Relationale Bildungen. Kommentar zum Beitrag von Ute Vorkoeper und Tanja Wetzel

Eindringlich (nichts) sehen spricht über durch Kunst sichtbar Gemachtes und seine Effekte. Ich möchte dies in meinem Kommentar um Überlegungen zu Affektivität und Relationalität ergänzen.

Die zerstreute, flimmernde Wahrheit der sozialen Medien in Abstrakter Film von Birgit Hein ist eine, in der die Realitäten derer, die mit handheld cameras filmen und also laufend(e) Bilder generieren, sich ähneln. Sich für das europäische Auge ähneln, müssten wir sagen. Das europäische Auge, das Sand, Männer, rennende Hosenbeine, Fuchteln sieht; das europäische Ohr, das Schreie und Warnungen hört, die es nicht genauer dekodieren kann. Das die Gefährdung dieser Situationen nicht genauer kennt.

Mich schockiert die Mischung aus Ungenauigkeit und Eindringlichkeit in diesem Film: Mir und dem Großteil des europäischen Publikums wird vor Augen geführt, dass es nichts weiß, dass es nicht zuordnen kann, wo die Szene spielt, nicht verstehen kann, was gesagt wird und in welchem Dialekt, wer wer ist – und warum geschossen wird. Birgit Hein zeigt uns zwar Bilder, aber sie verweigern ihre gewöhnliche informative Funktion. Eben darum wirkt der Film so stark. Die Eskalation ist absehbar und eindringlich, ihr Verlauf und Ausgang aber sind unklar, „Gewalt an sich“, so die Argumentation der Autorinnen Ute Vorkoeper und Tanja Wetzel, in abbrechenden Bildern, unterfüttert von der sich immer wiederholenden Tonspur, die all den Sequenzen und ihren unterschiedlich verwackelten Bildern unterlegt ist. Von jeweils konkreten Settings und Welten (aus) zu abstrahieren ist eine Qualität von Kunst seit der Moderne, wie auch die Beispiele im zu kommentierenden Artikel zeigen – doch hier ist es eine spezifisch europäische kulturelle Ignoranz, die uns dazu zwingt, vom Setting zu abstrahieren, weil sie es nicht vermag, vom Setting aus zu denken. Sonst sähe dieser Film vielleicht ganz anders aus, würde andere Bilder zeigen oder wäre vielleicht auch gar kein Film – es gibt genug Möglichkeiten und Lösungen dafür. Uns aber, als Rezipient*innen, trifft er, eben weil er es nicht vermag, vom Setting aus zu denken, weil er von ihm weg denkt und es als Collagematerial missbraucht. Wir ergänzen dann die Fehlstellen mit Betroffenheit.

Ich konstatiere also, in gewisser Weise mit den beiden Autorinnen, dass Abstrakter Film es nahelegt, auf eine kulturelle, eine weiße Projektion dessen zu kommen, was die spezifische Gewalt der Kriege im sogenannten arabischen Raum sein könnte – für uns, die wir sie nicht selbst erleben, weil die Gewalt längst aus dem globalen Norden ausgelagert wurde. Solche Projektionen sind verallgemeinernd und bieten allzu viel Angriffsfläche für latenten Rassismus.

Abstrakter Film anschauen ist daher mehr als nur eine Darstellung von Gewalt sehen, es ist auch performativ und erzeugt ein Gefühl von Gewalt, nicht allein durch das, was es zeigt, sondern mehr dadurch, dass es mir die Orientierung entzieht, ethisch, politisch, körperlich: indem es negiert, dass man es doch ja vielleicht auch besser machen könnte. Angst kann man gemäß Brian Massumi (2010) auf verschiedene Arten erzeugen, zum einen in der Antizipation eines furchteinflößenden Ereignisses und indem von Angst gesprochen wird, zum anderen durch die Ausübung von Tätigkeiten, die wir mit einer Gefährdung verbinden, wie davonrennen oder hektisch atmen. Angst haben ist mit Konditionierungen verbunden, die uns auch hier, bei den so offensichtlich im Loop abgespielten Schüssen und Detonationen, zusammenzucken lässt. Mit Sara Ahmed (2006) wäre die Frage der Orientierung anzusprechen, die uns abhanden kommt, wenn geschossen wird und jemand mit der laufenden Kamera losrennt; auch bei Ahmed dreht sich die Argumentation um eine Konditionierung: Wird die Konditionierung auf die Vertikale und die Horizontale, der rechte Winkel – die straightness – durchbrochen, zeitigt das körperliche und auch affektive Reaktionen. Wenn die Bilder kippen oder „auseinanderfliegen“, wie Hein einmal sagte, wird aus dem Film Ernst.

Verrückt scheint Birgit Heins formale Ernsthaftigkeit darin, eine experimentalfilmisch-malerische Komposition aus dokumentarischen Bildausschnitten zu erzeugen; auch ihre konzeptuell motivierte Beschränkung auf eine einzige Sorte von Material, eine, in der die Filmenden keine bewusste Kadrierung mehr vornehmen können. Mein eigenes, an Krieg und Terror nicht gewöhntes Körpergefühl produziert in Reaktion darauf beim Sehen die fixe Vorstellung, selbst das Handy und damit in der Hand der Filmenden zu sein. Dort liegt der einzige safe space, die einzige Konstante dieser Bilder: zwischen Hand und Handy. Hier – in dieser Vorstellung von der Hand, die das Handy hält, betrifft die Arbeit mich, hier geht sie mich affektiv an.

Die Gewalt betrifft neben dieser somatischen Ebene eine zweite, eher reflexive Ebene. Meine eigene Verletzbarkeit, mit Judith Butler gedacht, ist die Basis, um Verletzbarkeit allgemein, die Verletzbarkeit anderer, zu verstehen. Und auch hier wird mir Gewalt angetan und Gewalttätigkeit vorgeführt: Gerade im Streben nach Bezüglichkeit und trotz (oder wegen) meiner generellen Verwiesenheit auf a/Andere, meiner Relationalität, verkenne ich mein Gegenüber. Es ist nicht zu vermeiden, andere zu verkennen, denn was sie zu denen gemacht hat, die sie sind, kann ich nicht vollends ergründen. Butlers politische Theorie, ihre mit Beziehungen befasste Neue Ontologie, widerspricht damit in gewisser Weise der Logik der ethischen Anrufung, des Appells – als eine Zumutung.

Die Auswahl der Gegenstände, die Vorkoeper und Wetzel zum Gegenstand ihrer Analyse gemacht haben, ist ernsthaft: performative Bilder und gefährdete Körper, die Themen Gewalt und Tod und das sich Entziehen und Verschwinden von Körpern, Bildern und Abbildern; sowie verschiedene Mittel der Kunst, dem zu begegnen: Repräsentation, Minimalismus, konzeptuelle und materialästhetische Herangehensweisen, und zuletzt noch: der ungewöhnliche leichtfüßige Glaube ans Verändern-Können, ans Berge-Versetzen, mittels kollaborativer Wunder mit dem Beispiel Francis Alÿs.

Woran also könnten andere Politiken der Verletzbarkeit (Lloyd 2008: 92) ansetzen? Was wären gelungene Politiken der Übersetzung jener Relationalität, die uns – auch in der Bildung – vorangeht? Diese Frage adressiert nun nicht zum ersten Mal künstlerisch interessierte Bildungsarbeit und pädagogisch interessierte Kunst. Wenn schon völlige Gewaltlosigkeit nicht möglich ist, wie Judith Butler sagt, so ist es doch nötig, darauf hinzuarbeiten, die Arbeit der Macht zu dokumentieren, wahrzunehmen und zu verschieben. Let’s continue to re-orientate ourselves towards each other.

 

Literatur

Ahmed, Sara (2006): Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others. Durham: Duke. Butler, Judith (2010): Raster des Krieges: Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/M.: Campus, darin bes.: Überlebensfähigkeit, Verletzbarkeit, Affekt, S. 39-64.

Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben: politische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Lloyd, Moya (2008): Towards a cultural politics of vulnerability: precarious lives and ungrievable deaths. In: Carver, Terrell und Samuel Allen Chambers (Hrsg.): Judith Butler’s Precarious Politics: Critical Encounters. London: Routledge, S. 92-105.

Massumi, Brian (2010): Angst (sagte die Farbskala). In: Ders.: Ontomacht: Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Berlin: Merve, S. 105-129.

Von Bernadett Settele

Veröffentlicht am 19. April 2024

Zitiervorschlag

Settele, Bernadett: Relationale Bildungen. Kommentar zum Beitrag von Ute Vorkoeper und Tanja Wetzel, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2024. Quelle: https://zkmb.de/relationale-bildungen-kommentar-zum-beitrag-von-ute-vorkoeper-und-tanja-wetzel/; Letzter Zugriff: 14.05.2024

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