Zuhören als pädagogische Haltung. Warum es sich lohnt

Manchmal wünschte ich, wir wären Tiere. Hier und da mal ein Geräusch, gar nicht unbedingt laut, das wars. Dieses ganze Blablabla[1] ist und bleibt ja doch irgendwie nur blablabla. Ich bin selber eine große Freundin der vielen Worte, aber manchmal entdecke ich diese animalische Lust in mir, Menschen mit einer Erdbeere abzuwerfen, wenn sie mal wieder nicht merken, dass sich die Welt nicht nur um sie dreht und sie gerade ganz schön viel space einnehmen. Wenn die Erdbeeren nichts nützen, dann würde ich gerne zum Megaphon greifen, um sie darauf aufmerksam zu machen.

Wir kennen sie alle. Diese Lehrenden oder Pädagog*innen, ob in der Schule, der Universität oder im Theater, die einfach zu viel reden und ihre eigenen Fragen am liebsten selbst beantworten. Ich kann es nicht leugnen – mit Sicherheit gibt es viele Momente, in denen ich in der Rolle der Lehrerin, Kindersitterin oder Theaterpädagogin hätte zuhören sollen. Aber da war AEiT noch nicht.

Dieses Projekt, das mit zwei Jahren eigentlich viel zu kurz war und es doch geschafft hat, in dieser kurzen Zeit an unserer Universität einige festgezurrte Fäden aufzulockern, dieses Projekt hat mich zum Nachdenken gebracht. Und zu dem Entschluss in meiner eigenen pädagogischen Praxis mehr zuzuhören. Warum?

Als studentische Hilfskraft im Projekt AEiT war ich an fast jeder Veranstaltung, die das Projekt ins Leben gerufen hatte, beteiligt. Dabei war ich Mit-Organisatorin, Teilnehmerin und für die Versorgung des leiblichen Wohls zuständig. Besonders präsent sind mir immer noch die Springschool 2016 how to love?, das Forschungskolleg AEiT.lab als neues Seminar-Format und das Symposium Decolonizing Arts Education. Was macht diese Formate für mich so prägend?

In der Springschool 2016, die in den Pfingstferien der Universität zu Köln stattfand, wurde in Workshops mit Künstler*innen aus verschiedenen Kunstsparten sowohl theoretisch als auch praktisch am Thema how to love? gearbeitet. Für mich persönlich jedoch waren die Themen in dieser Woche eher ,Gemeinschaft’ und ,Uni als utopischer Raum’.

Es herrschte richtige Festivalstimmung mit gemeinsamen Essen, einer Spülstraße und außergewöhnlichen Workshops. Die Studierenden und Lehrenden wurden zu einem Kollektiv. Diese Qualität unterscheidet das Lehrformat der Springschool von herkömmlichen Lehrformaten der Universität. Die gute Stimmung konnte nur aufkommen, weil die Rahmenbedingungen passten: die Workshops wurden in relativ kleinen Gruppen gehalten, alle Räume des Instituts standen uns zur Verfügung. Beim gemeinsamen Mittagessen gab es Raum für Begegnung und Austausch. Zudem unterschieden sich die Methoden der Lehrenden von denen, die wir Studierenden sonst aus unserem Uni-Alltag kennen: es wurde in Kleingruppen gearbeitet, der*die Lehrende war eher Begleiter*in/ Berater*in. Den Studierenden wurde also nicht nur Raum im physischen Sinne gegeben, sondern auch im inhaltlichen. Sie waren frei, mit ihren Gruppenpartner*innen musikalisch, performativ, theatralisch, theoretisch das Thema how to love? zu untersuchen.

Das Forschungskolleg AEiT.lab bot, bzw. bietet immer noch, Zeit und Raum für Studierende, die ihren eigenen Forschungsinteressen nachgehen wollen. Hierbei geht es um den Raum, von dem viele glauben, sie hätten ihn nicht mehr neben all dem vielen Arbeiten und Studieren. Es können Themen jeglicher künstlerischer, wissenschaftlicher oder pädagogischer Art behandelt werden, sie können theorie- oder praxisorientiert sein. Das AEiT.lab gestaltet sich als eine Art ‚kreativer workspace’ für die Bearbeitung eigener, interessenbezogener Fragestellungen, begleitet von Lehrpersonen, die Ressourcen, Kontakte und Netzwerke anbieten, um die individuellen Projekte zu unterstützen. Im Kolleg findet Austausch sowohl mit Dozierenden als auch mit Kommiliton*innen statt, Feedback und Ideen zur Weiterarbeit werden aus der Gruppe entwickelt.

Das Symposium Decolonizing Arts Education war eines meiner (emotionalen und erkenntnisreichsten) Highlights. Jeder Vortrag war äußerst spannend, seit diesem Symposium sind die Perspektiven ,Rassismuskritik’ und ‚Postkoloniale Theorie’ im Institut für Kunst & Kunsttheorie angekommen und werden hoffentlich nicht mehr verschwinden. Decolonizing Arts Education war in vielerlei Hinsicht interessant. Ich habe Neugierde gespürt und die Lust, etwas Neues über die deutsche Kolonialgeschichte zu lernen. Die Lust den Menschen zuzuhören, die so lange zum Schweigen gebracht worden waren. Das Symposium hatte eine besondere Kraft, weil die Sprecher*innen eine besondere Kraft hatten. Weil es auch Konfrontationen gab. Weil es white tears[2] gab, ich diesen Ausdruck zuvor nicht kannte und jetzt eigene Reaktionen, Sichtweisen und Gefühle besser reflektieren und ggf. kontrollieren kann. Auch wenn das Symposium sich in seiner Form nicht von herkömmlichen Symposien unterschied, so machte den großen Unterschied hier die Thematik. Es wurde ein Thema gewählt, das die Studierenden wirklich interessierte, ein Thema, das ganz konkret etwas mit unserer Zukunft zu tun hat, insbesondere als Lehrer*innen in den Schulen. Das Symposium hat die Auseinan- dersetzung mit postkolonialer Theorie und Rassismuskritik am Institut ins Rollen gebracht. Diese Auseinandersetzungen werden jetzt nach Abschluss des AEiT-Projekts im Format einer Reading Group kritisch weitergeführt. Besonders wertvoll erlebte ich den Abschluss des Symposiums, in dem wir uns in einem Kreis zusammenfanden. Jede*r hatte die Freiheit, Eindrücke, Kritik und Erkenntnisse zu äußern. Es wurde sichtbar, dass die zwei Tage des Symposiums in allen arbeiteten.

Was verbindet all diese Formate? Die Methoden und Formate scheinen bei näherer Betrachtung sehr unterschiedlich. Es gibt jedoch zentrale Gemeinsamkeiten, die sie gemeinsam und vielen anderen Seminar-Formaten voraus haben: sie nehmen ihre Zuhörer*innenschaft ernst, sie legen Wert auf Austausch und Begegnung, sie legen Wert auf die Umgestaltung des Raumes – bei der Springschool, im FoKo und auf dem Symposium wurde spürbar, dass der Raum die Motivation der Teilnehmenden veränderte, ihr Wohlbefinden, das Willkommensgefühl, das eigene Verhalten.

Um das Zuhören zu einer echten pädagogischen Praxis zu machen, und nicht nur zur Praxis, sondern zu einer pädagogischen Haltung, kann es aber noch einen Schritt weiter gehen.

Entwurf einer Utopie: ein Symposium, eine Springschool, ein Forschungskolleg, die tatsächlich und ausschließlich ihren Studierenden zuhören. Was meine ich damit? Ein Befragen von Interessen, Ideen, Meinungen von Anfang an, Studierende gestalten wirklich mit. Lehrende, die sich darin ausprobieren, sehr gute Berater*innen zu werden, die sich darin ausprobieren, die Macht und das Vorhersehbare aufzugeben, sich stattdessen in Flexibilität üben. Studierende, die das eigene Seminar von der Planung an mitbestimmen, es mit Inhalten füttern, miteinander in solidarischen Austausch treten.

Das ist keine neue Idee – diese Ideen, von Schüler*innen und/oder Studierenden als Mitgestalter*innen von Unterricht bzw. Seminaren, gibt es schon lange. Montessori, Klafki, Wocken, Gudjons, Meyer oder die Inklusive Didaktik von Reich (die Liste könnte sicher noch fortgeführt werden) – alle wollen eigentlich dasselbe: eine echte Beteiligung der ‚Lernenden‘ und dadurch eine Auflösung von Hierarchien. Für mich geht es bei all diesen Autor*innen darum, Kinder bzw. Jugendliche ihren eigenen Unterricht mitgestalten zu lassen, wodurch ihre eigenen Interessen bedient werden können.

Nicht nur im Bereich der schulischen Didaktik, sondern auch im theaterpädagogischen bzw. –vermittelnden Bereich finden sich inklusive Ansätze. Das Theater von heute zeigt bereits Tendenzen als Ort der Inklusion.

Insbesondere das Buch Stop Teaching von Patrick Primavesi und Jan Deck setzt sich mit einer neuen Form von Theater auseinander, in der Kinder und Jugendliche nicht nur Zuschauer*innen sind, sondern „als Akteure und Experten ihres eigenen Alltags“ ernst genommen werden (Primavesi 2014: 1). Was Primavesi verlangt, deckt sich mit dem, was auch Reich in Inklusive Didaktik und Wocken in Das Haus der inklusiven Schule verlangen: ein Aufbrechen der Machtstrukturen, weg von „Wissendem“ und „Lernendem“ hin zu einer Begegnung auf Augenhöhe. Wenn es einen (scheinbar) intelligenten Menschen gibt, neigt dieser dazu, zu glauben, er müsse dem*der scheinbar Unwissenden etwas erklären. Der*die Unwissende, also Kinder und Jugendliche, wird sich dem beugen und es nicht hinterfragen, weil er*sie es nicht anders gelernt hat. „Er [der*die Unwissende] unterwirft sich nicht mehr der Rute, sondern der Hierarchie der Welt der Intelligenzen“ (Rancière 2009: 18). Nicht nur, dass Kinder und Jugendliche durch diese Hierarchisierung zu glauben beginnen, sie wüssten und könnten nichts ohne den erklärenden Erwachsenen, auch beginnen sie eine Angst davor zu entwickeln, Dinge falsch zu machen. In Zeiten der Selbstoptimierung, die Deck als „Perfektionierung von Humankapital“ (Deck 2014: 48) beschreibt und sich in der Geschichte der „Kindheit“ und „Jugend“ eben vor allem auf diese Phasen der Entwicklung bezieht (als äußere Zuschreibung der kapitalistischen Gesellschaft), bietet vielleicht gerade das „THEATER ALS KOLLEKTIVES LERNEN, MIT OFFENEM AUSGANG“ (Primavesi 2014: 17) ein großes Potenzial, Kindern das Scheitern wieder beizubringen, denn dieses sei „konstitutiv für den Theaterprozess“ (ebd.). In Ken Robinsons (2006) Vortrag, einem TED-Talk, Do schools kill creativity? hält auch er fest: „[…] if you’re not prepared to be wrong, you’ll never come up with anything original — if you’re not prepared to be wrong. And by the time they get to be adults, most kids have lost that capacity. They have become frightened of being wrong.“ Hier scheinen sich viele Theoretiker*innen, Künstler*innen, Vermittler*innen einig zu sein: Die künstlerischen Fächer spielen in der Schule eine unter- geordnete Rolle (vgl. Robinson 2016; Westphal 2014: 134; Primavesi 2014: 17; Mörsch 2011: 11). Auch wenn „Fremderfahrungen nicht per Lehrplan verschrieben“ werden können (Westphal 2014: 127), womit Westphal die Begegnung mit Irritationen und Störungen im weitesten Sinne meint, sind sie doch wesentlicher Bestandteil eines schulischen und außer- schulischen Bildungsprozesses (vgl. ebd.). Ähnlich wie Antje Dudek formuliert sie, dass gerade in der Auseinandersetzung mit Nicht-Gekanntem, Grenzerfahrungen und Neuem (à ,Fremdem’) in den Künsten Bildungsprozesse erst in Gang gesetzt werden (vgl. ebd.; Dudek 2016: 106). Dudek erwähnt darüber hinaus – und hier kann wieder eine Brücke zunRancières unwissendem Lehrmeister geschlagen werden –, dass nicht vorher schon gewusst werden kann, was bei einem Kind in der Auseinandersetzung mit einem Material oder Inhalt herauskommt. Lehrpläne bzw. Lernziele (mit geformten und vorgegebenen Inhalten) haben also keine Relevanz für eine in die Tiefe gehende und aufrichtige Auseinandersetzung (vgl. Dudek 2016: 106).

Als besonders hilfreich zur Überwindung dieser Herausforderung sehe ich den Begriff der Tribalisierung nach Petras (vgl. Pinkert 2016). Hierbei findet, stark zusammenfassend, eine Anpassung des Theaters an die es umgebende Umwelt statt. Es bezieht „locals“, eben auch Kinder und Jugendliche, in seine Arbeit mit ein, lässt (Frei-)Raum für Rechercheprozesse und orientiert sich „an den Wahrnehmungsweisen, ästhetischen Bedürfnissen und Themen der jeweiligen Zielgruppe“ (ebd.). Weiter beschreibt Pinkert:

„Das tribalisierte Theater ist vorrangig an seinem spezifischen Publikum und an der Region orientiert. Das Theater erscheint hier eher als ein öffentlicher Ort, an dem aktuelle Themen verhandelt und an dem sich bestimmte, oftmals ganz verschiedene gesellschaftliche Gruppen theatral repräsentiert finden. In dieser engen Anbindung an die Zuschauer bzw. bestimmte Zuschauergruppen ist der Vermittlungsaspekt in allen Phasen des Produktionsprozesses präsent“ (ebd.).

Als Beispiel für ein Theater, das genau das versucht umzusetzen, sei hier das Forum Freies Theater (FFT) Düsseldorf aufgeführt. Das Theater arbeitet in seinen theatervermittelnden Projekten immer mit Schulen aus der Umgebung und bezieht deren Lebenswirklichkeit, sowohl örtlich als auch sozial, mit ein. Als Beispiel seien Formate wie Schule der Wahrnehmung oder die Sommerakademie Close Up aufgeführt.

Die ,Methode’ der Tribalisierung lässt sich sehr gut mit Mörschs Untersuchungen vom Verhältnis zwischen Institution (Museum) und Kunstvermittlung und den daraus resultierenden vier Diskursen setzen (vgl. Mörsch 2011). Pinkert überträgt diese Diskurse auf das Theater und die Theatervermittlung. Die vier Diskursebenen seien hier erwähnt, nähere Betrachtung erfährt an dieser Stelle nur der transformative Diskurs: 1. Affirmativer Diskurs, 2. Reproduktiver Diskurs, 3. Dekonstruktiver Diskurs und 4. Transformativer Diskurs. (vgl. Pinkert 2016; Mörsch 2011: 3f). Der transformative Diskurs entspricht in seinen Haltungen und Forderungen nach Einbeziehung der sozialen und politischen Realität, die die Institution umgibt, der Tribalisierung nach Petras. Marginalisierte Gruppen sollen in beiden Sichtweisen mehr einbezogen werden und eine Stimme bekommen. Mörsch betont, dass die Aufgabe der Kulturvermittlung – und das möchte ich auf die Theatervermittlung übertragen – eine Selbstreflexion und kritische Haltung ist, die eine „Aufwertung von Scheitern, von Suchbewegungen, von offenen Prozessen und offensiver Nutzlosigkeit“ möchte und fördert (vgl. Mörsch 2011: 11). Besonders spannend finde ich folgenden Satz:

„Anstatt Individuen den Willen zur permanenten Selbstoptimierung als beste Survival-Option anzubieten, stellt sie [die Kulturvermittlung] Räume zur Verfügung, in denen – neben Spass, Genuss, Lust am Machen und Herstellen, Schulung der Wahrnehmung, Vermittlung von Fachwissen – auch Probleme identifiziert, benannt und bearbeitet werden können“ (ebd.).

Dasselbe gilt für die Schule: Auch hier sollen Schüler*innen weitestgehend selbständig arbeiten, in ihren Interessen, Bedürfnissen und Wahrnehmungen ernstgenommen werden und wieder scheitern dürfen[3] – zumindest ist das das Ziel; die Realität sieht mit Sicherheit noch anders aus.

Das Theater als einen Freiraum zu begreifen, in dem Kinder und Jugendliche dazu ermutigt werden, Verhalten auszuprobieren (Primavesi 2014: 18), ist nicht nur spannend für das Theater bzw. die Schule, sondern auch für den universitären Kontext. Insbesondere in der Lehrer*innenausbildung im ästhetischen Lernbereich sehe ich eine Notwendigkeit, die Gedanken von oben genannten ,Theatermenschen’ und (Schul-)Didaktiker*innen mit einem inklusiven Ansatz zusammenzubringen und auf ihre Nutzbarkeit in Seminaren der Universität zu überprüfen. Wir können natürlich auch erst bei den Schüler*innen ansetzen – aber würde es nicht Sinn ergeben, dort anzusetzen, wo zukünftige Lehrende ausgebildet werden? Würde es nicht Sinn ergeben, Lehrenden in Ausbildung bereits Erfahrungen mit auf den Weg zu geben, die sie dann für ihre Planung mit ihren Schüler*innen mitberücksichtigen und so tatsächlich zum großen Ziel der Inklusion[4] beitragen können? Dies würde eine Veränderung von Seminar-Formaten bedeuten und eine Veränderung des Verständnisses vom Studieren an sich. Die Studierenden würden nicht weiter der frontalen und engstirnigen Lehrmethode unterliegen, sondern hätten einen Ort, an dem ihnen zugehört wird.

Die Universität kann hier vom Theater lernen. Als good practice Beispiel sei an dieser Stelle das Import Export Kollektiv unter der Leitung von Bassam Ghazi genannt.[5] Knapp 20 Jugendliche verhandeln auf hohem künstlerischen Niveau die Themen, die sie betreffen, die Themen, für die sie Expert*innen sind. Während einer Aufführung von real fake wurde die Kraft dieses Kollektivs, dadurch, dass ihnen eine ,echte‘ Stimme verliehen wurde, für mich als Zuschauerin so spürbar – nichts von dem, was die jungen Erwachsenen auf der Bühne performen ist von einer über sie gestellten Person erdacht und erzwungen. Ihre realen Erfahrungen werden zum Material, die dargestellten Figuren wirken authentisch. Diese Kraft mit 20 Menschen zu entwickeln, das allein ist schon ein echtes Kunstwerk. Natürlich ist die Gruppe im Verlauf der letzten Jahre, die sie bereits zusammenarbeiten, gewachsen. Doch warum gibt es in der Uni oft noch nicht einmal die Bemühung, ein Kollektiv aus einer Seminargruppe zu schaffen? Hier können Seminarteilnehmer*innen froh sein, wenn überhaupt mal nach ihren Namen gefragt wird… Der Satz, der mir aus der Zeit von AEiT am meisten hängen geblieben ist, ist „Einfach mal die Klappe halten“. Also einfach mal die Klappe halten und den Menschen zuhören, die Jahre lang, Jahrzehnte und Jahrhunderte lang gesilenced wurden, denen ihre Stimme weggenom- men und denen nicht zugehört wurde. Das Motto „Einfach mal die Klappe halten“ findet sich aber auch in der Pädagogik wieder, z.B. bei Marte Meo. Auch hier wird es empfohlen als Erwachsene*r nicht immer einfach drauf los zu brabbeln, sondern einfach mal (ab) zu warten, was vom Kind oder von dem*der Jugendlichen kommt und darauf ggf. zu reagieren. Stille aushalten. Auch im Kontext von Beratung ist das ein längst angewandtes Konzept, der*die Patient*in spricht. Im Kontext von Theaterpädagogik findet das Zuhören ebenfalls Anwen- dung, wie am Beispiel vom Import Export Kollektiv gezeigt. Wieso entprofessionalisieren wir dieses Motto nicht endlich und fangen an, im Alltag einfach mal die Klappe zu halten?

Es muss bedacht werden, dass auch eine Praxis des Zuhörens nicht frei von Privilegien ist. So gut meine Absicht dahinter sein mag, so sehr ist sie eben geprägt von meiner privilegierten Situation. Das Zuhören als pädagogische Haltung beinhaltet eine gleichzeitige Markierung von Hierarchien. Ich entscheide, beispielsweise als Lehrerin, den Kindern/Jugendlichen nun zuzuhören. Es ist meine Entscheidung, die Schüler*innen bleiben ihr ausgeliefert. Übertragen auf den globalen Kontext gilt das gleiche. Wenn jemand so ‚gütig’ ist, nun endlich einmal Stimmen zuzuhören, die jahrelang unter Verschluss gehalten worden sind, heißt das gleichzeitig, dass sich da eine mächtigere Position dazu erbarmt, nun zuzuhören. Das Abhängigkeitsverhältnis bleibt bestehen.

Ich bin mir dieses Paradoxons sehr bewusst und noch zu keiner Lösung gekommen, wie ich es aufheben kann. Aber ich habe etwas verstanden:

Zuhören ist wichtig. Denen zuhören, denen bisher noch nicht so viel zugehört wurde bzw. wird und diese Gruppen als Expert*innen ernstnehmen. Erwachsene, die in irgendeiner Form pädagogisch arbeiten, sollten sich das Zuhören als Haltung einschreiben. So können neue interessante Formate entstehen, auch mit künstlerischem Anspruch.

Anmerkungen

[1] „Blablabla“ = Fachausdruck für sehr viel Gerede, insbesondere von Akademiker*innen.

[2] Um zu verstehen, was ,white tears’ sind, sei hier auf den Artikel von Jennifer Loubiel verwiesen, auf den Carmen Mörsch uns aufmerksam gemacht hatte (vgl. Loubiel 2016).

[3] hierzu die Webseite des FFT Düsseldorf: https://fft-duesseldorf.de/theater-und-bildung/ [04.01.2019]

[4] Im Umfang dieser Arbeit kann leider nicht auf den bildungswissenschaftlichen Diskurs eingegangen werden. Ich nehme mit dieser Aussage aber Bezug auf Literatur von Reich, Wocken, Ziemen,

[5] An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass ich Inklusion nicht nur für ein schulisches, sondern ein gesamtgesell- schaftliches Projekt Da Kinder und Jugendliche den Großteil ihrer Zeit aber in der Schule verbringen, halte ich es für unsagbar wichtig, in der Schule Inklusion „zu üben“ und zu leben.

Literatur

Dudek, Antje (2016): Irritation und Veränderung. Magische Potentiale von Performance Art Education. In: Meyer/Moormann/Dick/Ziegenbein (Hrsg.): where the magic happens. Bildung nach der Entgrenzung der Künste. München: kopaed.

Klafki, Wolfgang (2007): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim/Basel: Beltz, 6. Auflage.

Loubiel, Jennifer (2016): 4 Ways White People Can Process Their Emotions Without Bringing the White Tears. Online: https://everydayfeminism.com/2016/02/white-people-emo- tions-tears/ [03.01.2019]

Mörsch, Carmen (2011): Watch this space! Positionen beziehen in der Kulturvermittlung. In: Sack, Mira/Rey, Anton/Schöbl, Stefan (Hrsg.): Theater Vermittlung Schule. Ein Dialog. Zürich: Museum für Gestaltung Verlag.

Pinkert, Ute (2016): Theater und Vermittlung. Potentiale und Spannungsfelder einer Beziehung. Kulturelle Bildung Online. Online: https://www.kubi-online.de/artikel/theater-vermittlung-potentiale-spannungsfeldereiner-beziehung [28.02.19]

Primavesi, Patrick/ Deck, Jan (2014) (Hrsg.): Stop Teaching. Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld: transcript.

Rancière, Jacques (2009): Der unwissende Lehrmeister. Wien: Passagen Verlag, 2. Auflage. Reich, Kersten (2014): Inklusive Didaktik. Bausteine für eine inklusive Schule. Weinheim/Basel: Beltz.

Robinson, Ken (2006): Do schools kill creativity? TED Online. Online: https://www.ted.com/ talks/ken_robinson_says_schools_kill_creativity [28.02.2019]

Westphal, Kristin (2014): Fremdes in Bildung und Theater/Kunst. In: Primavesi, Patrick/ Deck,Jan (Hrsg.): Stop Teaching. Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld: transcript.

Wocken, H. (2014): Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen – Baupläne – Bausteine. Hamburg: Feldhaus Verlag, 5.Auflage.

Ziemen, Kerstin (2017): Lexikon Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Von Saliha Shagasi

Veröffentlicht am 19. April 2024

Zitiervorschlag

Shagasi, Saliha: Zuhören als pädagogische Haltung. Warum es sich lohnt, in: Jane Eschment, Hannah Neumann, Aurora Rodonò, Torsten Meyer (Hg.): Arts Education in Transition, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2024. Quelle: https://zkmb.de/zuhoeren-als-paedagogische-haltung-warum-es-sich-lohnt/; Letzter Zugriff: 26.12.2024