„Performance ist ein lebendes Bild, in dem der Künstler selbst eine zentrale Rolle einnimmt“ (Jappe 2000: 10).
Vier Dobermänner laufen unruhig einen mehrere Meter langen und hohen Stahlzaun entlang. Menschen stehen am Zaun und beobachten die Tiere. Auf dem Dach des Gebäudes über ihnen thronen schwarzgekleidete Jugendliche. Abwechselnd blicken sie gedankenverloren gen Horizont, dann schauen sie mit einem spöttischen Lächeln auf die Menschen unter ihnen herab. Auf einem Glasboden bewegen sich die Menschen zunächst unsicher in eine große weiße Halle hinein. Erst nach einer Weile nehmen sie die verschiedenen Gestalten unter dem Glasboden wahr. Die Jugendlichen unter dem Glasboden kratzen und lecken am Glas und an den Wänden, schüren Feuer, inszenieren Machtkonflikte und versöhnen sich wieder. Begleitet werden sie von Gitarren- und Klaviermusik, es wird gesungen, nicht gesprochen. Irgendwann stehen die Jugendlichen plötzlich mitten unter den Menschen. Während sie an rebellierende Demonstrant*innen erinnern, bewegen sie sich manchmal lautlos und in Zeitlupe durch den Raum, um im nächsten Moment in geschlossener Formation durch die Reihen der Menschen zu preschen. Nach vier Stunden endet das Ereignis (vgl. Timm 2017).[1] Was nach einer Szene aus dem neusten Hollywood-Splatter klingt, ist tatsächlich die von Anne Imhof inszenierte Performance Faust im deutschen Pavillon der 57. Biennale in Venedig im Jahr 2017. Eine der meistbeachteten Performances der letzten Jahre (vgl. Trauner 2017). Grund genug, dem Phänomen Performance etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Performancekunst ist aufregend, mitreißend, partizipativ und gefragter denn je. Performance ist in aller Munde, doch was ist eigentlich Performancekunst? Ob Performance Art, Live Art, Body Art, Aktionskunst, Happening oder Fluxus. Über die Jahrzehnte haben sich viele unterschiedliche Begriffe durchgesetzt, die im Kern doch ein und dasselbe Phänomen beschreiben. Auch wenn die Fachwissenschaft sich insgesamt uneins darüber ist, mit welchen Begrifflichkeiten und anhand welcher Kriterien sie ein so vielschichtiges und zugleich kaum fassbares Phänomen wie die Performance greifbar machen soll, steht im Folgenden vordergründig der Versuch einer Bestandsaufnahme.
Die Begriffe Performance und Performance Art werden in den 1960er Jahren in den USA geprägt und verankern sich wenige Jahre später auch in Europa. Performance als Kunstform vereint Elemente des Tanzes, Theaters und der Bildenden Kunst. Im Gegensatz zu den Performing Arts (darstellende Künste wie Tanz und Theater) stehen in der Performance Art Ereignisse der bildenden Kunst im Fokus.[2] Die Performancekunst wurde in den letzten Jahrzehnten pausenlos weiterentwickelt, umgeschrieben und abgewandelt, heute bezeichnet sie die symbolisch aufgeladene Handlung oder Aktion einer bildenden Künstler*in. Kennzeichnend ist ihre Prozesshaftigkeit (vgl. Jappe 2000). Eine einfache Handlung kann dabei auf eine komplexe Thematik hindeuten oder auch nur ein visuelles Moment hervorheben. Die Performance ist weder eine „neue Kunstrichtung, [noch neuer] Stil [oder an spezifische] Inhalte [gebunden, sie ist vielmehr] eine Form, eine Handlungsanweisung, eine ,Technik’“ (ebd.: 5). In den 60er Jahren entsteht diese Kunstform aus einer Protestbewegung heraus. Sie richtet ihre Kritik an die etablierten Formen traditioneller Kunst. Gleichzeitig steht sie ein für feministische Theorien und eine Öffnung der „Genregrenzen“ (Richter 2001: 1) der Kunst.
Die Kunstkritikerin Elisabeth Jappe versteht Performance vor allem als Bild. Ein Bild, das von einem handelnden Subjekt, dem*der Künstler*in/Performer*in, oder einer angeleiteten Gruppe im realen Raum-Zeit-Gefüge verwirklicht wird. Im Unterschied zum Theater ist die Akteur*in gleichzeitig die Künstler*in. Sie inszeniert keine Bühnenrolle, sondern stellt immer nur sich selber im Geflecht von „Alltagshandlungen mit, zwischen oder vor dem Publikum“ (Dreher 2001: 280) dar. Die Aufführung und ihr Sinngehalt realisieren sich somit erst mit der Teilnahme von Besucher*innen. Zeitlich sind der Performance keine Grenzen gesetzt, manchmal dauert sie nur wenige Augenblicke, manchmal viele Stunden. Manche Künstler*innen pochen auf die Einmaligkeit und Flüchtigkeit des Geschehens, manche führen ihre Performance immer und immer wieder auf. Die Bandbreite der zu bespielenden Orte variiert von Innenräumen wie Museen, Galerien oder Ateliers hin zu Außenräumen wie Straßenecken, Hinterhöfen und leeren Fabrikhallen. Orte können privat oder öffentlich, kommerziell oder alternativ genutzt sein. An die Stelle „schriftlich fixierte[r] Dialoge“ (Dreher 2001: 280) kann innerhalb der Performance ein „Aktionsplan treten[, der] alle Aufführungsmomente in einer Notation aufliste[t]“ (ebd.: 280). Im Aktionsplan werden zeitliche Abläufe festgehalten und Bühneneffekte organisiert. Einen weiteren, ergänzenden Bestandteil einer Performance stellt das Material dar. Dieses variiert von auditiven Elementen wie Klang, Geräusch, Musik oder Stimme über visuelle Medien wie Video, Film oder Foto hin zu verschiedenen visuellen Momenten wie Bewegung, Effekten oder Malerei, die intermedial und gattungsübergreifend miteinander kombiniert werden. Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob eine Performance als singuläres Ereignis bloß in der Erinnerung der Besucher oder zusätzlich auf Videomitschnitten und im Internet für die Ewigkeit festgehalten werden sollte. Ebenso umstritten verhält es sich mit der Produktion und Vermarktung. Kann eine Performance verkauft werden? Gilt ein Videomitschnitt als authentische Reproduktion? Und wie kann Performance dauerhaft finanziert werden (vgl. Jappe 2000; Goldberg 2014; Schöneich 2015; Tietenberg 2002; Umathum 2011)?
Nach dem Performance-Boom der 60er und 70er Jahre und ihrer Flaute während der darauffolgenden Jahrzehnte erfährt die Kunstform in den letzten Jahren einen ungemeinen Aufschwung. Plötzlich gibt es ein neues, wachsendes Interesse an Performancekunst. In Galerien, Off Spaces und Biennalen sind performative Werke wieder von zentralem Stellenwert und alte Diskurse um die Einmaligkeit des Ereignisses und die Vermarktung von Performancekunst werden neu ausgehandelt. Das zunehmende Interesse an der Kunstform sei nicht zuletzt auf ihre Ereignishaftigkeit zurückzuführen, die in ihrer Ausprägung erschreckende Ähnlichkeiten mit dem Eventcharakter des neoliberalen Weltsystems aufweist (vgl. Bishop 2016).
Gegenwärtig ist jedoch das Phänomen einer Entgrenzung der Performance zu beobachten. Neuere Arbeiten wie die von Imhof sprengen den konventionellen Rahmen der Performance der 60er und 70er Jahren und befördern sie in die Kunstwelt des 21. Jahrhunderts. Natürlich gibt es auch heute noch Performances, die sich im ursprünglichen Sinne der Kunstform zum Ende des 20. Jahrhunderts verstehen, doch zeichnet sich für viele Performances eine tendenzielle Verschiebung in vier unterschiedlichen Bereichen ab: 1. Musealisierung: Performance kann heute in jedem Raum stattfinden. Im Museum, auf der Biennale, im Off Space und im öffentlichen Raum. Die originäre Haltung der Performance als ,Antikunst‘ wird aufgehebelt, indem sie sich aus dem unkonventionellen Raum in die Mitte der Aufmerksamkeit bewegt. 2. Monetarisierung: Performance öffnet dem Kunstmarkt ihre Pforten. Es werden stetig neue Möglichkeiten elaboriert, die in ihrem Grundverständnis als ,wertlos’ und ,immateriell’ geltende Performance zu vermarkten. Ziel künstlerischer Performances scheint zunehmend nicht mehr das singuläre Ereignis, sondern ihr Leistungspotential hinsichtlich einer Akquirierung hoher Zuschauerzahlen. 3. Internationalisierung: Performance findet rund um den Globus statt. Künstler*innen kommen aus aller Welt. Performancekunst findet nicht mehr ausschließlich in ihren Ballungsgebieten Europa und Nordamerika statt. Auf der ganzen Welt entstehen Performancefestivals, auf denen wiederum Künstler*innen aus verschiedenen Ländern auftreten. 4. Digitalisierung: Digitale Medien erobern die Theaterbühnen und auch die Performance. Der Körper der Künstler*in als alleiniges Medium wird ergänzt und zuweilen verdrängt. Digitale Stimmaufzeichnungen und Videotutorials machen Rezipient*innen zu Kollaborateur*innen. Das performative Werk kann von digitalen Medien, Rezipient*innen oder KünstlerInnen realisiert werden – von allen zugleich, oder keinem. Das ist egal.
Neben der Performance befindet sich auch das Individuum inmitten der Wogen einer sich ständig verändernden Welt. Durch den Überfluss an medial „sinnlich-visuelle[n] Identitätsangebote[n]“ (Lange 2013: 14) ist das Subjekt neuerdings einem „pausenlose[n] Entscheidungszwang“ (ebd.) ausgesetzt, kritisiert die Kunstvermittlerin Marie-Luise Lange. Ziel einer „kritisch-reflexiven“ (ebd.) ästhetischen Bildung ist es, mediale Kommunikationsprozesse aufzuzeigen und dem Individuum Abhängigkeitsverhältnisse bewusst zu machen. Nur auf diese Weise könne ein nachhaltiger gesellschaftlicher Wandel angestoßen werden. An dieser Stelle kommt die Performance ins Spiel. Performance ermöglicht dem Individuum, sowohl künstlerisch-praktisch als auch rezeptiv tätig zu werden, seine Rolle in der Gesellschaft zu hinterfragen und kritisch auf die eigenen Lebensumstände zu blicken. Performance als ästhetische Erfahrung kann Alltag, Wissenschaft und Kunst verbinden und neue Wissenszugänge ermöglichen. Durch ihren Ereignischarakter und ihre aktuelle Präsenz auf dem Kunstmarkt fällt es heute leichter denn je, Performance als Methode der ästhetischen Bildung und Möglichkeit alternativer Wissensproduktion zu legitimieren. Ob an vorderster Front auf den Biennalen oder in kleiner Runde im Klassenzimmer braucht Performance doch eigentlich nicht viel, um ihre Wirkung zu erzielen: Raum und Zeit. Der Kurator Fabian Schöneich definiert treffend, dass es vor allem
„[…]der Austausch mit den Künstler[*inne]n, die Gespräche mit den Besucher[*inne]n und die Herausforderung mit dem Umgang unterschiedlicher Orte [sind], die diese Kunstform so spannend mach[en]. Weg vom Populären und hin zu einer gezielten Auseinandersetzung mit Performance[…]. Sich Zeit zu nehmen und sich darauf einzulassen gilt am Ende jedoch nicht nur für Performance, sondern für Kunst im Ganzen“ (Schöneich 2015: 2).
[1] außerdem Imhof 2017.
[2] Weiterführende Literatur zu Performing Arts Fischer-Lichte 2010; 2011. Weiterführende Literatur zu Performanz vgl. McKenzie 2001; Wirth 2002.
Bishop, Claire (2016): Black Box, White Cube, Public Space. In: Skulptur Projekte Münster (Hrsg.): Out of Body, S. 1-5.
Dreher, Thomas (2001): Performance Art nach 1945: Aktionstheater und Intermedia. München: Fink.
Fischer-Lichte, Erika (2010): Theaterwissenschaft. Tübingen: Francke. Fischer-Lichte, Erika (2011): Performativität. Bielefeld: transcript.
Goldberg, RoseLee (2014): Die Kunst der Performance. Vom Futurismus bis heute. Berlin/ München: Dkv kunst kompakt 08.
Imhof, Anne (2017): Faust. Deutscher Pavillon. Biennale Venedig 2017. Online: https://www. youtube.com/watch?v=TCF3buPU670 [26.02.2018]
Jappe, Elisabeth (2000): Performance, Ritual, Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa. München: Prestel Verlag.
Lange, Marie-Luise (2013): I’m here – ästhetische Bildung als Präsenz, Ereignis, Kommunikation, Aufmerksamkeit und Teilhabe. In: Sabisch, Andrea/Meyer, Torsten/Sturm, Eva (Hrsg.): Kunstpädagogische Positionen. Heft 28.
McKenzie, Jon (2001): Perform or Else. Form Discipline to Performance. London, NY: Taylor & Francis Ltd.
Richter, Dorothee (2001): Performance Kunst kuratieren? Online: http://beam-me.net/forum/ wp-content/uploads/2016/10/Dorothee-Richter_Performance-kuratieren.pdf [26.02.2018]
Schöneich, Fabian (2015): Performance kuratieren. Online: http://www.goethe.de/ins/id/lp/ prj/tco/arc/asf/cur/de14664681.htm [26.02.2018]
Tietenberg, Annette (2002): Performance. Kunsthistorische Arbeitsblätter. Heft 9/02, S. 31-38. Timm, Tobias (2017): Auf der Suche nach Leben. Online: http://www.zeit.de/2017/21/biennale-venedig-deutscher-pavillon-anne-imhof-faust [26.02.2018]
Trauner, Sandra (2017): Goldene Löwin für deutsche Künstler. Online: http://www.spiegel. de/kultur/gesellschaft/biennale-in-venedig-goldener-loewe-fuer-anne-imhof-und-franzerhard-walther-a-1147517.html [03.01.2019]
Umathum, Sandra (2001): Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal. Bielefeld: transcript.
Wirth, Uwe (2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.