Ein Beitrag zur Tagung: Perspektiven der Verknüpfung von Kunst, Medien und Bildung 2: Das kulturelle Imaginäre | 25./ 26.11.2011 | Wissenschaftliche Sozietät Kunst, Medien, Bildung zu Gast an der Kunsthochschule Mainz | kunst-medien-bildung.de/category/tagungen/
Der folgende Text ist ein Vortrag, den ich anlässlich der Tagung Perspektiven der Verknüpfung von Kunst, Medien und Bildung 2: Das kulturelle Imaginäre, eingeladen von der Wissenschaftlichen Sozietät für Kunst, Medien und Bildung, am 25./26.11.2011, Kunsthochschule Mainz gehalten habe. Ich habe mir die Freiheit genommen, als Fremde in einem Diskurs unter Wissenschaftlern und Künstlern eine psychoanalytische Position zum Imaginären darzulegen. Dabei ist der Umstand gerade des Ungewissen – welch ein Ensemble an Wissenschaftlern und Künstlern wird mir in der Kunsthochschule Mainz begegnen? –, mir zum Anlass meines Sprechens geworden, das die Frage des kulturellen Imaginären mit dem Zug der Adressierung verknüpft; schlicht: es ist ja der Zwischenraum des Ungewissen des Anderen, der das Imaginäre anfacht und hervorlockt. So hat sich ein performativer drive in die Rede eingetragen. Die Form der Rede wird hier beibehalten, denn sie bewahrt diesen Zug.
»Wer die Umgangsformen beachtet, aber die Lüge verwirft, gleicht einem, der sich zwar modisch kleidet, aber kein Hemd auf dem Leibe trägt.« Walter Benjamin GW Bd. IV. 1, S. 112
Sehr verehrte Damen und Herren,
kürzlich bekam ich Appetit auf etwas Süßes, ging über die Straße ins legendäre Café Funk-Eck und suchte nach dem frisch gebackenen Kirsch-Blechkuchen, den ich in guter Erinnerung habe. Das Glück war mir hold. Während die kleine, ältere Dame hinter dem Tresen mir ein Stück vom Blech herausschnitt, ließ ich meinen Blick schweifen und sah eine runde, kristallgläserne Schale wie sie etwa für Eis mit Sahne verwendet wird, hier nun waren Kekse drin. Die Schale stand auf einem Tischchen direkt neben kleinen Kaffeesahnetöpfchen, die ebenfalls in einer Kristallschale angehäuft waren, daneben noch lagen Servietten. Die Kekse sahen aus wie Heidesand, hell, süß, zuckrig. Leicht und locker wie der Heidesand selbst nahm ich ein kleines abgebrochenes Stück vom Rand, schob es in den Mund und merkte: salzig, muffig, spröde! Ein innerers iiih durchzog mich, enttäuscht über das erwartete Andere, meine gehobene Stimmung sank, als hätte ich nun einen uralten Chips in mir. Ekel bildete sich.
Da sagte die alte Dame hinter dem Tresen, die mir wohl etwas vom Gesicht abgelesen hat: »Das sind Hundekuchen!« – »Wie, bitte?« – »Das sind Hundekuchen!« – Während ich zunächst stumm zahlte (ich kämpfte gegen ein stärker werdendes Übelkeitsgefühl, das vom erwünschten Heidesand zum tröstend-phantasierten uralten Chips nun zum ›echten‹ Hundekuchen aufstieg), spuckte ich dann doch noch Worte aus: »Wie – Hundekuchen? – Nennt man die Kekse so oder sind die wirklich für Hunde?« – »Ja, Hundekuchen für Hunde. Sie hätten fragen sollen.«
Sofort ertappt bei Benimm und Gewissen – man fragt, bevor man sich was nimmt –, antworte ich: »Woher soll ich das wissen? Es sieht aus wie ein Schälchen mit Keksen zum Probieren, wie man es häufig beim Bäcker angeboten bekommt.« – »Ja, wir haben hier viele Gäste mit Hunden, die wissen das.« – »Ach so.« – »Sie brauchen keine Angst zu haben, die Kekse sind gebacken wie auch für Menschen, da ist kein Hundefutter drin.« Es tröstet mich nicht, und ich werde den Verdacht nicht los, dass die Dame hinterm Tresen diesen Satz nicht ohne Genuss und schon häufiger gesagt hat. – Und, um die Katze nun endlich aus dem Sack zu lassen, verehrte Damen und Herren, ich fürchte, ich habe Ihnen heute Hundekuchen mitgebracht.
Nicht etwa, dass ich es auch nur irgendwie in Erwägung ziehen würde, Sie zu Hunden werden zu lassen – etwa so wie Kafka Gregor Samsa in Gestalt eines Käfers aufleben lässt oder im Bericht einer Akademie den Affen Rotpeter räsonieren lässt, auch nicht etwa, dass ich mich als Hund, der nur die Sprache der Hundekuchen spricht, zu erkennen geben würde, nein nein, wir sind ja hier im Symbolischen, auf einem Feld eines Ensembles von Wissenschaftlern einer Sozietät (nicht auf dem Feld der Literatur), und meine Rede findet in einem inneren Dialog zu Ihnen, an Sie, statt, während ich dies schreibe; es kommt also aus meinem Imaginären – einem Gemisch aus ungesprochenen, stillen Phantasien, waghalsigen Unterstellungen, Wünschen und Gelüsten, die nicht nur so einfach im Geiste herumschwirren, sondern aus meinem imaginären Raum in Form einer inneren Rede zunächst aufs Blatt kullern, nun, redend aus meinem Munde kommen, während Sie – die nun wirklich vor mir sind, einzeln und im Rahmen der Sozietät, also auch eine Bande sind, während des Schreibens mir eher ein etwas bildloser, diffuser Kontext zu sein scheinen, von dem ich hoffe, dass sich allmählich Bild für Bild, in welcher Form auch immer, einstellen wird. »Jedes Bild geht vom Körper aus und kehrt zum Körper zurück […] Jedes Bild geht vom Körper aus – das heißt trennt sich davon – und kehrt zu ihm zurück.« (Didi-Huberman 2010: 444f.) So sieht es der Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman in Das Nachleben der Bilder. Der Gedanke lässt sich noch erweitern: Das Bild kehrt etwas anders zurück (von einem anderen Ort her) an einen Anderen, der/die wiederum verändert (bewegt, verrückt) gewesen sein wird. Didi-Huberman geht noch weiter:
»Das Bild reicht uns nicht nur die Hand. Es nimmt unsere Hand und zieht uns – atmet uns ein, verschlingt uns – ganz und gar in die ›magische‹, ›geheimnisvolle‹ Bewegung der einfühlenden Anziehung und der Einverleibung hinein.« (Ebd.: 453)
Bevor ich nun zur versagten Phantasie komme, will ich Ihnen noch eingestehen – damit Sie ja nicht auf die Idee kommen, sich etwas auszumalen –, dass ich keine Ahnung von Kunst- und Medienpädagogik und Pädagogik im Allgemeinen habe, nichts wirklich darüber weiß, außer, dass es sie gibt, vielleicht mal etwas aufgeschnappt habe und meinerseits Phantasien habe über diese illustren Fächer. Als Walter Benjamin in der alten Pariser Nationalbibliothek an seinem so genannten Passagen-Werk schreibt, fliegt ihm folgender Gedanke zu:
»Pädagogische Seite dieses Vorhabens: ›Das bildschaffende Medium in uns zu dem stereoskopischen und dimensionalen Sehen in die Tiefe der geschichtlichen Schatten zu erziehen.‹ Das Wort stammt von Rudolf Borchardt: Epilegomena zu Dante Iberlin 1923p 56/57.« (Benjamin 1983: I, 571)
Da möglicherweise »das bildschaffende Medium in uns« bereits aktiviert ist, ist der Hundekuchen nun vermutlich nicht mehr nur ganz Wort auch schon ein wenig Bild geworden; so möchte ich noch einmal auf ihn zurückkommen. Vom Hundekuchen nämlich rede ich als einer Täuschung, die Enttäuschung mit sich bringt, denn ich werde mein Versprechen, etwas von einer Erfahrung im Rahmen meiner analytischen Tätigkeit zu erzählen, aus verschiedenen Gründen nicht einhalten. So habe ich mich auf eine andere Fährte begeben.
Seit langem und auch weiterhin im Zuge meiner psychoanalytischen Denke und Praxis ist mir die Kunst in ihrem weiten Feld – Dichtung, Schreiben, Bild, Installationen, Musik … –, das Künstlerische als Invention, Erfindung in einer je eigentümlichen Sprache bzw. Ausdrucksform und somit Auslegung unverzichtbar. Das Künstlerische ist Widerstand gegen Normalisierung, es mahnt – mehr oder weniger indirekt –, dass dasjenige, was habituell und gewiss, selbstverständlich und gehörig uns im Symbolischen erscheint, nur eine (wirkmächtige) Perspektive neben einigen anderen ist. Manchmal wird dasjenige, was außerhalb des Gemeinnützigen bzw. des Gemeingutes und Lehrbaren liegt, für idiotisch, verrückt, zu kompliziert, sinnlos oder schlicht unerheblich abgestempelt. Genau da werde ich hellhörig und widerständig.
In Anlehnung an Maurice Blanchot (1991) lässt sich sagen, dass Literatur, Kunst etwas ist, im existenziellen Sinne real ist, das aus der έποχή (epoché) herausfällt: Kunst fällt aus der Umklammerung des Urteils heraus; es stellt das Urteil bloß, entzieht sich ihm; es geht in der Kunst nicht um ja, nein, die Figur der Trennung, du ja, du nein, denn es wäre eine Figur der Trennung, die sich anmaßen würde, dem Anderen einen Platz zuzuweisen und dieser Zug ist unvereinbar mit einer künstlerischen Haltung; darüber hinaus noch: das Eintauchen in den künstlerischen Prozess und Stimmungen verträgt die Härte des Urteils von Außen nicht, es verträgt nicht die Fremdbestimmung; für die Zeit des künstlerischen Tuns und Entwerfens wird das Über-Ich ausgeschaltet (die Arbeit des Urteils später übernimmt dann die Kritik (Kunstkritik, Freunde, Kollegen etc.)); derart fällt die Kunst aus der έποχή heraus, so gesehen ist sie unverfügbar.
Kunst wäre, unter diesem Gesichtspunkt, das imaginäre Andere, also partiell das imaginäre Andere, das nicht leicht in die symbolische Formation, in den sozialen Lauf aufgenommen wird. Kunst hat natürlich auch einen Bezug zum Realen, da wo sie ist (unabhängig der Anerkennung von anderen, denn dies Feld der Anerkennung (krisis) vor einigen wenigen anderen wäre die symbolische Ebene, die Bühne, auf der gespielt wird). Kunst ist da (la/là), wo sie aus dem Inneren eines Subjekts – einige intime Prozesse durchlaufend – eine Veräußerung, einen Sprung nach draußen, ins Sichtbare, Hörbare, ins Wahrnehmbare gestattet. Da ist sie, ohne Alibi, real.
Die Position des imaginären Anderen, dasjenige, was aussteht, ans Licht zu kommen, dieser fundamentale Zug eines Versprechens macht die Dimension des Unerschöpflichen der Kunst aus. Es bezeichnet auch ihre Nähe zum Lebendigen. Unerschöpflich ist auch das Imaginäre. Psychotiker haben zu tun mit ihrer Fülle, Unordnung, Widersprüchlichkeit und manche geben außerordentlich viel Energie dahin, die Fülle irgendwie zu verknüpfen, leiden unter ihrer Zusammenhangslosigkeit und werden zu Sammlern, Puzzlern und bauen eindrucksvolle Werke, ich denke da u.a. an Hölderlin, Schreber, Nietzsche, Warburg. Warburg hat, wie Georges Didi-Huberman in Das Nachleben der Bilder auf eine wunderbar feinsinnige, nicht pathologisierende Weise aufleuchten lässt, aus dieser Not, Notwendigkeit heraus den Mnemosyne-Atlas mit langem Atem erfunden und kreiert.(1)
Ein weiterer Abhang der Angst vor der Zusammenhangslosigkeit, dem Auseinanderfallen, Dissemenieren wie Sand in der Wüste, verstreute, verwehte Asche, ist mit Nietzsche ins Denken geholt und mit ihm die Frage der Genealogie, die notwendig diskontinuierlich ist. Der Fortschritt der Geschichte, ohne Einbrüche, ist ein notdürftiges Phantasma. Gerinnt dies zur Wahrheit, die es nicht ist, wird es, wie u.a. auch Freud, Benjamin, Blanchot in ihren Überlegungen zur Geschichte darlegen, desaströs.
Die Kehrseite des Imaginären mithin ist die Enttäuschung. Eine Desillusionierung und Aufhebung des Spielerischen(2) zieht mit sich, die (schützende, bedeckende) Farce fallen zu lassen und somit zu ermöglichen, Anderes, Unerwartetes zu schauen (im weitesten Sinne), wahrzunehmen, zu hören, zu tasten, zu empfangen und zu sprechen. Mit dem Einbruch des Illusorischen – da, wo es löchrig ist und nackt, bloß, und gerade da, wo ein Anderer angesichts der Ereignishaftigkeit widersteht (ein Liebender, indem er corpus ist), indem er präsent ist und sich vor den Anderen stellt bzw. an seine Seite – öffnet sich der Ring des Imaginären und etwas daraus wandert ins Symbolische der Sprache, unter Menschen, und öffnet sich auch insofern, unaussweichlich, der Heraufkunft des Realen. »Das Loch ist das Nichts und das Sein, je nachdem, von wo man es sieht.«(3)
Das Imaginäre ist natürlich nie rein – es ist, ein double bind, abgeschottet und offen –, es ist immer an mindestens einem Kreuzungspunkt einmal mit dem Symbolischen und ein weiteres Mal mit dem Realen verschlungen, die wiederum – in Bewegung (emotion) – mit einem undefinierten vierten Ring vorzustellen wären.(4) Im Imaginären hausen Einbildung, Phantasie, Kraft, Bedürfnis, Triebe, Lüste und bevölkern den Ring, auf dem sich innere Hasstiraden abspielen, wo es Liebesszenen gibt, dort also befindet sich das Terrain der Aggressivität, die im Innern tobt, ebenso wie die eingeschlossene Liebeskraft. Lacan nennt diese Kraft jouissance (Genießen). Mit dem Wolfsmann wird daran erinnert, dass die jouissance eine eingeschlossene Szene (nicht einfach ein Objekt) kommemoriert und manifestiert.(5) Zugrunde liegt eine unbewusste doppelte, mehrfache sexuelle Verführung in der Spannung von Realem und Phantasmatischen ungespalten, in der Schlimmstes und Schönstes einander unbewusst durchdringen.
Das Imaginäre tut so, als würde es das Reale, das Loch – weiß es nur nicht – überdecken, übertünchen, oder auch überlisten: Es tut so, als ob. Dies als ob bleibt solange wirksam, lebendig, wie es im Innenraum des Subjekts, in der narzisstischen Höhle (Archiv) des Subjekts, wohnt, eingeschlossen ist. Sickert etwas, strömt etwas davon nach draußen, wird es Wort, Bild, Ton, Klang, der vom Andern aufgenommen werden möchte (das ist eine fundamentale Unterstellung der Übertragung in der Kur), dann begibt es sich in die symbolische Ordnung. Das als ob erhält die Chance, sich und den andern zu prüfen. Es gibt auch die Chance, im Verlassen der Höhle des Imaginären, den Andern einzulassen. Ein Türspalt öffnet sich, Eingang, Einfühlung wird möglich.
So gibt es das eine Gesicht des Imaginären: Chaos. Ein anderes ist das Phantasma, Szenisches. Ein weiteres noch zeigt sich, wie Didi-Huberman es mit Derrida weiter entwickelt, indem das Imaginäre als eine Art Archiv gelesen wird, das u.a. von der Not der Zerstörung und der Not der Bewahrung gehalten wird.(6) Dem Band der Not von Zerstörung und Bewahrung liegt die ursprüngliche Kraft und Gewalt von Schrift überhaupt zugrunde, indem die Spur bzw. der Entwurf nicht ohne (Ur-)Verdrängung zum Vorschein kommen. Hier findet sich auch der Berührungspunkt vom lebendigen Sprechen (auch vom Lebendigen sprechen) zur Schrift.(7)
Unter der Hand, wie es einige Psychotiker erinnern und überliefern, ist die Macht des Imaginären, seine Fülle und Kraft, Resonanz auf ein tiefes Leiden, das in der Verletzung des wehrlosen Körpers eine nahezu grenzenlose Erfahrung einer Passivität in Körper und Seele eingeschrieben hat. Die Aufgabe des Analytikers ist es, angesichts der Erfahrung eines Ereignisses – wenn es Annäherung daran gibt – als Analytiker aufzutauchen, d.h. auf sein schlichtes Sein als Anderer zu bestehen. Die Präsenz des Analytikers erscheint im Schweigen und im Wort. Das Wort ist manchesmal für den Psychotiker gefährlich, es kann auf den Anderen wie eine Lawine zurollen, manches mal explodiert es wie eine Mine. Eine Zurückhaltung dann des Wortes, Stimme mehr denn Wort, und auch etwas Gestisches, ein Lachen, das im Affekt der Körperspannung Luft macht, tritt dann manchmal an die Stelle des Wortes und lockert etwas.
Der Schnitt – das Wort des Anderen, auch das liebende Wort des Anderen, das den Diskurs schneidet – wird in solchen Momenten nicht als Grenze, Halt und Gabe erlebt, sondern eine Annäherung an den Schnitt ›weckt‹ etwas unvordenklich Schmerzhaftes, dem an dieser Stelle »der Begriff der Kastration nicht gerecht« würde. So Michael Turnheim in Mit der Vernunft schlafen:
»Winnicott betont, dass dasjenige, was wir in den von ihm untersuchten Fällen beobachten können, nämlich eine ›Furcht vor Zusammenbruch‹, immer schon einer Abwehrorganisation in Bezug auf zugrunde liegende ›Agonien‹ entspricht, die ihrerseits undenkbar sind und denen der Begriff der Kastration nicht gerecht wird. Die zentrale These lautet, dass das, was uns auf der Ebene der Phänomene als Angst vor dem Zusammenbruch begegnet, sich als Angst vor etwas erweist, das tatsächlich schon geschehen ist (has already been), aber aufgrund seiner Vorzeitigkeit nicht eigentlich erlebt werden konnte. […] Es war kein Trauma, weil nichts geschah als etwas hätte geschehen sollen.« (Turnheim 2009: 205ff)
So betrachtet kommt die Fülle des Imaginären an einem ungewissen Punkt einem außerordentlichen Mangel nahe: als wäre die Fülle ähnlich dem Mangel. Die Fülle [das Loch] nimmt vieles auf, Fremdes auf und – hier im Unterschied zum Neurotiker – übermannt, überbordet es das Eigene. Die Trennung vom Eigenen und Fremden, die Spaltung von Innen und Außen trägt nicht. Sie ist längst schon über die Gefährdung hinaus.
Ich will versuchen, dies noch etwas auszulegen und greife von daher eine Erzählung von Caroline Eliacheff, Psychonalytikerin in Paris, auf. Das kulturelle Imaginäre setzt eine Trennung von Mensch und Tier voraus, für ein kleines Kind, namens Mathias, war das anders. Eliacheff hat ihre Erfahrung mit dem Jungen Mathias, das Kind, das eine Katze sein wollte betitelt (Eliacheff 1994). Mathias ist etwa 17 Monate alt (bereits da schon 5 Monate im Säuglingsheim Antony bei Paris), als er zu Eliacheff kommt. Ihr begegnet ein kleines Kind, das lieber schnurrte, statt zu lallen und Wörter bzw. den Anderen zu suchen. Schnurren gehört zu seiner Sprache. Es ist ein Symptom(8) und spricht von dem Wunsch, so geliebt zu werden wie die Tiere (5 Katzen, 2 Hunde, 1 Schildkröte) zu Hause in seiner Familie. Zugleich scheint Mathias allzu früh dazu aufgefordert zu sein, damit umgehen zu müssen, dass er neben den Geschwistern und dem Vater und den Tieren, keine Chance hatte geliebt zu werden, was hier heißt: sich eine Aufnahme seines Wesens, seines Seins in dem Körper des (geliebten, ersehnten) Anderen vorzustellen. Das Kind ist nicht als Kind mit Namen da, so die Konstruktion von Eliacheff, es ist da als Katze, im Schnurren und Röcheln spricht er. Von was? Wem? – Da wo die Einfühlung des (mütterlichen) Anderen dauerhaft mangelt und sich nicht in Ton, Geste, Blick zu erkennen gibt, da wo der Andere sich ihm also nicht öffnet und als Subjekt zeigt, das etwas vom Anderen aufnehmen, hören, fühlen will, hat das Subjekt mit einer Eiseskälte zu tun, die sich auswirkt auf eine eingefrorene Sprache. No woman, no cry – kein Schrei nach dem Anderen, keine Tränen, keine Wörter. Das widerständige Kind jedoch ist aus seiner Not heraus sehr klug: Zwar gibt es für Mathias kein Mütterliches; angesichts dieser Leere greift der Säugling unbewusst zum Katze-Sein. Er will ein Anderer sein. Der Wunsch, Katze sein zu wollen, ist Effekt einer Einverleibung der Katze und somit Effekt eines unbewussten Phantasmas, dessen Sein bedroht ist mit der unbewussten Preisgabe seines Subjekt-Seins als Kind mit Namen.
Die Form der unbewussten Einfühlung des Kindes in die Katze, vielleicht auch Einbildung, die als Einbildung aber nicht erkannt wird, ist der Unangemessenheit des Versagens des Anderen entsprechend: so massiv, dass das Subjekt zu verschwinden droht, zum einen. Zum anderen: Die unbewusste Wahl seiner Form Katze-Sein – schnurren, röcheln – erscheint überdeterminiert derart, dass es aus Mangel einen Bezug zur Familie, zur sozialen Umwelt mit seinem Wunsch indirekt herstellt (es hätte ja auch sterben können) und auf diese Weise die Form der Einfühlung, Einbildung, Einverleibung markiert und in den sozialen Raum transportiert.
An diesem Punkt ist das kleine Kind Mathias den Erwachsenen weit weit voraus. Es spricht (und hört nicht auf, gehört werden zu wollen in seinem Schnurren und Röcheln, worin eine Kraft liegt) und zeigt dem Anderen, was ihm fehlt: nämlich Einfühlung als Form, Kraft.
Noch einmal zum Abgrund der Täuschung. Jacques Lacan sieht es im Jahr 1955 so:
»Was mich betrifft, spezifiziere ich, innerhalb des verallgemeinerten Kommunikationsbegriffs, was Sprechen ist als Sprechen zum anderen. Es ist den anderen als solchen zum Sprechen bringen. Diesen anderen werden wir […] mit einem großen A schreiben. Und warum mit einem großen A? Aus einem zweifellos verrückten Grund […]. Dieser verrückte Grund ist hier der folgende: Du bist meine Frau – letzten Endes, was wissen Sie davon? Du bist mein Herr – in Wirklichkeit, sind Sie so sicher? Was genau den stiftenden Wert dieser Worte ausmacht, das ist, daß das, worauf in der Botschaft abgezielt wird, genauso gut wie das, was in der Täuschung sichtbar ist, darin besteht, daß der andere da ist als absoluter Anderer. Absolut, das heißt, daß er anerkannt, aber nicht gekannt wird. In gleicher Weise ist das, was die Täuschung ausmacht, daß Sie letztlich nicht wissen, ob es eine Täuschung ist oder nicht. Diese Unbekannte in der Andersheit des Andern zeichnet im wesentlichen das Verhältnis des Sprechens auf der Ebene aus, wo es gesprochen wird zum anderen.« (Lacan 1997: 48)
Hier wird, angesichts der Frage des Imaginären, die Differenz zwischen Bild und Wort, aus psychoanalytischer Sicht deutlich: Der leibhaftige Andere gibt sich in Wort, Stimme, Ton, Kraft zu erkennen. – Der Andere ›ist‹ parle-être, Sprechwesen – unabhängig von dem, was ein anderer in ihm sieht. Das Bild spricht nicht (schon metaphorisch, nicht real). Gleichwohl: das Bild wirkt. Und es wirft Fragen auf:
»Was heißt es, sich im Bild zu orientieren? Oder vielmehr: was heißt es, sich im labyrinthischen Archiv der ständig vermischten, verbundenen, zusammengestellten und zusammen zerstörten Bilder und Texte zu orientieren? Eine brennende Frage, heute mehr denn je. Noch nie beherrschte das Bild – und das Archiv, das entsteht, sobald sich das Bild vermehrt und sobald man diese Vielfalt auffangen und auffassen will – niemals noch beherrschte es so stark unser ästhetisches, alltägliches, politisches und historisches Universum. Noch nie zeigte es so gewaltsame Wahrheiten, aber noch nie belog es uns mehr, indem es unsere Gutgläubigkeit strapazierte; noch nie erfuhr es derart viele Zerstörungen. Niemals, so scheint es – und dieser Eindruck liegt an der Situation selbst, an ihrem brennenden Charakter – widerfuhren Bilder mehr Entzweiungen, widersprüchliche Forderungen und überkreuzte Ablehnungen, unmoralische Manipulationen und moralische Schmähungen. … Wie das Bild hängt das Archiv – und umso mehr das Archivbild – an einer Pendelbewegung […].« (Didi-Huberman 1997: 10)
»Wir wissen wohl, dass Archivbilder weder zur arché, noch zur Ganzheit der in Frage stehenden Geschichte verhelfen können. Für denjenigen, der wissen will wie, kann das Wissen weder Wunder noch Rast bieten. Es ist ein endloses Wissen: die unendliche Annäherung an das Ereignis und nicht dessen Erfassen in einer offenbarten Gewissheit. Es gibt kein ›Entweder Ja oder Nein‹, nicht ›Entweder Allwissen oder Allleugnung‹, nicht ›Entweder Offenbarung oder Schleier‹. Durch die Zerstörung selbst und durch die Zerstörung der Zerstörungsarchive legt sich darüber ein gewaltiger Schleier, der sich allerdings jedes Mal dann ein wenig lüftet – und uns erschüttert – wenn wir an einem Zeugnis wahrnehmen, was es durch sein Schweigen aussagt, wenn wir an einem Dokument sehen, was es durch seine Unvollständigkeit selbst aufzeigt. Aus diesem Grunde bedarf das Wissen auch der Einbildungskraft. Wenn Bilder verschwinden, verschwinden Worte und Gefühle auch – also die Übertragung selbst.« (Ebd.: 12)
Um welche Übertragungen, mögliche Passagen untereinander, miteinander geht es hier im Rahmen der wissenschaftlichen Sozietät? Es lässt sich keineswegs darüber bestimmen, es lässt sich allenfalls als Frage öffnen – um welches Treiben, welche Öffnungen geht es hier, an diesem Ort in der Kunsthochschule Mainz zur Frage des kulturellen Imaginären, an dem es gewiss eine Fülle an Wissen gibt und noch einiges andere … und darüber hinaus und zukünftig, anderswo?
Mir ist es schleierhaft, möchte darüber mehr von Ihnen erfahren, denn ich bin da allenfalls ein Tor, der mit Kuchen und Blech kommt und nun geht. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
1 Vgl. Georges Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder, a.a.O., u. a. S. 405: 508f.
2 Lateinisches Wörterbuch: illudo: spielen, umspielen, sein Spiel treiben, verspotten, täuschen, sich vergreifen, schänden, übel mitspielen.
3 Dieser Satz ist aus der Erinnerung zitiert, leider fehlt mir die präzise Quelle in Lacans Werk (irgendwo in den Schriften), sie wird ergänzt, sobald ich sie finde.
4 Vgl. grundlegend Jacques Lacan: Le sinthome. Seminar vom 18. November 1975, redigierte Mitschrift von Jacques-Alain Miller, in: Ornicar? Nr. 6 bis Nr. 11 (1976-77). Es gibt eine Übersetzung ins Deutsche von Max Kleiner, beziehbar über das Lacan-Archiv in Bregenz. Vgl. auch Alain Vanier: Symptom und Psychose, in: Jahrbuch für Klinische Psychoanalyse, Das Symptom, Bd. 2, S. 241-251. Hg. von André Michels, Peter Müller, Achim Perner, Claus-Dieter Rath, edition diskord,Tübingen 2000.
5 Vgl. grundlegend Freuds Frage nach der Urszene in, Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. GW Bd. XII, S. 27-157; vgl. zur Krypta Jacques Derrida: Fors. Die Winkelwörter von Nicolas Abraham und Maria Torok, in: Nicolas Abraham, Maria Torok: Kryptonomie. Der Verbarium des Wolfmanns, übersetzt von Werner Hamacher, Ullstein, Frankfurt a. M. 1979 (Torok/Abraham suchen die Szene im Buchstäblichen); vgl. Jacques Lacan: Der Wolf! Der Wolf!, in: ders., Freuds Technische Schriften, das Seminar Buch 1, 1953-1954 [Les Ècrits Techniques de Freud, Paris, Seuil 1975]: 117-139. Übersetzt von Werner Hamacher, Quadriga, Weinheim, Berlin 1990.
6 Diese Spannung ist eine fundamentale, die in der Kraft der Schrift an sich und ihrer Gewalt wiederkehrt, wie Freud es im Notiz über den Wunderblock bemerkt und Derrida u.a. im Schauplatz der Schrift zu denken versucht.
7 Die Schrift ist dabei bekannterweise konservativ ebenso wie sie auch – in Zeiten der Krise – die Kraft des Zukünftigen, etwas, was dem Subjekt als ein zu Kommendes entsprungen sein wird, alles andere als der tote Buchstabe. Vgl. Sigmund Freud: Notiz über den Wunderblock. GW XIV: 3-8; vgl. Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Die Schrift und die Differenz [L’écriture et la différence. Paris, Seuil 1976], übersetzt von Rodolphe Gasché: 302-350. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1976.
8 Ein Symptom, welches auch in seinen somatischen Reflexen in einer lang anhaltenden Bronchitis, Lungenentzündung und starken Atembeschwerden zum Ausdruck kommt. Mathias befindet sich monatelang in dem Heim.
Benjamin, Walter (1983): Das Passagen-Werk. Frankfurt a. M.
Benjamin, Walter (1972): Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. In: Rexroth, Tillmann (Hg): Gesammelte Schriften. Bd. IV-1. Frankfurt a. M.
Blanchot, Maurice (1991): Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz. München, Wien.
Derrida, Jacques (1979): Fors. Die Winkelwörter von Nicolas Abraham und Maria Torok. In: Abraham, Nicolas / Torok, Maria: Kryptonomie. Der Verbarium des Wolfmanns. Frankfurt a. M.
Jacques Derrida (1976): Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M., S. 302-350.
Didi-Huberman, Georges (2010): Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Berlin.
Didi-Huberman, Georges / Ebeling, Knut (1997): Das Archiv brennt. Berlin, S. 7-32.
Eliacheff, Caroline (1994): Das Kind, das eine Katze sein wollte. Psychoanalytische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern. München, S. 108-155.
Freud, Sigmund (1917/1923): Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. GW Bd. XII, S. 27-157.
Freud, Sigmund (1925): Notiz über den Wunderblock. GW XIV, S. 3-8.
Lacan, Jacques (1976-77): Le sinthome. Seminar vom 18. November 1975, redigierte Mitschrift von Jacques-Alain Miller. In: Ornicar? Nr. 6 bis Nr. 11 (1976-77).
Lacan, Jacques (1990): Der Wolf! Der Wolf! In: ders., Freuds Technische Schriften. Das Seminar Buch 1, 1953-1954. Weinheim, Berlin, S. 117-139.
Lacan, Jacques (1997): Die Psychosen. Das Seminar Buch III. Weinheim, Berlin.
Turnheim, Michael (2009): Mit der Vernunft schlafen. Zürich, Berlin.
Vanier, Alain (2000): Symptom und Psychose. In: Jahrbuch für Klinische Psychoanalyse, Das Symptom. Bd. 2. Tübingen, S. 241-251.
Der Text ist durch ein partizipatives System der Begutachtung und Kommentierung von wissenschaftlichen Beiträgen durch die Fachcommunity („Open-Peer-Review“) gegangen, das die zkmb bis September 2019 verwendet hat. Für die Dauer von zwölf Monaten konnte der „Text im Diskurs“ von allen Personen der Fachcommunity durch öffentliche und namentlich gekennzeichnete „Reviews“ kommentiert werden. Nach Ablauf dieser Zeit hatten die Autoren/innen die Möglichkeit, ihren Artikel zu überarbeiten und dabei gegebenenfalls Hinweise der Reviews einzuarbeiten. Die endgültigen Publikationen wird hier zusammen mit den daran geknüpften Reviews veröffentlicht.