Ryan Trecartin ist ein 1981 in Texas geborener Künstler, der in Los Angeles lebt und arbeitet. Seit 2000 hat er, unter anderem zusammen mit der Bildhauerin Lizzie Fitch, eine beachtliche Anzahl von Videoarbeiten produziert, die sowohl auf Onlinevideoplattformen wie YouTube und vimeo als auch mittlerweile – nachdem Trecartin 2006 auf der New Yorker Whitney Biennale einer breiten kunstinteressierten Öffentlichkeit vorgestellt wurde – in zahlreichen repräsentativen Museen und Galerien weltweit zu sehen sind. Die Videos haben sich im Laufe der Jahre von einer Home-Movie-Ästhetik der ersten Arbeiten zu komplexen, raumgreifenden Video-Installationen mit mehreren Screens entwickelt. Für viele Kurator*innen, Museumsdirektor*innen und Sammler*innen ist Trecartin der Vorzeigekünstler der Post-Internet Art.
Unter dem Begriff der Post-Internet Art versammelt die Kunstkritik Künstler*innen und Kunstwerke, die vom Lebensgefühl, der Kommunikation und Ästhetik in Zeiten des Internets, von einem Internet State of Mind handeln. Das Post bezieht sich also gerade nicht auf eine Kunst nach oder jenseits des Internets, sondern vielmehr auf künstlerische Arbeiten, die sehr selbstverständlich mit der vernetzten digitalen Medialität, ihrer Ästhetik, den entsprechenden symbolischen Formen sowie den veränderten Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen umgehen. Zum ersten Mal wurde der Begriff von der Künstlerin Marisa Olson 2008 in einem Interview für Régine Debattys Website We Make Money Not Art1 benutzt und machte von da an Karriere (vgl. McHugh 2011, Olson 2011). Ihre Konzeption von Post-Internet Art macht darauf aufmerksam, dass sich Internet Art nicht länger hinreichend als computer- oder internetbasierte Kunst definieren lasse, sondern vielmehr als Kunst, die in signifikanter Weise vom Internet und digitalen Medien beeinflusst ist, bzw. die sich der vernetzten Digitalität und ihrer Effekte – der Verbreitung, der Zirkulation, der Ent- und Aufwertung künstlerischer Arbeiten, u. a. m. – sehr bewusst ist.
Gleichsam wird mit der Kategorisierung den Künstler*innen der Post-Internet Art im Kunstdiskurs allzu schnell eine affirmative Haltung gegenüber der westlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu- und eine kritische Haltung sowie ein transformatives Potenzial abgesprochen – was für einige Arbeiten und Künstler*innen wohl auch gelten mag (vgl. Heiser 2015), aber sicher nicht für alle. Gerade für Ryan Trecartins Videoarbeiten scheint mir diese Bestimmung zu kurz zu greifen, stehen sie doch m. E. neben einem affirmativen mindestens auch in einem kritischen Verhältnis zur aktuellen sozio- und medienkulturellen Wirklichkeit.
Bei meiner Analyse von Trecartins Videos orientiere ich mich an den heuristischen Kategorien, die jüngst von Lotte Everts u. a. in Kunst und Wirklichkeit heute (2015) entwickelt wurden, um die Relationen zwischen Kunst und Wirklichkeit zu bestimmen: Affirmation, Kritik und Transformation. Die affirmative Position fragt danach, wie die Wirklichkeit in die Kunst eingeht; die kritische ist geleitet von der Frage, wie Kunst von der Wirklichkeit differiert und die transformative Position richtet ihre Aufmerksamkeit darauf, wie Kunst Wirklichkeit verändert oder verändern könnte. Im Anschluss an die analytische Skizze interessiert mich aus bildungstheoretischer Perspektive, wie das mit den Videos gewonnene Verhältnis zur Wirklichkeit für eine Bestimmung heutiger Bildungsprozesse in der aktuellen Medienkultur weitergedacht werden kann. Meine Argumentation strukturiert sich entlang dreier Fragen:
1. Was zeichnet die Ästhetik von Ryan Trecartins Videos aus? 2. Welche Erfahrungen ermöglichen sie? Mit anderen Worten: Wie lassen sie für ihre Betrachter*innen Aspekte der aktuellen sozio- und medienkulturellen Wirklichkeit thematisch werden? 3. Und zuletzt frage ich mich aus bildungstheoretischer Perspektive: Wie können die Erfahrungen der Videos für eine Bestimmung heutiger Bildungsherausforderungen in der aktuellen Medienkultur weitergedacht werden? Dabei konzentriere ich mich auf einige Thesen zu einer zeitgemäßen Theorie von Bildung, von Subjektivierung im Dispositiv vernetzter Digitalität.
Beim Vortrag, der diesem Text zugrunde liegt, habe ich einem von Trecartins Videos ein wenig Zeit zum Auftritt gelassen, um dem Publikum zumindest eine Vorstellung von seiner Ästhetik zu geben. Das muss ich dem/der Leser*in anheimstellen, auch zu tun: Zu sehen gab es eine Sequenz aus dem Video Ready, einem von vier Teilen der Serie Re’Search Wait’S, die in den Jahren 2009-2010 entstanden ist.2 Als zugegeben schwacher Ersatz für die Erfahrung von Trecartins Videos müssen hier – im Medium des Buchs – ein paar Filmstills aus Ready genügen (vgl. Abb. 1-4 nach diesem Beitrag).
Auch wenn sich die Videos von Trecartin in ihren jeweiligen thematischen Schwerpunkten und Narrativen unterscheiden, ist Ready hinsichtlich der Darstellungsstrategien und der Ästhetik durchaus signifikant für seine filmische Praxis.
In einer ersten Annäherung lassen sich Trecartins Videos (er nennt sie „Movies“) als Mash-ups beschreiben, die ihren Betrachter*innen einiges an medialer Vielschichtigkeit und Intertextualität zumuten. Mashup, weil man einzelne in die Videos integrierte Samples sowohl von kulturellen Artefakten, medialen Inhalten als auch symbolischen Codes ihrer Darstellung noch erkennen kann, obwohl Trecartin sie, zusammen mit seinem Ensemble, in kollektiver Individuation aneignet, mischt und verändert ausgibt. Dabei folgen die Videos ziemlich genau Lev Manovichs Definition des digitalen Films aus seinem Buch The Language auf New Media (2001), nach der herkömmliche Filmaufnahmen, die sog. live action, wie z. B. die Performances von Trecartin und seinen Schauspieler*innen, nur noch Rohmaterial zur weiteren Bearbeitung sind: animiert, manipuliert werden sie im Prozess der Postproduktion mit weiteren schon existierenden, gefundenen Bildern, Tönen sowie 3-D-Animationen zusammen montiert. Nahezu keine Einstellung, kein Bild, das wir in seinen Arbeiten sehen, kein Ton, Sound, keine Stimme, die wir hören, wurde nicht mittels einer digitalen Schnittsoftware bearbeitet und manipuliert.
Zudem arbeitet Trecartin mit Überlagerungen und Verdichtungen der uns bekannten Formate und symbolischen Codes der aktuellen globalen Medienkultur, wie sie sich auf den Plattformen der Sozialmedien von YouTube über Flickr, Instagram, Twitter bis Facebook darstellen – am deutlichsten wird dies im frontalen Adressieren der Kamera, wie wir es aus der Selfie-Kultur und den YouTube-Blogs kennen. Insgesamt gewinnt die Kamera in Trecartins Videos die Bedeutung eines Mitspielers, eines Akteurs, der soziale Aktionen initiiert: unter Arbeitskollegen, Freunden sowie in der Familie, im Museum, auf Reisen, in Geschäftsmeetings oder auf Partys.
Auf der Ebene der Montage werden die bewegten Bilder, Schrift und Töne Schicht um Schicht übereinander gelegt oder in Split-Screens nebeneinander präsentiert, so dass ein dicht gewebtes Netz aus Zitaten und Anspielungen entsteht. Dadurch erreichen die Videos eine Komplexität an Aussagen und simultanen audiovisuellen Artikulationen, die die Aufmerksamkeit ihrer Betrachter*innen übersteigen, die sie (immer noch) in erster Linie mit Büchern und narrativen Filmen, allgemeiner: mit linearen, sukzessiv prozessierenden symbolischen Formen gebildet haben. Trecartins Videos können (oder müssen) daher immer wieder und wieder gesehen werden. Im wiederholten Sehen lässt sich dann das vielfach Geschichtete und Gefaltete seiner Movies entfalten und es erschließen sich serielle Bezüge innerhalb der Videos und hin zu anderen medialen Artikulationen und kulturellen Erzeugnissen.
Die symbolischen Codes und medialen Artikulationen, auf die sich Trecartins Videos beziehen, aus deren Versatzstücken und Samples (Bilder, Töne, Sounds, Musiken, Körperhaltungen, Gesten, Mimiken, Akzente, Aussagen, u. a. m.) sie sich zusammensetzen, werden aber von ihm, seinen Co-Autor*innen und Schauspieler*innen nicht einfach nur wiederholt, sondern, wie man in Bezug zu kunst- und filmhistorischen Vorläufern sagen kann, verändert und verschoben. Die queeren Travestien und Performances der Akteur*innen in Trecartins Videos erinnern mich beispielsweise an die fotografischen Serien einer Cindy Sherman oder an filmische Ensemblearbeiten von John Waters. Legen Shermans Verkleidungen den Einfluss der Gesellschaft und der damaligen Leitmedien Kino und Fernsehen auf die subjektive Identitätsbildung offen und befragen Waters Filme die Normierungen der Konsumgesellschaft, beziehen Trecartins Travestien zudem noch den Einfluss digitaler Medien und des Internets mit ein.
„Wir stammen von Animationen ab. Und diese Animationen stammen von Menschen ab“, erklärt im Video CENTER JENNY ein Dozent mit lila Glatze und eingefärbten Kontaktlinsen einem Kreis junger Zuhörer*innen. Trecartins Arbeiten verweisen in ihren Überzeichnungen zwar auf eine noch zukünftige Welt, die aber m. E. nicht mehr weit entfernt scheint; eine Welt, in der alles, was wir tun, was wir in/mit/über digitale Medien wahrnehmen, aufzeichnen und kommunizieren potenziell als Datenspur aufgezeichnet und zu unbestimmter Zeit ausgewertet, repliziert oder mit anderen Daten gemixt und remixt werden kann. Aus dieser Zukunft betrachtet, werden Castingshows, Facebook, Instagram und Twitter, Selfies, YouTube-Videos, Datenclouds und Abhörprogramme nur Vorübungen gewesen sein für eine Welt, in der alles Lebendige als Code erfasst sein wird, nach Belieben replizierbar und veränderbar.
Trecartins Videos lassen uns also in verdichteter und parodistischer Weise aktuelle Wirklichkeit erfahren und uns kritisch auf ihre Möglichkeiten und Abweichungen, eben auf das, was noch nicht ist, befragen. Sie zeigen mit jeder Einstellung, dass wir in einem neuen Medium leben: in der digitalen Medienkultur des Web 2.0, in der das, was wir Realität nennen, aufs Engste mit dem World Wide Web verschlungen ist.
Die vorherrschenden symbolischen Formen der digitalen Kultur sind die Serie und die Datenbank.3 Und Trecartins Videos verstehe ich als Übergang, als Hybrid zwischen filmischer Narration, Serie und Datenbank. Wir sehen zwar noch eine Art Film mit Schauspiel und Figuren, dieser kann aber nicht mehr als Erzählhandlung oder lineare Narration (wie wir es aus Kino- und Fernsehfilmen kennen) verstanden werden, sondern er präsentiert sich vielmehr als eine vielschichtige Zeitskulptur, als audiovisuelle Montagen von digitalem Material aus der größten globalen Datenbank: dem Echtzeitarchiv des www.4
Gleichsam verweisen sie auf eine andere Subjektivität bzw. auf andere subjektivierende Praktiken – zuerst einmal dadurch, dass sie Identitäten und bestehende symbolische Ordnungen negieren. In seinen Videos scheint nichts und niemand wirklich am richtigen Platz zu sein, vielmehr umschwirren uns als Betrachter*innen die Dinge, Bilder und Zeichen, die geschaffen wurden, um uns Orientierung zu geben. Trecartins Videos verweigern ihren Betrachter*innen durchgehend orientierende Binaritäten wie real-virtuell, männlich-weiblich, Selbst-Anderer und weitere Identifizierungen wie geografische, ethnische und soziale Herkunft der auftretenden Figuren. In diesem Zuge verlieren die ästhetischen Figuren der Videos eine stabile Identität. Oft wird eine Figur von mehreren Schauspieler*innen performt, noch häufiger spielt ein*e Schauspieler*in in einem Video mehrere Figuren unterschiedlichen Geschlechts oder sozialer Herkunft. Figuren können mehrfach im Bild erscheinen oder die physikalischen Gesetze von Zeit und Raum aufheben, sie können ihr Aussehen, ihre Gestiken und Mimiken, Stimmfarben, Sprechgeschwindigkeiten u. a. m. im Laufe eines Videos oder über mehrere Videos einer Serie hinweg ändern.
Dadurch erscheint es so, dass körperliche, habituelle und sprachliche Vermögen der Figuren von ihrer Herkunft abgetrennt sind, sobald sie als audiovisuelle digitale Daten in der welt-umspannenden Hypersphäre existieren: Nicht nur das Geschlecht hat sich vom biologischen Körper gelöst, auch bestimmte Verhaltensweisen und Gesten der Person haben sich von sozialer Herkunft und der Akzent von der geografischen Herkunft unabhängig gemacht. Und Trecartins Figuren können sie sich daher scheinbar leicht aneignen, sie wie eine Software oder eine App benutzen.
Halten wir zunächst fest: Die Identität von Personen, Tieren und Dingen scheint in Trecartins Videoarbeiten, in der Welt, die sie zur Darstellung bringen, sowohl als prekär, instabil als auch als extrem formbar und durch die in und mit den digital-vernetzten Medien handelnden Subjekten nach Belieben gestaltbar.
Ich folge hier Trecartins Technikoptimismus nicht, der im Bündnis mit queerer Theorie eine Gesellschaft von frei gestaltbaren, fließenden Identitäten entwirft, die sich in naher Zukunft nicht nur ihre Biografien und ihr soziales Geschlecht, sondern auch ihre Körper mittels digitaler Technologien und den Konsumgegenständen einer Hyperkulturindustrie (Stiegler) werden formen können.5
Es lässt sich aber mit Bezug auf Deleuze/Guattari (1997) sagen, dass Trecartins Videos eine strukturell schizoide Subjektivität inszenieren. Dieses geteilte Subjekt existiert ohne stabile Identität, es ist daher nicht länger individuell, sondern dividuell. Das Dividuum ist zwar auch noch als Einzelnes erkennbar, aber nicht abgeschlossen, nicht ungeteilt, eben nicht individuiert in der Welt, sondern in mannigfaltige Bezüge, Teilhabe- und Teilungsprozesse verschiedenster Größenordnung mehr oder weniger bewusst verstrickt, die es wiederum unablässig informieren (auch im Sinne von In-Form-bringen) und subjektivieren. Es ist dementsprechend ständig im Werden, ergriffen und geformt in Beziehung zu anderen Menschen, Medientechnologien, kulturellen Praktiken, Dingen und Zuständen (vgl. Ott 2015, Raunig 2015).
Trecartins Videos ermöglichen es so, die bildenden Potenziale eines medientechnologischen Außen des Subjekts zu denken – darin liegt auch ihre bildungstheoretische Provokation. Bevor wir als Menschen wahrnehmen, denken, sprechen oder handeln, stehen wir heute immer schon in einem digitalen, audiovisuellen Bewusstseinsfeld der Bildproduktion, der Blickreflexion, der Sicht- und Hörbarkeit. Die Bildproduktion dieses audiovisuellen Dispositivs funktioniert als große weltumspannende digitale Maschine, für die Unterscheidungen zwischen innen und außen, real und virtuell sowie geografische, nationale wie kulturelle Grenzen keinen Sinn mehr machen und an deren Funktionieren man als Mensch begehrend teilhat, indem man ihre Bewegungen mitvollzieht.
Mit anderen Worten: Die Erfahrung von Trecartins Videoarbeiten erlaubt den bildungstheoretisch interessierten Betrachter*innen, Subjekte nicht länger als das intentionale Zentrum ihrer handelnd erschlossenen Welt zu denken; darüberhinaus legen sie nahe, das Subjekt unterhalb der sprachlich-diskursiven Subjektkonstruktionen als singuläres, spezifisch montiertes (aus heterogenen Elementen zusammengesetztes) audiovisuelles Bewegungsbild zu verstehen, das sich wiederum auf besondere Weise auf alle anderen audiovisuellen Bewegungsbilder um es herum bezieht. Ich habe diese Subjektivität im Anschluss an Gilles Deleuze an anderer Stelle als kinematografische Subjektivität bezeichnet (vgl. Zahn 2012, 2015). Das kinematografische Subjekt erscheint an den Schnittstellen einer Bewegung von Bildern und Tönen; es muss dementsprechend als Montage, sowohl von ständigen Bewegungen und damit Abweichungen und Veränderungen, als auch einer energieaufwendigen Herstellung von Kontinuität und Identität gedacht werden.
Zugespitzt lautet meine bildungstheoretische These: In und mit Trecartins Videos wird etwas wahrnehmbar und denkbar, was generell für Bildungsprozesse in der gegenwärtigen Medienkultur gilt. Wir verbinden uns mit Bildern, Tönen, Texten und Daten oder mit Teilen derselben (Samples), die unsere Aufmerksamkeit erregt haben und uns in Erinnerung geblieben sind, „schneiden“, „montieren“ sie und geben sie neu aus. Wir verändern diese audiovisuellen Bilder in unserer Vorstellung und Erinnerung und sie verändern uns, die Art, wie wir uns sehen, uns in Bezug auf andere(s) sehen und wie andere uns sehen sollen.
Wie aber könnte ein bildungstheoretisches Denken aussehen, das es wagt, sich in die Nähe einer solchen montierten, filmischen Bewegung zu bringen? Und wie müsste sich zugleich die Konzeption von „Bildung“ verändern, um kinematografische Subjektivierungsprozesse im Dispositiv vernetzter Digitalität der aktuellen Medienkultur beschreiben zu können?
Ich kann zuletzt nur eine mögliche Antwortrichtung auf die gestellten Fragen andeuten. Ich teile Norbert Rickens (2015) Diagnose, dass „Bildung“, obwohl in aller Munde und als machtvolles Dispositiv und Subjektivierungsform im Kontext der westlichen „Wissensgesellschaften“ immer noch sehr wirksam, als ein historisch gewordenes „Selbstdeutungsmuster“ in der gegenwärtigen Medienkultur an Plausibilität verliert – zumindest in der Form des klassischen Subjektparadigmas, in dem es um Selbstverwirklichung ging, die sich (auch) gegen Normalität und auch Normativität richtete. Diese wird in der gegenwärtigen neoliberalen Kontrollgesellschaft (Deleuze) mehr und mehr durch ein Paradigma der Funktionalität, Passung und Anschlussfähigkeit (vgl. Ricken 2015: 51ff.) abgelöst, wobei sich auch das Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung verändert. Das bedeutet, dass es in der funktionalistisch ausgerichteten Subjektivierungsformation selbstverständlich auch einen Selbstbezug der Subjekte gibt, aber dass die subjektiven Welt- und Selbstverhältnisse sich anders ausrichten und organisieren. Mit anderen Worten: die im klassischen Bildungsbegriff figurierten Oppositionen von freier Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Fremdbestimmung, von freier Subjektivität und ihrer Überformung durch beispielsweise das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling) reichen zur Beobachtung und Beschreibung der sich gegenwärtig vollziehenden, komplexen empirischen Subjektivierungsprozesse nicht nur nicht mehr aus – sie verkennen zudem, dass jede Subjektivität in je spezifisch historischen, soziokulturellen Subjektivierungsformen produziert wurde und wird.
Um also die komplexen Zusammenhänge zwischen technischen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen, sich ausbildender Subjektivierungsformen sowie deren Effekte auf die Modi menschlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen, Fühlen und Denken zu untersuchen, scheint es mir vielversprechend, an jüngere medienwissenschaftliche Forschungen zur Medienästhetik samt ihrem ästhetischen Paradigma der Subjektivitätsforschung anzuschließen (vgl. z. B. Hörl 2011, Hörl/Hansen 2013). Sie fokussieren eine andere als die klassische Subjektivität, es geht ihnen vielmehr um eine Kartografie von „transpersonalen, nicht-subjektivistischen, präkognitiven und präperzeptiven Gefügen menschlicher und nicht-menschlicher Akteure“ (Hörl/Hansen 2013: 11), die eine Subjektivität produzieren, die nicht länger mit der Vorstellung eines autonom wahrnehmenden und urteilenden Subjekts in Deckung zu bringen ist, sondern eben auch technologisch präfiguriert und miterzeugt wird. Diese Karten, die „zum Verständnis der zeitgenössischen Subjektivitätsanordnungen und Individuationsprozesse zu zeichnen wären“ (ebd.), sind in Form medienästhetischer Einzelanalysen anzufertigen. Dabei gilt es, wie Stephan Münte-Goussar (2015) am Beispiel von Portfolios überzeugend argumentiert, in subjektvierungstheoretischer und dispositivanalytischer Perspektive die widerständigen Potenziale der Foucault’schen „Selbsttechniken“ (gegen die „Regierungstechniken“) im Ensemble mit Wissensformationen und Techniken der Macht eines Dispositivs systematisch herauszuarbeiten.6
Abb. 1-4: Videostill aus Trecartin, Ryan: Ready (Re‘Search Wait‘S), 2009-2010 (HD video, 26:49 min); mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.
1 Das Interview mit Marisa Olson ist unter folgender URL nachzulesen: http://we-make-money-not-art.com/how_does_one_become_marisa/
2 Trecartins Videos sind größtenteils auf Onlinevideoplattformen wie vimeo und YouTube zu finden. Ready ist in guter Qualität und in voller Länge auf vimeo zu sehen: https://vimeo.com/24968781.
3 Zentralperspektive, zweiwertige Logik und die lineare Erzählung sind als symbolische Formen zwar noch existent, aber verlieren an gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung.
4 Seine Movies unterscheiden sich dabei von anderen künstlerischen Arbeiten im Medium des Films, die die Fülle der digitalen Informationen aus dem www in bekannte Formen zwingen, um sie zu harmonisieren und zu zähmen, so wie beispielsweise das YouTube-Projekt Life in a day, das die räumlich, zeitlich und kulturell heterogen Videodaten der YouTube-User auf das Format des Kinofilms zusammenschnitt.
5 Vgl. dazu Trecatins Arbeit Ryan’s Web 1.0. An inside gaze into the inspirations for Ryan Trecartin’s W Magazine spread, DIS Magazine, Online: http://dismagazine.com/dysmorphia/9844/ryan-trecartin-w-magazine/
6 Ein erster tentativer Versuch einer solchen medienästhetischen Kartierung habe ich am Beispiel von Onlinevideoplattformen des social web an anderer Stelle vorgelegt (vgl. Zahn 2014).
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1997): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve.
Everts, Lotte/Lang, Johannes/Lüthy, Michael/Schieder, Bernhard (Hrsg.) (2015): Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation. Bielefeld: Transcript.
Heiser, Jörg (2015): Post-Internet-Art. Die Kunst der digitalen Eingeborenen, Deutschlandfunk, Reihe NetzKultur! (2/5). Online: http://www.deutschlandfunk.de/post-internet-art-die-kunst-der-digitalen-eingeborenen.1184.de.html?dram:article_id=304141 [28.12.15].
Hörl, Erich (Hrsg.) (2011): Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Hörl, Erich/Hansen, Mark B. (Hrsg.) (2013): Medienästhetik. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft (ZfM), 8. Jg., Heft 1. Zürich: Diaphanes.
Manovich, Lev (2001): The Language of New Media. Cambridge, Mass.: MIT Press.
McHugh, Gene (2011): Post Internet. Brescia: LINK Editions.
Münte-Goussar, Stephan (2015): Dispositiv – Technologien des Selbst – Portfolio. In: Othmer, J./Weich, A. (Hrsg.): Medien – Bildung – Dispositive. Beiträge zu einer interdisziplinären Medienbildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 109-128.
Olson, Marisa (2011): Postinternet. Art after the Internet. In: Foam Magazine, Nr. 29, Winter 2011/2012, S. 59-63.
Othmer, Julius/Weich, Andreas (Hrsg.) (2015): Medien – Bildung – Dispositive. Beiträge zu einer interdisziplinären Medienbildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS.
Ott, Michaela (2014): Dividuationen. Theorien der Teilhabe. Berlin: b_books.
Raunig, G. (2015): Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Bd. 1, Wien: transversal texts.
Ricken, Norbert (2015): Bildung als Dispositiv – Bemerkungen zur (Macht-)Logik eines Subjektivierungsmusters. In: Othmer, Julius/Weich, Andreas (Hrsg.): Medien – Bildung – Dispositive. Beiträge zu einer interdisziplinären Medienbildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 41-58.
Zahn, Manuel (2012): Ästhetische Film-Bildung. Studien zur Medialität und Materialität filmischer Bildungsprozesse (Theorie bilden). Bielefeld: Transcript.
Zahn, Manuel (2014): Everything is a [material for a] Remix. Ästhetische Dispositive der aktuellen Medienkultur und ihr Bildungspotential am Beispiel von Online-Videoremixen. In: Kammerl, Rudolf/Unger, Alexander/Grell, Petra/Hug, Theo (Hrsg.): Jahrbuch Medienpädagogik 11. Diskursive und produktive Praktiken in der digitalen Kultur. Wiesbaden: Springer VS, S. 57-74.
Zahn, Manuel (2015): Das Subjekt des Kinos. In: Jörissen, Benjamin/Meyer, Torsten (Hrsg.): Subjekt Medium Bildung (Medienbildung und Gesellschaft 28). Wiesbaden: Springer VS, S. 77-92.
Ryan Trecartin, Ready (Re‘Search Wait‘S), 2009-2010 (HD video, 26:49 min); Image courtesy the artist and Elizabeth Dee, New York.
Ryan Trecartin, CENTER JENNY, 2013 (HD video, 53:15 min).