bedienende Funktionen bereithält (Wang 2019). Hierzu gehört, dass man zahlreiche Bearbeitungsfunktionen ,live‘, also am laufenden Video mit Musikunterlegung ausführt, wodurch das Zu- und Wegschalten von Filtern, die Implementierung von Übergängen und andere Elemente auf spielerische Weise direkt mit dem Musikausschnitt synchronisiert werden kann. Schon der Bearbeitungsvorgang der Videos folgt somit selbst Rhythmisierungs- und Musikalisierungsprozessen, was sich auch auf die fertiggestellten Videos auswirkt. Dies gilt für die groben Strukturen, etwa den erwähnten Bass-Drop-Moment, in vielen Fällen aber auch für zahlreiche kleinere Übergänge, Schnitte etc., die mitunter auch die Funktion erfüllen, bestimmte textliche oder musikalische Elemente des Songausschnitts (breaks, fill ins etc.) in der Art eines umgekehrten Mickey-Mousing zu visualisieren.[6]Hierin dürfte auch ein Grund für die Wahl von 15 Sekunden als Standarddauer von TikTok-Clips zu sehen sein (wobei auch kürze Videos technisch möglich sind, sehr viel kürzere Videos aber nur selten vorkommen). Innerhalb von 12 bis 15 Sekunden lässt sich bei einem angenommenen Standardmetrum (Viervierteltakt, selten Dreiviertalkt) und den üblichen Tempi von Popmusik genau eine musikalische Sinneinheit unterbringen, etwa vier Takte, eine Refrainzeile oder ein Kurz-build-up mit bass drop. Insofern scheint mir ein wichtiger Aspekt zu sein, dass TikTok seinen User*innen als Bestandteil seiner Umgangssprache ein intuitives Verständnis solcher Sinneinheiten beibringt (so wie etwa ein 12- oder 16-taktiges Blues-Schema nach hundertfacher Ausführung nicht mehr absichtsvoll mitgezählt wird, sondern intuitiv ,gefühlt‘ wird). Auf diese Weise entwickelt sich eine spezifische TikTok-Perspektive auf das Verhältnis von Musik und Bewegt-Bild, aber auch auf die sinnliche Weltwahrnehmung insgesamt, die gleichsam automatisiert in die Mikroformate von TikTok eingepasst wird.

 

TikTok als „mixed reality“

Kurz vor Weihnachten 2018 schaltete TikTok in Großbritannien eine größer angelegte Werbekampagne, eine Challenge mit der Kernbotschaft, das gerade für Teenager als entsetzlich langweilig zu befürchtende Familienfest mithilfe von kurzen TikTok-Beiträgen im wahrsten Wortsinne aufzumischen. „Remix it“ lautete der passende Slogan, der vor allem darauf abzielte, die User*innen ihren Alltag in die TikTok-Bildsprache unmittelbar mit einbeziehen zu lassen (Watson 2018). In diesem Slogan verdichtet sich ein Aspekt, den Kiri Miller mit Blick auf die hybriden Performances von Dance Games für Spielekonsolen als „mixed realities“ bezeichnet hat und der meiner Ansicht nach auch für den Erfolg, aber auch für die weiteren Auswirkungen von Angeboten wie TikTok elementare Bedeutung hat. Gemeint sind damit hybride, also physische Präsenz und Sinnes- und Körperwahrnehmung der User*innen und  eine  technisierte  und  digitale  Geräteumgebung  zusammenbringende (Spiele)Welten, die im Idealfall immersiv ineinander geblendet werden (Miller 2017, 18). TikTok lässt sich somit als eine hochgradig im Sinne von „mixed reality“ aufgebaute Kommunikations- und Spielumgebung beschreiben. Weniger wichtig sind dabei bekannte Augmented-Reality-Filter, die etwa, wie bei Pokémon Go, Avatare von Spielfiguren in die durch das Kameraauge des Smartphones aufgezeichnete Umwelt implementierten (vgl. Abb. 5a). Grundlegendere Wahrnehmungserfahrungen von „mixed reality“ scheinen  mir bei TikTok viel zentraler. Dies gilt bereits für das Navigieren durch die Inhalte, das Grabbing, das im Unterschied zum Schauen und Zappen beim herkömmlichen Fernsehen – und auch noch im Vergleich zum YouTube-Schauen auf  dem  Notebook  –  noch  stärker als mit dem Körper verschmolzene, taktil gesteuerte Art der Wahrnehmung durchgeführt wird (Senft 2013). Die physische Interaktion bei der Produktion von Inhalten erfolgt auf ganz ähnliche Weise (interessanterweise wird die Vibrationsfunktion in die Nutzung von TikTok bislang nicht integriert). Die Zentriertheit von TikTok auf das Smartphone als universales Aufnahme-, Bearbeitungs-, Abspiel- und Kommunikationsdevice führt einerseits dazu, dass das Gerät, ähnlich wie bei Selfies, oft selbst Teil der visuellen Inszenierungsstrategien wird, etwa mit rasanten Bewegungsfahrten scheinbar durch das Smartphone hindurch, bei der virtuellen Weitergabe des Geräts von einer User*in zur nächsten User*in oder durch eine zur Schau gestellte achtlose Benutzung bzw. gar mutwillige Beschädigung oder Zerstörung des Geräts, als Attitüde für einen riskanten oder coolen Lebensstil (vgl. Abb.3 b-d).

 

Abb. 3a-d: Beispiele für die visuelle Inszenierung des Smartphones als Produktions- und Rezeptionsdevice von TikTok (Bildcontent vom Verfasser (Abb. 3a) bzw. vom Useraccount @falcopunch (Abb. 3b-d), Screenshots vom Verfasser)

 

In kaum einer anderen Social-Media-Umgangssprache dürfte daher das Verschmelzen der Körper- und Sinneswahrnehmungen von User*innen mit dem jeweiligen technischen Gerät Smartphone auf so nachdrückliche Weise inszeniert und gleichsam zu einem alltäglichen Weltverhältnis erhoben worden sein, wie bei TikTok. Schon nach kurzzeitiger Anwesenheit und Aktivität bei TikTok stellt sich daher der Effekt ein, sich selbst und die Welt gewissermaßen durch die Perspektive der App wahrzunehmen und das alltägliche Umfeld nach TikTok-geeigneten Situationen abzuscannen oder auch bestimmte ,reale‘ Geschehnisse im Sinne von TikTok-Videos zu rezipieren.

 

Zusammenfassung

TikTok liefert ein Angebot für eine globalisierte und digitalisiert-technifizierte Form der Kommunikation, bei der gerade nonverbale, vorrangig visuelle Inhalte (allen voran das Reden mit ,Händen und Füßen‘, körpersprachliche Elemente, Bewegungen, Tänze, Gesten und Mimik) mit bestimmten Eigenschaften von Musik (allen voran Geschwindigkeit/Tempo, Rhythmus, Puls, Bewegungsenergie, Dynamik und formgebende Elemente) zu einer endlosen Kette von Kürzestaussagen verkoppelt werden, die zumindest partiell auch über kulturelle und Sprachgrenzen hinweg verständlich sind. Als Aggregat für diese Verkopplung dient ein Fundus medientechnologischer Kunstgriffe (vorwiegend auf der visuellen, eingeschränkt auch auf der Soundebene), der etablierte und teilweise seit Jahrzehnten eingeübte massen- und popkulturelle Errungen- schaften und Verfahrensweisen aus den Bereichen Foto, Film, Fernsehen, Popmusik, Cartoon, Werbung, Computerspiel, App-Design der verschiedenstes Sparten (von Social Media bis Tinder), Netzkultur, Memes etc. enthält und für eine, im Verständnis von Lev Manovich, massenhafte metamediale Verwendung in der und als App zurichtet (zum Begriff Metamedium vgl. Manovich 2013, S. 101-106). Auf diese Weise entwickelt TikTok einen ungeheuren Spielanreiz, vergleichbar einem scheinbar kostenlosen digitalen Zauberkasten, der nicht nur eine Unzahl vorgefertigter Requisiten, Kostüme und Tricks bereithält (und stetig neue hinzufügt), sondern zugleich auch eine hervorragend ausgeleuchtete Bühne mit weltweitem Publikum. Der Preis allerdings besteht in den eingebauten Überwachungskameras und den völlig intransparenten und vor allem streng hierarchisch organisierten Kontroll- und Verwertungsmechanismen. Die Meta-Dramaturgie der mit diesem Zauberkasten eingeübten Aufführungen entspricht dabei – zumindest derzeit – weitgehend der eines auf Dauer gestellten bunten Abends einer Klassenfahrt. Mikroformatige Kurzauftritte im Spannungsfeld von Authentizität und Bearbeitung, Professionalität und ausgestelltem Dilettantismus sowie Mimikry und Parodie entfalten ihren Reiz in der kommunikativ erfahrenen Gruppensituation, vor allem, da jederzeit vorherige Beiträge von anderen wieder aufgegriffen und weitergeführt werden können. TikTok-Videos sind daher in erster Linie eben als Auftritte, als kommunikative Akte zu begreifen.

TikTok  begegnet darüber hinaus in starkem Maße als eine musikalisierte Plattform, bei der jenseits von den auf den Oberflächen sicht- und hörbaren musikalischen Phänomenen (LipSync, Tänze, Musikausschnitte) auch hinter den Kulissen des Produzierens und Rezipierens Rhythmisierungs- und Synchronisierungsvorgänge sowie metamediale Remix- und Mashup-Verfahren eine zentrale Rolle spielen. Zudem enthält TikTok wie kaum ein anderes Angebot zuvor die Möglichkeit und den Anreiz zur Inszenierung einer ins Digitale erweiterten autopoietischen Feedbackschleife[7]: Ich schaue und höre auf einem technischen Gerät, das ich in meiner Hand halte, anderen Personen zu, die kurz zuvor mit der gleichen Sorte von Gerät in aller Regel sich selbst und vor allem ihre eigenen Körperbilder und Stimmen aufgenommen und bearbeitet haben – in der Vielzahl der Fälle dabei selbst diese Sorte Gerät in der Hand führend; als unmittelbare Reaktion darauf beginne ich mich selbst zu filmen, die Aufnahme zu bearbeiten und zu posten usw.

Auf diese Weise stellt sich eine digital vermittelte körperliche Selbstwahrnehmung und Ko-existenz ein, ein Ineinandergeraten von Körper/Stimme, Gerät und Community, das TikTok durch Features wie Duette oder Challenges ausdrücklich herausstellt. Dass dabei ein Mikroformat im Zentrum des Angebots steht, sollte über die Dimensionen von TikTok nicht hinwegtäuschen, vielmehr dient es als Teil der Umgangssprache der Plattform, als eine Art Vehikel für die beständige Aktivität der User*innen. Insgesamt dürfte dem Phänomen TikTok ein anderer Begriff eher gerecht werden: Es handelt sich, im Kontext gegenwärtiger cyber-kapitalistischer Plattformökonomie und der zugehörigen Terminologie gesprochen, um ein UGC-basiertes kommerzielles Meta- und Massenmedium.

Anmerkungen

[1] Die Richtlinien werden ständig aktualisiert. In der gegenwärtigen Fassung (Update vom Januar 2020) wurde die Passage ersetzt durch die Formulierung „Wir entwickeln eine weltweite Community, in der die Nutzer*innen authentische Inhalte erstellen und teilen, die Welt um sie herum entdecken und sich mit anderen auf der ganzen Welt “ (TikTok 2020a) Im aktuellen Mission Statement von TikTok lautet der Passus auf der deutschsprachigen Seite ähnlich: „Unsere Mission besteht darin, das Leben der Menschen zu bereichern und zu inspirieren, indem wir ein Zuhause für die Kreativität unserer Nutzer*innen sind und ihnen eine authentische, freudvolle und positive Erfahrung bieten.“ (TikTok 2020b).

[2]Die Bedeutung kann dabei allerdings variieren, zwischen der einfachen Nutzung der App oder auch dem „act of ruining a song by overusing it on TikTok“, https://www.urbandictcom/define.php?term=tiktoking.

[3]Ein vergleichbarer Fall wäre Spotify; für einen aufwendigen und nur partiell erfolgreichen Versuch, sich unter wissenschaftlichen Rahmenbedingungen Zugang zu internen Informationen zu verschaffen, siehe Eriksson et 2019.

[4]https://knowyourmeme.com.

[5]Erfreulicherweise hat sich an diesem Prozess von Anfang die Musikwissenschaft intensiv beteiligt, https://nfdi-4culture.de.

[6]Falco Punch hat sich auf eine sehr virtuose und aufwendig zu produzierende Spielart genau dieser Ästhetik spezialisiert, https://www.tiktok.com/@falcopunch?lang=de. Im Mai 2020 veröffentlichte er die Single 1-2-3-Floor, der erste Versuch, die enorme Reichweite einer deutschen TikTok-Brand auf diese Weise zu monetarisieren (Anon. 2020g).

[7]Der Begriff stammt aus dem von Erika Fischer-Lichte etablierten Diskussionskontext der performance studies, wo er für die Analyse von Aufführungssituationen etwa des Theaters verwendet wird. Erst vor kurzem wurde in den performance studies damit begonnen, nach den Auswirkungen digitaler Technologien und etwa auch von Social Media auf Konzepte von Performativität zu fragen (Leeker et 2017).

 

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Von Matthias Pasdzierny

Veröffentlicht am 13. Oktober 2021

Zitiervorschlag

Pasdzierny, Matthias: „Make Every Second Count“. Musikalisierte Mikroformate als Zentrum der Kurzvideo-App und Social-Media-Plattform TikTok, in: Peter Moormann, Manuel Zahn, Patrick Bettinger, Kai Kaspar, Sandra Hofhues, Helmke Jan Keden (Hg.): Mikroformate. Interdisziplinäre Perspektiven auf aktuelle Phänomene in digitalen Medienkulturen, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2021. Quelle: https://zkmb.de/make-every-second-count-musikalisierte-mikroformate-als-zentrum-der-kurzvideo-app-und-social-media-plattform-tiktok/; Letzter Zugriff: 18.11.2024