Grütjen’s Artikel führt anhand von Daten aus einer Kunstunterrichtsstunde vor, welchen Beitrag die Analyse von Bildsequenzen, die von einem Unterrichtsteilnehmer, hier einer Schülerin, gemacht werden, zum Verständnis der Aufmerksamkeit während des Unterrichtes leisten kann. Dabei analysiert er unter anderem die Bildabfolge und den Inhalt der Bilder sowie deren Veränderung im Laufe der Unterrichtsstunde sowie Formen der Selbstdarstellung der Fotografierenden durch die Fotos. Er zeigt beispielsweise, wie sich der Fokus der Fotografin zunehmend auf die Aktivitäten im Raum richtet.
Der Beitrag fügt sich in jüngere Untersuchungen zum Thema „Teilnahme am Unterricht“ (Breidenstein 2006) und videobasierte Analysen der Interaktion in Lehrveranstaltungen (z.B. Goldman et al. 2007) ein. Diese haben sich beispielsweise damit beschäftigt, wie Schüler/-innen im Unterricht Langeweile durch ihr körperliches Gebaren anzeigen, oder wie sie durch Interaktion miteinander lernen. Grütjens Beitrag zeigt, inwiefern es die Kamera in der Hand der Schülerin dem Forscher erlaubt, deren Perspektive und den Perspektivenwechsel im Unterrichtsverlauf zu rekonstruieren.
Die Befunde von Grütjen können von großem Interesse für die Lehrpraktiker sein, denen längerfristige oder wiederholte Analysen solcher Bildabfolgen dabei helfen können, den Rhythmus von Lehrveranstaltungen aus der Sicht von Schülern/-innen heraus zu verstehen und die Organisation des Unterrichtes daran anzupassen. Hierzu gibt Grütjens Beitrag einen wichtigen Anstoß.
Der Artikel zeigt jedoch auch, dass die Analyse von Bildabfolgen nicht unproblematisch ist und einer Ergänzung durch ethnografische Beobachtungen und andere sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden bedarf. Grütjen führt Beobachtungen im Klassenraum durch, bezieht sie jedoch in die hier vorgelegte Analyse kaum ein. Als ein Argument für die Analyse von Bildsequenzen anstelle von Einzelbildern führt Grütjen an, dass dadurch der Kritik begegnet werden kann, dass die Auswahl der analysierten Bilder der Logik und damit der Beliebigkeit des Forschers unterliegt. Grütjen verschiebt die Auswahl der Bilder vom Forscher auf den Teilnehmer, der die Fotos macht. Das Fotografieren, das durch die Bildsequenz seine Verkörperung findet, schreibt er dann weitgehend kognitiven Zuständen der Fotografin zu; wie beispielsweise der „Favorisierung bestimmter Mitschüler“. Dabei gehen die Spezifika der Situation verloren, in denen der/ die Schüler/-in das Foto macht. Mit anderen Worten: indem Grütjen sich auf die Analyse der Fotos konzentriert, verliert er das Fotografieren aus dem Auge.
Eine weitere Analyse der Bilder wird nicht darum herumkommen, ethnografische Beobachtungen nicht nur der allgemeinen Situation und spezifischer Ereignisse im Klassenzimmer zu untersuchen, sondern auch die Situation, in der die jeweiligen Fotos produziert werden, mit einzubeziehen. Eine Frage, die sich Grütjen dabei stellen könnte, ist, warum die Schülerin dieses Foto in diesem Moment in dieser spezifischen Art und Weise macht (Fokus, wer ist im Bild und wie, etc.). Es könnte durchaus sein, dass es für Grütjen nützlich wäre, die ethnografischen Beobachtungen durch Videoaufnahmen, wie sie beispielsweise Elisabeth Mohn in Klassenräumen verwendet, zu ergänzen.
Breidenstein, G. (2006): Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften
Goldman, R., Barron, B., Pea, R., & Derry, S. (2007): Video Research in the Learning Sciences. Los Angeles & London: LEA.
Mohn, E.: www.kamera-ethnographie.de