«Die Zukunft gehört […] denen, die bereit sind, sie selbst zu sein und gleichzeitig ein Stück der Anderen in sich aufzunehmen. Rassismus gibt es nur deshalb, weil unsere aller Geschichten so dicht, gründlich und unlösbar miteinander verwoben sind. Denn wie sollten sie uns sonst überhaupt auseinander halten können?» (Stuart Hall)
Das eigene Feld bereinigende, sortierende und wegordnende Aktivitäten stellen politische Handlungspraxen dar, die eng mit Repräsentationspolitiken verknüpft sind. Im Kontext der Arbeit The Society of Friends of Halit (Die Gesellschaft der Freund*innen von Halit), die im Rahmen der documenta 14 in Kassel präsentiert wurde, wurden hinaus- und wegordnende Bewegungen auf der diskursiv-medialen sowie politischen Ebene sichtbar. Diesen wegordnenden Aktivitäten als Teil einer Praxis des Silencing möchte ich ein spezifisches Erfahrungs- und Praxiswissen entgegensetzen: eine Wissensproduktion, die aus der Begegnung von aktivistischem Anti-Rassismus, Migration, Kunst, Kunstvermittlung und dem „migrantisch situierten Wissen“ der von Rassismus Betroffenen generiert wurde. Dem situierten Wissen (vgl. Haraway 1988: 583) und jahrelangen widerständigen Handeln der Betroffenen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) folgend entstand die Arbeit The Society of Friends of Halit.
Practice Research als Recht auf Recherche verstehe ich als „capacity to make disciplined inquiries into those things we need to know, but do not know yet“ (Appadurai 2006: 167). Im Zusammenhang von The Society of Friends of Halit sehe ich Practice Research zudem als einen Prozess zur Gestaltung einer emotional-kognitiven Umorientierung. Diese kann auf der Grundlage einer anti-rassistischen, solidarischen, kooperativ-performativen Zusammenarbeit gelingen, um herrschenden, sich wiederholenden Bildern und Narrativen eine alternative Wissensproduktion oder ein (Gegen-)Narrativ entgegenzusetzen. Durch aktive Kooperationen und Allianzen können solche empathischen Bilder und Narrative im öffentlichen Raum generiert werden, die emotional-kognitive Orientierungen ermöglichen können. Dies ist notwendig, da Wiederholungen von immer gleichen emotionslosen Darstellungen auf der medial-bildlichen Ebene emotionale Verbindungen verunmöglichen.
Aus der Perspektive eines forschenden Aktivismus/ aktivistischer Forschung werde ich zunächst den Hintergrund der Arbeit The Society of Friends of Halit sowie den öffentlich-medialen Diskurs über sie beleuchten. Als Mitarbeiterin der documenta 14 in der Funktion Community Liaison für soziopolitische-soziokulturelle Verbindungen, war ich dem Department des künstlerischen Leiters zugeteilt. Diese Funktion beinhaltete auch eine Vermittler*innenrolle.
Exemplarisch werde ich mich im Folgenden auf die Erfahrungen der Chorist*innen (vgl. Nenninger 2017) beziehen, die bei der Kunstvermittlung zusammen mit Besucher*innen inmitten dieser Arbeit Erfahrungen machten. Mich interessiert insbesondere, ob sich in den Wahrnehmungen und dem Umgang mit dieser Arbeit auf der epistemischen Ebene Versuche des Wegordnens als eine Form des Silencing[2] wiederholten und wie die Kunstvermittler*innen diese Situationen beschreiben. Auf der faktischen wie auch auf der symbolischen Ebene sehe ich Wegordnungen als Versuche an, bestimmte Felder, Logiken und Disziplinen sauber von anderen zu trennen, indem bestimmte Perspektiven und Expertisen für wertlos erklärt werden.
Im Vorfeld der documenta 14, die gleichberechtigt ab dem 6. April 2017 zuerst 100 Tage in Athen und ab Juni in Kassel stattfand, wurde das Tribunal NSU-Komplex auflösen von einer bundesweiten Gruppe von Aktivist*innen im Mai 2017 in Köln um- gesetzt. Geleitet von den Analysen der Familie Yozgat hatten die Tribunal-Planer*innen im Zuge der Vorbereitungen das Forschungsinstitut Forensic Architectur [3] beauftragt, die Aussage des früheren Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme über seine Anwesenheit im Internetcafé während der Mordzeit am 6. April 2006 zu untersuchen.
Kassel ist nämlich nicht nur die documenta-Stadt, sondern auch die Stadt, in der Halit Yozgat als das jüngste und letzte Mordopfer der rassistischen Mordserie des NSU ermordet wurde. Die Eröffnung der 14. Ausgabe der documenta in Athen fiel exakt auf den 6. April – den Gedenktag für Halit (siehe Abb.1 und Abb.2).
In den Jahren 2000 bis 2006 wurden in ganz Deutschland [4] neun Männer im Alter zwischen 20 und 40 Jahren immer mit derselben Tatwaffe erschossen. Sie hatten türkische (kurdische) oder griechische Namen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Die Männer waren als Kleinunternehmer in ihren eigenen Geschäften tätig. Die Tatorte: Kiosk, Schlüsseldienst, Schneiderei, Imbissgeschäft, Gemüseladen, Internetcafé – also öffentliche Orte unseres Alltags, meist an stark belebten Straßen gelegen, einige gar in direkter Nähe zu Polizeistationen. Diese befanden sich mitten in Stadtteilen, die durch Migration gestaltet wurden und werden. Zu den Anschlägen auf das migrantische Leben gehören zudem mindestens drei Bombenangriffe, die durch den NSU verübt wurden: Im Juni 2004 wurde bspw. eine Nagelbombe mit 700 Nägeln vor dem Friseurladen der Brüder Yildirim in der sehr belebten Keuptstraße in Köln abgestellt und gezündet – mit der Absicht, so viele Menschen wie möglich zu ermorden.
Nur einen Monat nach dem Mord an Halit Yozgat organisierten sowohl seine als auch die Angehörigen von Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık gemeinsam in Kassel und Dortmund eine Trauerdemonstration unter dem Titel „Kein 10. Opfer“. Bis dahin kannten sich die drei Familien nicht. In Kassel nahmen fast 4.000 Menschen – hauptsächlich aus migrantischen Communitys – teil. Diese Demonstration stellte eine umfassende Artikulation eines Wissens dar, das auf Transparenten und in Redebeiträgen deutlich geäußert wurde. Dennoch wurde sie von der Öffentlichkeit umfassend ignoriert. Nach dieser Demonstration brach die rassistische Mordserie ab; ein Jahr später wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter ermordet.
Nach jedem Mord wurden die Angehörigen der Mordopfer und die Betroffenen der Bombenanschläge zum Mittelpunkt von rassistischen Ermittlungen. Diesen folgten rassistische Presseartikel, die der Mordserie den Namen „Döner-Morde“ (vgl. Fuchs 2012) gaben. Ermittlungsgruppen gaben sich die Namen Soko „Halbmond“ oder „Bosporus“. Obwohl die Angehörigen der Opfer immer wieder darauf hinwiesen: „Das müssen Nazis gewesen sein“, wurden sie in diesen Momenten gesilencet und über viele Jahre beschuldigt. Sie wurden wie Täter behandelt, überwacht und verfolgt, „Wenn wir zu Verwandten nach Holland fuhren, wurden wir verfolgt. Wenn wir nach Österreich zu Verwandten fuhren, wurden wir verfolgt. Die Beschatter folgten uns sogar bis in die Türkei“ (Ayşe Yozgat im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss Hessen 2017).
Die Demonstration in Kassel und auch die Demonstration in Dortmund gelten heute als Zeugnis dafür, dass es hier ein situiertes Wissen gab. Mit dem Tribunal NSU-Komplex auflösen wurde migrantisch situiertes Wissen als Kategorie zur Analyse von strukturellen Rassismen im Alltag und Institutionen ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Gleichzeitig beinhaltet dieses Wissen auch Vorstellungen darüber, wie gegen Rassismus gehandelt werden kann.
Nach der sogenannten Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios im November 2011 haben die Betroffenen im NSU-Prozess oder bei den Gedenkveranstaltungen den ihnen gegebenen, institutionell zu eng definierten Rahmen zu erweitern versucht, um Rassismus als das Unsagbar-Gemachte mit bestimmten Sprechakten, Handlungs- und Darstellungsformen trotzdem zu benennen und anzuklagen. „Sie nutzen Bild-, Raum- und Körperpolitiken und Sprechweisen, um ihr Wissen einzubringen und positionierten sich mit ermächtigenden Narrativen, die politische, ästhetische, gesellschaftliche, emotionale Orientierungen und Perspektiven“ (Güleç/Schaffer 2016: 62) anbieten.
Bei den Formulierungen in den Ausschüssen oder in den NSU-Prozessen waren die Familie Yozgat und auch andere Betroffene stets freundlich und sehr präzise in der Bestimmung ihrer eigenen Position sowie der Konfliktlinien. In diesen bejahenden und höflichen Sprechakten der Familie Yozgat war stets auch ein deutliches Nein formuliert. Am 01.10.2013 im NSU-Prozess befragte der Richter İsmail Yozgat, wie er seinen Sohn aufgefunden habe. Er, geradezu als wolle er den Richter beruhigen, antwortete: „Ich werde es erzählen.“ Doch zunächst beschrieb er ausführlich und eindringlich, wie die Familie durch die Ermittlungsbeamt*innen wie Täter behandelt worden sind und welchen Diffamierungen und Beschuldigungen sie dadurch lange Zeit ausgesetzt waren. Erst danach beschrieb Yozgat seine Erlebnisse – wie er seinen Sohn auffand, von den Blutstropfen auf dem Tisch, wie Polizei und Krankenwagen kamen, wie sein Sohn in seinen Armen starb, wie er selbst abgeführt wurde und nicht seine Familie verständigen durfte. Auf die wiederholte Frage des Richters, in welcher Lage er seinen Sohn aufgefunden habe, stand İsmail Yozgat auf und legte sich in dem engen Raum zwischen Angeklagten- und Richterbank auf den Boden. Mit dieser körperlichen Form des Zeigens erzeugte er die Präsenz des Körpers des ermordeten Sohnes im Gerichtssaal (vgl. Güleç/Schaffer 2016: 65ff).
Diese Handlung ist als „affirmative Sabotage“ mitten im hegemonialen Raum zu verstehen. Diesen Begriff hat Gayatri Spivak geprägt: „I used the term sabotage because it referred to the deliberate ruining of the master’s machine from the inside. The idea is of entering the discourse that you are criticising fully, so that you can turn it around from inside because the only way you can sabotage something is when you are working intimately with it […]“ (Spivak/Brohi o. J.).
Das gegenüber den Angehörigen der Mordopfer praktizierte Nicht-hören-Wollen, sowohl während der jahrelangen Ermittlungen als auch im NSU-Prozess, zeigt eine weitere, zusätzliche Gewalt auf der Ebene staatlicher Institutionen. Dieser Ignoranz zu entgegnen bedeutet, Wege zu entwickeln, um gesellschaftliche Aufmerksamkeiten auf die Erzählungen und Erfahrungen der Betroffenen umzulenken. In diesem Sinne wurde das Tribunal NSU-Komplex auflösen realisiert. Ein weiterer Schritt bestand darin, die Arbeiten der The Society of Friends of Halit im Rahmen der documenta 14 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Im März 2017 fand im Haus der Kulturen der Welt in Berlin eine von Aktivist*innen organisierte, internationale Konferenz unter dem Titel „Der Apparat des Rassismus“ statt. Hier wurden Szenen in einem im Maßstab 1:1 nachgebauten Modell rekonstruiert, die sich auf ein geleaktes polizeiliches Video stützten. Mit diesem Video – aufgenommen in Halits Internetcafé – wollte Temme, der ehemalige Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, Zeugnis darüber ablegen, dass er den am Boden liegenden, angeschossenen Halit Yozgat nicht gesehen habe. Dieses Polizeivideo bildete die Grundlage für die „Untersuchung der Untersuchung“ oder das „Reenactment of the Reenactment“. Das Nachstellen des Mordes durch das Sichhineinbegeben in die Mikroebene des Internetcafés ermöglicht es, die Funktionen von Handelnden der involvierten staatlichen Einrichtungen zu hinterfragen.
Seit vielen Jahren analysiert İsmail Yozgat, der Vater von Halit, im NSU-Prozess und bei den jährlichen Gedenkveranstaltungen die Ungereimtheiten der Aussagen des damaligen Verfassungsschützers (vgl. Initiative 6. April). Doch die Analysen der Familie Yozgat fanden kein Gehör – auch nicht in dem seit 2013 laufenden NSU-Prozess in München (vgl. NSU-Watch Gerichtsprotokolle 2013). Ein solches Misslingen von Verständigung, darauf verweist Nikita Dhawan, ist nicht auf eine mangelnde Artikulation der Marginalisierten zurückzuführen, sondern: „[…] it is more crucial to scandalize the inability of the ,dominant’ to listen or their ,selective hearing’ and ,strategic deafness’“ (Dhawan 2012: 52).
Der Ort für die Präsentation der Arbeit The Society of Friends of Halit befand sich in der neuen Hauptpost, die in Neue Neue Galerie umbenannt und zu einer der zentralen Venues der documenta 14 geworden ist. Die Arbeit The Society of Friends of Halit umfasste mehrere Elemente, die jeweils ausgehend von einer Mikroebene einen tieferen Blick auf die verschiedenen Facetten des NSU als Komplex boten. Der Eingang in den Raum von The Society of Friends of Halit war sehr eng: Links wurde eine Mauer eingezogen, um den Raum zwischen der fotografischen Arbeit von Ahlam Shibli von der The Society of Friends of Halit zu trennen. Gegenüber befand sich die Arbeit von Beatrice Gonzales. Drei Schritte neben dem Eingang befand sich ein Bildschirm rechts an der Wand. Hier wurde eine zehnminütige Dokumentation über die Trauerdemonstration „Kein 10. Opfer“ aus dem Jahr 2006 gezeigt. Ein Videostill daraus füllte als Wandtapete die restliche Wand aus (siehe Abb.3). Vor einem Vorhang waren zudem drei Interviews des Künstlerkollektivs Spot the Silence u. a. mit Osman Tasköprü – dem Bruder des in Hamburg ermordeten NSU-Opfers – zu sehen. Rechts davon wurde eine Auswahl der Spots NSU-Komplex gezeigt. Über 20 Filmemacher*innen widmeten dem Tribunal Spots, die sich als audiovisuelle Interventionen auf Aspekte des NSU-Komplexes bezogen (vgl. Tribunal Spots 2017). Von der engen Eingangssituation aus betrachtet wirkte der Raum, als würde er sich im hinteren Bereich öffnen. Hinter dem Vorhang, der den dahinterliegenden Raum nur zu einem Drittel den Blicken preisgab, wurden als weitere Elemente die Forschungsergebnisse von Forensic Architecture mit dem Titel 77qm_9,26 Min auf drei Bildschirmen projiziert (vgl. Forensic Architecture 2017). Davor stand eine Bank mit fünf Kopfhörern (für englische und türkische Sprache). Darüber hinaus gab es keine weiteren gestaltenden Eingriffe in diesen Raum, um seinen garagenartigen Zustand beizubehalten.
Eine der von mir befragten Kunstvermittler*innen betonte, dass der schmale Durchgang, der nach hinten grösser wurde, etwas Einladendes hatte und sowohl der Vorhang als auch die Stimme dahinter die Neugier geweckt habe (Mailinterview mit S. St. 28.01.2018). Für die Kunstvermittler*innen war diese Arbeit während der Walks mit Gruppen „oft die erste Zäsur binnen der zwei Stunden“ (Mailinterview S. Va., 28.01.2018). In dieser räumlichen Situation „spielte vorwiegend die kuratorische Entscheidung zur Position der Arbeit hinter der als Vorhang bezeichneten Arbeit von Beatrice Gonzales (Telón de la móvil y cam– biante naturaleza) eine große Rolle. Oft leitete ich mit den Worten ein: ,Und nun möchte ich Sie einladen, mit mir gemeinsam hinter den Vorhang zu treten’“ (Mailinterview S. VA, 28.01.2018). Die einführenden Worte und die damit verbundene Geste der Kunstvermittler*in sind als Einladung zur aktiven Wahrnehmung und zum Zuhören zu verstehen. Sie zeigt auch das Bewusstsein bei der Kunstvermittler*in, dass eine Weigerung und ein Nicht-zuhören-Wollen im Raum durchaus möglich war.
Dass die damalige Demonstration entlang der Hauptpost verlief und nun in der Ausstellung medial vermittelt wurde, gab dem Ausstellungsraum durch die Verknüpfung mit dem Außenraum eine weitere Bedeutung. „Vor dem Video und der Tapete zur Demonstration sprachen wir zunächst eher über den abgebildeten Ort“ (Interview S. Va., 28.01.2018), den viele Besucher*innen gleich erkannten.
Die rassifizierten „Machtkonstellationen, die nicht nur jahrelanges Morden ermöglicht haben“ (Hielscher 2016: 168), basieren auf struktureller Empathielosigkeit und Ignoranz. Nicht das Übersehen, sondern vielmehr das Nicht-sehen-Wollen und Nicht-hören-Wollen als aktive Handlungen sind hochpolitisch, denn das Feld der Sichtbarkeit ist eng verbunden mit gesellschaftlichen Bedingungen und Aufmerksamkeiten. Insofern ist Kuratieren wie auch die Vermittlung nicht nur als neutraler Akt des Arrangierens von Kunstwerken in physischen Räumen oder des Sprechens darüber anzusehen, sondern immer auch als ein Sichpositionieren zu Themen, Kontexten, Geschichte(n) und Erzählungen.
Direkt nach dem Eröffnungswochenende wurde von verschiedenen Medien ein Bestandteil der Arbeit The Society of Friends of Halit hervorgehoben und besprochen: Internationale Medien wie artnet und viele deutschsprachige Tageszeitungen, von der Süddeutschen über Die Welt und die Frankfurter Allgemeine Zeitung, griffen alleine die Arbeit 77 qm_9,26 Min auf und zogen wie ein einstimmiger Chor das Fazit: Es sei die „beste Arbeit auf der documenta, die aber keine Kunst“ , sondern ein Beweis sei (Perlson 2017). Diese Schlussfolgerung ist bemerkenswert, da sie die Präsentation zwar als „beste Arbeit auf der documenta“ markiert, sie aber zeitgleich aus dem Feld der Kunst aussondert. Gleichzeitig wird dem Kunstraum zugeschrieben, nicht wichtig für die Veröffentlichung eines solch wichtigen Beitrags zu sein. Ich frage mich, warum diese Praxis des Wegordnens und der säuberlichen Trennung so wichtig ist und wem sie wozu dient. Forensic Architecture arbeitet als ein multidisziplinisches Forschungsteam aus Architekt*innen und Wissenschaftler*innen – Spezialist*innen für Sound oder Künstler*innen werden ebenso hinzugezogen. Eyal Weizmann, der Leiter des Instituts, betont, dass Forensic Architecture künstlerische Strategien nutzt, um „dem Zweifel entgegen[zutreten] und [sie] zur Befragung der Wirklichkeit [einzusetzen]“ – im Gegensatz zu zeitgenössischen Kunstbegriffen, die „die Vorstellung von Wahrheit […] problematisieren“ (Schattenblick 2017).
Die Bundesanwaltschaft des seit 2013 laufenden NSU-Prozesses im Oberlandesgericht München zeigte zunächst Interesse an der Nutzung der Forschungsergebnisse, doch dann wurden die Forscher*innen aus London wieder ausgeladen. Hingegen handelten die Repräsentant*innen aus dem hessischen Landtag: Teile aus der Arbeit 77qm_9,26 Min zu Aspekten der sensorischen Wahrnehmung sollten im Parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschuss Hessen genutzt werden. Allerdings hatte die regierungsbildende Partei CDU (gemeinsam mit den Grünen) versucht, die Arbeit aus dem politischen Feld auszuschließen und zu diskreditieren – mit dem Argument, das Video sei „nur Kunst“ – also nicht wissenschaftlich und daher „kein Beweismittel“. Nach einer Debatte unter den Parlamentarier*innen wurde der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme am 25.08.2017 schließlich doch mit Auszügen aus 77qm_9,26 Min konfrontiert (vgl. Tornau 2017) und dazu befragt.
Doch wie verliefen Gespräche in dem documenta-Raum, in dem es offenkundig um Rassismus und Gewalt ging? Im Kontext dieser Arbeit machten die Kunstvermittler*innen sehr unterschiedliche Erfahrungen. Auch bei den Besucher*innen der Walks ging es oft um das Ordnungsprinzip „Kunst“ versus „keine Kunst“ und um die Frage, „warum dies hier bei der documenta gezeigt“ werde (Interview S. Va. 28.01.2018). Die Arbeit der Society of Friends of Halit war eine der am besten besuchten Räume und wurde auch von den Medien stark rezipiert. Teilnehmer*innen der Walks waren sehr interessiert daran, aber es gab auch viele Besucher*innen, die missbilligend und abwehrend auf die Arbeit reagierten. Die Reaktionen entstanden, da hier für die Besucher*innen „die Grenzen zwischen Kunst und Aktivismus verschwimmen. Es gab einige Besucher*innen, die das Bedürfnis hatten, mich zu korrigieren. In Bezug auf die Fakten. Es wurde dann um so Kleinigkeiten diskutiert und total davon abgelenkt, um was es eigentlich geht: Silencing. Rassismus. Eine Schieflage in unserer Gesellschaft“ (Interview S. Gü., 28.01.2018).
Jedoch gab es auch Situationen während der Walks, in denen die jeweilige Kunstvermittler*in selbst in den Fokus rassifizierender Kategorisierung geriet: „[R]ückblickend erinnere ich zahlreiche angeregte Gespräche infolge der Arbeit der Society of Friends of Halit, aber zugleich werde ich bis zuletzt den Eindruck nicht los, dass meine eigene Haarfarbe, Herkunft und die vermeintliche Ethnienzuordnung bei dieser Arbeit von den Menschen in meinen Walks besonders registriert wurde“ (Interview S. Va., 28.01.2018). Auch in Gesprächen über andere künstlerische Arbeiten, die mit Queer- und Migrationspolitiken oder Postkolonialismus verbunden sind, entstanden Konfliktsituationen. Die Reaktionen auf die Arbeit Heimat von Ahlam Sibli, die sich direkt neben dem Raum mit The Society of Friends of Halit befand, fasst die Kunstvermittler*in folgendermassen zusammen: „Die Diskussionen bei dieser Arbeit haben mich immer wieder ins Staunen versetzt. Da war wirklich alles mit dabei. ‚Man sieht ihnen in den Gesichtern an, dass sie nicht hierher gehören’“ (Interview S. Gü, 27.01.2018).
Die drei exemplarischen Interviews machen deutlich, dass sich die Fragen und Konstellationen von Ein- und Ausschlüssen, struktureller Ignoranz und Empathielosigkeit auch im Ausstellungsraum spiegelten und wiederholten. Auch in den wöchentlichen Sprechstunden für die Kunstvermittler*innen wurde thematisiert, dass der Umgang gerade mit rassistischen Zuschreibungen gegenüber künstlerischen Positionen sehr schwerfiel.
Über den Umgang mit Wiederholungen der Ordnungsprinzipien Kunst versus Nicht-Kunst in der Kunstvermittlung hinaus interessiert mich die Frage, wie Kunstvermittler*innen in solchen Konfliktsituationen handeln. Insbesondere wäre zu fragen, wie Kunstvermittler*innen und im Besonderen jene, die einer vermeintlich anderen Herkunft zugeordnet werden, als Stellvertreter*innen ins Zentrum von rassifizierenden Blicken und Handlungen geraten und darin gegen Rassismus agieren. Der Kunstvermittler Hansel Sato nutzte auf der documenta 12 „Performing Essentialismus“ als ein Mittel zur Erforschung und Veränderung von vergleichbaren Situationen (vgl. Sato 2009). Die vom NSU direkt Betroffenen nutzen in solchen Situationen die affimative Sabotage als ermächtigende Strategie, die sich für den Kontext der Kunstvermittlung ebenso anbietet.
Das Forschungsprojekt The Art Educator’s Walk [5] führte teilnehmende Beobachtungen über das Handeln und die Haltung von Kunstvermittler*innen auf der documenta 14 durch. In den Interviews beschreiben einige Chorist*innen Strategien, z.B. wie sie sich bei den Besucher*innen „für den Konflikt bedanken“ (Interview R.) oder den „Konflikt freundlich benennen“ (Interview D.). Auch diesen Beschreibungen ist zu entnehmen, dass in Konfliktsituationen unterschiedliche Formen affirmativer Sabotage bewusst oder zum Teil intuitiv genutzt wurden.[1]
[1]Dieser Text erschien erstmals als: Güleç, Ayşe (2018): Vermittlung von Realitäten: The Society of Friends of Halit. In: Art Education Research (e-journal der zhdk), 8. Jg., Heft 14.
[2]Silencing ist eine Praxis des Leisedrehens, des Zum-Verstummen-Bringens und basiert auf einem Machtverhältnis.
[3]Forensic Architecture ist ein Forschungsinstitut an der Goldsmith Universität in London.
[4]Nürnberg, München, Hamburg, Rostock, Dortmund und Kassel sowie Heilbronn
[5]Informationen dazu: https://intermedialitaet.com/2017/10/16/ the-art-educators-walk/ [18.02.2018].
Abb.1: Demonstration „Kein 10. Opfer“ in Kassel 2006, Still des Videos Kein 10. Opfer von Sefa Defterli. https://pad.ma/CTC/editor/00:00:00,00:05:43.321#embed
Abb.2: Demonstration „Kein nächstes Opfer“ Bildtragende 2017 in Kassel, Archiv der Initiative 6. April, Kassel
Abb.3: The Society of Friends of Halit, Installationsansicht, Neue Neue Galerie, Kassel, documenta 14. Foto: Mathias Völzke
Appadurai, Arjun (2006): Globalisation, Societies and Education. New York: Routledge, S. 167-177.
Dotson, Kristie (2011): Tracking Epistemic Violence, Tracking Practices of Silencing. In: hypatia. 26. Jg., Heft 2,S. 236- 257.
Forensic Architecture (2017): 77qm_9,26 Mi. Online: www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/ [08.02.2018]
Fuchs, Andreas (2012): Diskriminierende Bezeichnung. Wie der Begriff „Döner-Morde» entstand. In: Spiegel-Online, 04.07.2012, www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/doener-mord-wie-das-unwort-des-jahres-entstand-a-841734.html [08.02.2018]
Dhawan, Nikita (2012): Hegemonic Listening and Subversive Silences: Ethical-political Imperatives. In: Lagaay, Alice/Lorber, Michael (Hrsg.): Destruction in the performative. Amsterdam/ New York: Rodopi, S. 47-60
Güleç, Ayşe/Schaffer, Johanna (2016): Empathie, Ignoranz und migrantisch situiertes Wissen. In: Juliane Karakayali, Cagri Kahveci, Doris Liebscher, Carl Melchers (Hrsg.): NSU-Komplex analysieren. Bielefeld: transcript, S. 63-79.
Güleç, Ayşe (2015): Fordern, überfordern, verweigern. Bild- und Raumpolitik(en) in der Migrationsgesellschaft. In: Çetin, Zülfukar/Tas, Savas (Hrsg.): Gespräche über Rassismus. Perspektiven & Widerstände. Berlin: Yilmaz-Güney, S.189-215.
Hall, Stuart (1998): Subjects in History. Making Diasporic Identities. In: Wahneema Lubiano (Hg.), The House That Race Built. New York: Vintage Books, S. 289-299.
Haraway, Donna (1988): Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspektive. In: Feminist Studies. Band 14, Heft 3, S. 575-599.
Hielscher, Lee (2016): Das Staatsgeheimnis ist Rassismus. Migrantisch-situiertes Wissen um die Bedeutungsebenen des NSU-Terrors. In: movements. Ausgabe 3, S. 167-176.
Initiative 6. April. Online: https://initiative6april.wordpress.com [08.02.2018]
Interviews (R. und D.) aus dem Forschungsprojekt The Art Educator’s Walk – Handeln und Haltung von Kunstvermittler_innen zeitgenössischer Kunst am Beispiel der Großausstellung documenta 14 in Kassel, HKB Bern von Gila Kolb, Carina Herring und Mara Ryser.
Mailinterview mit S. St., 28.01.2018.
Mailinterview S. Va., 28.01.2018.
Mailinterview S. Gü., 28.01.2018.
Nenninger, Eva (2017): documenta 14 – Spaziergänge mit dem Chor in Kassel. Online: www.documenta-kassel.com/tag/chor/ [08.02.2018]