Am Ende seines Beitrags geht Gereon Wulftange auf die Feststellung ein, dass der Käfig in der besprochenen Zeichnung gar keiner sei, da er sich nur aus zwei Gitterwänden zusammensetze, somit nach zwei Seiten offenstehe. Er folgert, dass der „Käfig“ in der Zeichnung keinen tatsächlichen Schutz vor dem Vater-Löwen darstelle. Trotzdem scheinen die Gitterstäbe zu wirken, weil sie Ängsten und Begehren ein Bild geben. Genau darin aber unterliegt dieses Bild – wie alle Bilder – der Subjektivität seiner Betrachter*innen.
Wir betrachten Text und Bild – so legt das visuelle Narrativ nahe – zunächst stärker aus der Perspektive des Sohnes. Im Fokus steht das Motiv des Schutzes vor der Gefahr durch den Vater, die diesem gleichsam unterstellt wird. Von dem knappen Bericht des Sohnes sowie von zeichenstilspezifischen Sehgewohnheiten beeinflusst, sehen wir sofort einen Käfig, dem wir, ohne darüber nachzudenken, seine typischen Attribute zuschreiben: geschlossen, stabil, also sicher. Für diesen Kurzschluss förderlich ist vermutlich auch, dass etwas an dieser Zeichnung, obwohl „hier etwas schiefgeht“, uns zutreffend erscheint, auf eine gewisse Wahrheit deutet. In seinem Vortrag schilderte Wulftange seinen zwischenzeitigen Eindruck, der Zeichner Janosch müsse Lacan gelesen haben, stellte dann aber (sinngemäß) fest, dass Freud/Lacan ja gerade darin Bestätigung fänden, dass solche Zeichnungen auch oder gerade ohne psychoanalytisches Fachwissen entstünden. In Janoschs Zeichnung zeigt sich, wie Wulftange resümiert, ein Wissen über ein Generationenverhältnis – zum einen im Sinne eines kulturellen Imaginären (vgl. Pazzini/Zahn 2011: 11), zum anderen ist es ein subjektives Wissen. Denn abgebildet ist auch die Darstellung eines Phantasmas des Zeichners. Was wir als Betrachter*innen letztlich sehen, figuriert sich wiederum unter Zugabe oder durch die Filter unseres Unbewussten und Imaginären. Welches konkrete Phantasma die Zeichnung abbildet, lässt sich daher aufgrund ihrer physischen Erscheinung nicht sagen. Es ist nicht einmal gewiss, welchem Pahntasma der Zeichner ein Abbild gibt, denn das dafür konstitutive so tun „als ob“ ist kein intentionales Tun. Vielleicht hat sich Janosch vorgestellt, einen geschlossenen Käfig gezeichnet zu haben. In der Zeichnung gibt es durchaus Andeutungen auf die „fehlenden“ Käfigwände. Vielleicht ist aber gerade jener „falsche“ Käfig gemeint, der die Komplexität des abgebildeten Verhältnisses steigern würde.
Besagtes „anderes Wissen vom Verhältnis zwischen den Generationen“ (Wulftange), das das Bild vom offenen Käfig andeute, zeigt sich insbesondere in jenem „‚als ob‘ es einen Käfig gäbe“, dem sich die Figuren im Bild verschreiben. Hier muss vor allem die Vater-Figur „mitspielen“. Die Illusion steht und fällt mit seinem Verhalten. Was ist das für ein Löwe, der den „falschen“ Käfig als Requisite akzeptiert, die ihn als Gefangenen inszeniert? – ein ziemlich harmloser, möchte man meinen. Oder nicht?
Der Löwe Ambar (Abb. 1) stand 2016 unter Verdacht, tatsächlich einen Jugendlichen gefressen zu haben. Dieser Vorfall gilt, so verrät der kurze Artikel (AFP 2016), den das Foto illustriert, als ungewöhnlich. Der Vergleich mit Janoschs Vater-Figur hinkt: Dem echten Raubtier wurde, anders als in der Zeichnung, nicht einmal zugeschrieben, dass diese Gefahr überhaupt von ihm ausgehe. Es ist zudem nicht in der Vater-Rolle, sondern ein Eindringling, der einen Jungen aus seinen Beziehungen reißt. Er wurde daraufhin in einen echten Käfig gesperrt. Doch auch dieser ist auf dem Foto geöffnet. Darüber hinaus, dass die beiden Löwen als so gefährlich gelten, dass sie zumindest hinter Gitter gehören, haben sie in ihrer jeweiligen Situation einiges gemeinsam. Beide könnten ihren Käfig verlassen und tun es dennoch nicht. Beide strahlen eine gewisse Verwunderung aus, wirken zugleich resigniert, scheinen den Zustand zu akzeptieren. Eine paradoxe Mischung aus Verständnislosigkeit und Schuldbewusstsein liegt in ihren Blicken und Haltungen, die gar nicht gefährlich daherkommen. Der eine sitzt, alles andere als zum Sprung bereit, auf zwei Blöcken, dem anderen fehlt lediglich der Sockel unter den Pranken, um dem versteinerten Eindruck einer Statue noch näher zu kommen. In diesen Haltungen bildet sich die Aussichtslosigkeit des Ausbrechens ab. Denn beide Löwen sind „Gefangene“ in einem übergeordneten System. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Originalbildunterschrift[1], in der die Umgebung des Käfigs als „open enclosure“ („Freigehege“ wäre wohl eine ähnlich paradoxale Übersetzung wie „offene Einzäunung“) bezeichnet wird. Diese Freilaufzone als höchstes Zugeständnis im neuen Status als Kinderfresser ist in ihrer Begrenztheit ein mögliches Sinnbild für das Rollenverhältnis der Vater-Sohn-Beziehung bei Janosch. Keiner von beiden kann dieser Beziehung entkommen. Über die Grenzen des Käfigs zu treten, hieße für die Vater-Figur nicht, der Rolle zu entkommen, die Janosch in den phantasmatischen Käfig steckt. Beide Figuren bewegen sich in einer Arena – einem Schauplatz mit zwei Akteuren und Käfig, dessen polyvalente Bedingungen sich mit Wulftange verstehen lassen als unauflösbares Geflecht aus Angst, Begehren, Schuld.
So wie sich in der Zeichnung und dem darin enthaltenen Text etwas von einem Wissen über ein Generationenverhältnis zeigt, so verweist auch der Vergleich mit dem Foto, die bloße Tatsache, dass ich dieses Foto überhaupt zum Vergleich mit dieser Zeichnung heranziehe, auf solches Wissen. Nur im Vergleich hebt das Foto von Ambar Aspekte hervor, die sich auch in der Zeichnung interpretieren lassen: die Wirkkraft der Schwelle, die im Foto stärker als in der Zeichnung buchstäblich als „Hemmschwelle“ erscheint; die symbolische Kraft der Gitterstäbe als Zeugen von Schuldgefühl, vielleicht Schuldbewusstsein, dem Wunsch nach Buße, insofern als sie als Grenze wahrgenommen und freiwillig eingehalten werden. Mir kommt die Assoziation des reuigen, ehrfürchtigen Blicks auf das Gelobte Land. Einer hat sich schuldig gemacht, es liegt in seiner Natur. Er trägt sein Schicksal mit der Würde eines Löwen. Tatsächlich ist die Gefahr mit den Gitterstäben in beiden Bildbeispielen nicht gebannt. Ein Ausbruch, ein Angriff wären jederzeit möglich. Und doch trägt die Präsenz des „falschen“ Käfigs in zwei Richtungen zur Beruhigung bei. Der Sohn hat es leichter, sich in Sicherheit zu wähnen. Der Vater, stets „im Bilde“ der Gefährdung, die von ihm auszugehen scheint, bestätigt und widerspricht zugleich dieser Unterstellung, indem er den Käfig in (vermeintlich) zahmer Ergebenheit erfüllt.
[1] „Ahmedabad: Asiatic Lion Ambar contemplates the scene as it prepares to leave the cage for a stroll in the open enclosure at the zoo here on Monday. – AFP“ (AFP 2016).
AFP (2016): India cages Asiatic lions after fatal attacks. In: Abbas, Zaffar (Hrsg.): Dawn, 24.5.2016. Online: http://www.dawn.com/news/1260255 [2.3.2017].
Wulftange, Gereon (2017): „Denn er wollte mich vielleicht fressen.“ Andeutungen zu Aggressivität, Phantasma und Begehren zwischen den Generationen. In diesem Band, S. 273-280.
Zahn, Manuel/Pazzini, Karl-Josef (2011): Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Lehr-Performances. Filmische Inszenierungen des Lehrens (Medienbildung und Gesellschaft). Wiesbaden: VS-Verlag, S. 7-15.
Abb. 1: Löwe Ambar hat 2016 mutmaßlich einen schlafenden Jugendlichen gerissen. Foto: AFP (2016). Veröffentlicht ebd.
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