Die seit einigen Jahren zu verzeichnende Rückkehr religiöser bzw. pseudoreligiöser Diskurse hat durch die aktuellen Ereignisse in Paris, Kopenhagen, Dresden etc. noch einmal an Brisanz gewonnen. Der Text macht einen Anfang, die Auseinandersetzung mit religiösen bzw. pseudoreligiösen Bildern und Weltbildern in der Kunst-/Bild-/Medienpädagogik zu diskutieren. Er plädiert für die Inblicknahme vor allem jener religiös aufgeladener, allgegenwärtiger Bilder im Alltag, die so zahlreich wiederholt werden, dass sie mehr oder weniger unbemerkt in unsere Vorstellungswelt eindringen, nichtsdestotrotz aber unsere Weltanschauungen und Wertvorstellungen sowie ethische Argumentations- und Handlungsmuster prägen. Um eine sensible und respektvolle, aber kritisch differenzierende Herangehensweise an das konfliktgeladene Thema zu ermöglichen, gibt der Text zunächst eine ausführliche Einführung in die christliche Ikonographiegeschichte und zeigt die radikale Differenz visueller und religiöser Verweisstrukturen auf. Im zweiten Teil der Abhandlung geht es um die daraus zu ziehenden Konsequenzen für eine Auseinandersetzung mit religiösen Bildsignaturen in der Kunst-/Bild-/Medienpädagogik. Dazu wird zunächst das Konzept „Kultur des Verhaltens zur Kontingenz“ herausgearbeitet, das für geeignet gehalten wird, eine Brücke zwischen den religiösen und bildlichen Symbolsystemen zu bauen. Abschließend geht es um die Bestimmungs- und Erhebungsmöglichkeiten möglicher Wissens- und Sinnbildungsprozesse bei der Auseinandersetzung mit religiös konnotierten Bildern.
Nicht erst seit Charlie Hebdo, Kopenhagen, Pegida & Co. ist das Religiöse in westlichen Gesellschaften wieder ein Thema. Ein Bewusstseinswandel allem Religiösen gegenüber lässt sich spätestens seit Jürgen Habermas’ Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2001 feststellen. Seither kolonialisieren Fragen des Glaubens den öffentlichen Raum und das Bekenntnis zum Atheismus scheint nahezu passé. Beispielhaft sei hier nur die 634 Seiten schwere Streitschrift für das Christentum von Emmanuel Carrère („Le Royaume“, Paris 2014) genannt, die selbst im radikal laizistischen Frankreich zurzeit die Gazetten füllt. Die Rede ist von einem „Triumph“, „Siegeszug“ und „Megatrend“ (Polak 2002) des Religiösen. Der Säkularismus wird zum modernen Mythos erklärt, dem Religiösen in jeglicher Gestalt wird Geltung, Trost und Gewissheit zugesprochen.
„Religion kehrt zurück – aber als Religion?“ (Höhn 2007: 5) Sie feiert ihr Revival als eine Art religiöse Gemengelage, wozu die unverbindliche Spiritualität, freie Naturreligion und therapeutische Esoterik ohne klare konfessionelle Verortung ebenso gehört wie der missionarische Eifer und radikale Fundamentalismus nach strengen Grundsätzen des Glaubens. Eine Repolitisierung ist festzustellen, wenn im Namen der Rettung des christlichen Abendlands individuelle wie gesellschaftspolitische Werte- und Identitätsdiskurse, Einstellungen zu Lebensführung und Moral und der Einsatz von Terror, Gewalt und Krieg mit Hinweisen auf die Religion bzw. das jeweilige religiöse Erbe gerechtfertigt werden. Eindringlich wird ein religiös motivierter Kulturkrieg mit dem Namen „Clash of Civilizations“ (Huntington 1996) beschworen wird, der einen bedrohlichen Konflikt zwischen dem angeblich aufgeklärten Christentum und eines vermeintlich rückständigen Islam ausmacht – gerade so, als wären Demokratie und Zivilgesellschaft allein dem Schoße der christlichen Religion entsprungen und nicht auch gegen es erkämpft worden. In der Konsequenz entstehen auf allen Seiten Formen des religiösen Fanatismus, welche die offene Gesellschaft zugunsten totalitärer Überzeugungen und Kontrollformen zur Disposition stellen.
Hinter dem Vormarsch des Religiösen im 21. Jahrhundert ist eine Mixtur politischer und persönlich-moralischer Faktoren auszumachen. Machtpolitische und wirtschaftliche Interessen unter dem Deckmantel des Religiösen sind eine wesentliche Triebfeder. Der Wunsch nach moralischer Selbstüberhöhung und stabilen Erklärungs-, Erlösungs- und Erlebnismodellen angesichts irrationaler Ängste eine andere. Religiöse Heils- und Erlösungsversprechen lassen hoffen, die Zumutungen der profanen Welt mit ihrem unterstellten wissenschaftlichen Entzauberungsprogramm, ihrem berechnenden Effektivitätswahn, ihrer ethischen Indifferenz, ihren Zumutungen an die Individualisierung und ihrer allumfassenden Kontingenz zu überwinden. Wie genau die religiöse Rituale als gesellschaftliche „Krisenmodulatoren“ (Riesebrodt 2000: 36) funktionieren, soll hier aber nicht zur Debatte stehen. Was hier zur Debatte steht, ist die Antwort der Kunst-/Bild-/Medienpädagogik auf die Bilder religiöser Diskurse in einer kulturell heterogener werdenden Gesellschaft.
Sensibel und respektvoll, aber kritisch differenzierend hat die Kunst-/Bild-/Medienpädagogik auf die mannigfachen Aspekte des historisch gewachsenen Umgangs mit Bildern einzugehen, die in Zeiten der „Dispersion von Religiosität“ (Polak 2002, S. 80) vor allem auch kirchenferne Bereiche betreffen. Das ist weder mit der tagesaktuellen Thematisierung von Satire und Cartoons noch mit der altbewährten Behandlung künstlerischer Darstellungen der religiösen Heilsgeschichte in Kirche und Museum allein getan – auch wenn die medien- und gesellschaftskritische Reflexion dieser Bilder enorm wichtig ist. Überfällig ist vor allem auch eine umfassende und nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Gebrauch und der Funktion religiös aufgeladener Bildsignaturen des Alltags, deren religiöse Konnotation trotz oder gerade wegen ihrer allgegenwärtigen Sichtbarkeit auf den ersten Blick nicht immer offensichtlich sein mag. Es sind jene vertrauten Bilder, die so zahlreich produziert und wiederholt werden, dass sie als informelle Sozialisationsinstanzen mühelos und unbemerkt in die Vorstellungswelt eindringen, nichtsdestoweniger aber Weltanschauungen und Wertvorstellungen sowie ethische Argumentations- und Handlungsmuster prägen. Dazu gehören die zahlreichen Filme, Werbebotschaften und Musikvideos, die z.T. auch ohne explizite religiöse Ausrichtung von christlichen Elementen wie Taufe, Kreuzigung, Auferstehung, Erlösung, Offenbarung etc. durchzogen sind (vgl. Pirner 2012: 158 ff.). Aber natürlich sind auch jene bewusst religiös aufgeladenen Bilder dazu zu zählen, die besonders eindringlich wirken, weil sie religiöse Diskurse auf das anschaulich Vorstellbare und aktuell Zeitgemäße reduzieren (vgl. Werbick 1998: 25) ohne eine Lücke für das im Grunde undarstellbare, überzeitliche Religiöse zu lassen. Mittel an die Hand zu bekommen, mit denen solche versteckten und offene religiösen „Idole“ (ebd.: 5) kritisch reflektiert werden, ist ohne Zweifel interessant und wichtig. Dringlich aber ist auch die Auseinandersetzung mit den vielen trivialen Codes und Zeichen des Alltags, die oft routine- oder reflexartig (vgl. exempl. Billmayer 2008: 72 ff.) mit vorfabrizierten Stereotypen des Religiösen aufgeladen werden. „Kulturelle Figurationen“ (Bräunlein 2009: 775) wie Bart, Kopftuch, Halbmond, Kalligraphie, Arabeske, selbst Kamele und Palmen evozieren nicht selten religiöse Deutungsmuster, die moralischen Klischees, politischen Propagandaparolen oder auch hysterischen Ängsten und Projektionen entspringen. Diese Bilder sind allgegenwärtig und produzieren eine visuelle „Logik“ (Hessler; Mersch 2009: 8 ff.), die oft vielmehr die Stigmatisierung und Diskriminierung von Feindbildern legitimiert als eine Differenzierung der Diskurse. In der Auseinandersetzung mit den Strukturen und Mechanismen deren visuellen Behauptungen ist zu fragen, ob und wie sie Religiöses zu erkennen geben und mit welchen Mitteln sie religiöse Bedeutungen, Erkenntnisse und Vorbehalte schaffen und stabilisieren. Solche beschreibende und systematische Erschließung bedeutet das Erleben und Reflektieren der Wirkungsweisen und des Gemachtseins von Bild und Weltbild. Es setzt voraus, dass ästhetische, religiöse bzw. pseudoreligiöse und politische Erfahrungen, Phantasien, Urteile und Handlungen nicht als unvereinbare Gegensätze betrachtet werden. Nur die Anerkenntnis ihrer Bezogenheit macht auch ihre Entkopplung möglich, um die Auseinandersetzung an der ästhetischen Logik des Scheins der Bilder auszurichten und die neuralgischen Punkte, Diskrepanzen, Übergänge und Verschiebungen visueller und religiöser bzw. pseudoreligiöser Bezugs- und Orientierungspunkte offenzulegen und zu durchkreuzen.
Erwartet werden kann an dieser Stelle keine abschließende Antwort auf den Umgang mit religiös aufgeladenen Bildsignaturen. Dazu ist das Thema zu komplex und bietet zu viele Reibungspunkte. Trotzdem sei hier mit einigen grundlegenden Darlegungen zur Geschichte des religiösen Gebrauchs von Bildern und den entsprechend möglichen Sinn- und Wissensbildungsprozessen im Unterricht ein Anfang gemacht. Die meisten Argumente müssen sich kenntnisgemäß leider auf die christliche Ikonografiegeschichte beschränken. Zukünftige Thematisierungen sollten auf einen intensiven Dialog der Religionen ausgerichtet sein, der die Überwindung der Spaltungen anstrebt. Das beginnt mit dem Verstehen des Eigenen und Anderen, geht über das Wissen um seine Werte und Normen und endet noch lange nicht bei der Widerlegung des ideologischen Missbrauchs religiös aufgeladener Zeichen. Letztendlich geht es um die Freiheit und Verantwortung des Religiösen wie des Bildlichen.
Das Religiöse (lat. religi: gewissenhafte Berücksichtigung, Sorgfalt, relegere: bedenken, achtgeben) äußert sich in der Bezugnahme auf das so genannte Transzendente, Numinose, Göttliche, Heilige, Spirituelle, Unendliche, Jenseitige, Geistige, Universale etc. Solche Phänomene sind metaphysisch, d.h. sie liegen außerhalb der Grenzen der sinnlichen Erfahrung. Religiosität ist daher immer mit entsprechenden Signaturen verbunden, die sie repräsentieren. Ohne sie bliebe sie wort-, bild-, ort- und gestaltlos. Neben Ritus, Schrift, Wort und Klang ist die Bildlichkeit ein bedeutender Platzhalter des Religiösen, ob in Form eines handwerklich hergestellten Gegenstands, eines autonomen Kunstwerks oder einer Vorstellungsform in einem weiten Sinne.(2) Solche Bildsignaturen geben dem nicht-sichtbaren, nicht-begr(e)if(f)lichen Religiösen eine sichtbare „Ordnung des Zeigens“ (Boehm 2004: 29). Die bleibt aufgrund ihres ästhetischen Charakters zwar unscharf, helfen aber, Fragen von Identität und Zugehörigkeit, Sinn und Zweck, Werten und Verbindlichkeiten im Namen der Religion zu entwickeln und zu gestalten. Je nach religiöser Programmatik können sie zum individuellen oder kollektiven Orientierungsmaßstab, Paradigma, Dogma, Kult- und Beweismittel erhoben werden.
Konflikte um Gebrauch, Funktion und Macht von Bildern, die das an sich nichtsagbare und nichtdarstellbare Religiöse vorstellbar machen, sind ein zentrales Thema aller drei großen monotheistischen Religionen, des Judentums ebenso wie seiner Tochterreligionen Islam und Christentum. Sie äußern sich in Bilderzurückhaltung, Bilderlosigkeit, Bilderverboten und Bilderstürmen ebenso wie die Bilderfreude, Bilderverehrung und Bilderanbetung. (Schwebel 2002, 27 ff.) Bei den Juden und Christen findet sich das Verbot, Gott und in der Folge auch alles Göttliche darzustellen u.a. in der erbarmungslosen Formel der hebräischen Bibel bzw. dem Alten Testament, auf das sich Juden und Christen gleichermaßen berufen und auch Muslime als gültiges „Offenbarungszeugnis Allahs“ (Scherer: 267) anerkennen: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld“ (2. Mose 20, 2-6). Zwar übermittelt der Koran den Moslems kein derartiges Verbot, doch die Berufung auf verschiedene Äußerungen des Propheten Mohammed und Suren des Korans wie z.B. „Er ist Gott, der Schöpfer, der Bildner, der Gestalter“, haben ähnliche Konsequenzen. Gemäß der Gleichsetzung der Worte ‚erschaffen‘ und ‚bilden‘ kommt allein Gott die Schöpferrolle zu. Streng ausgelegt bedeutet das auch ein Abbildungsverbot. Radikale Kreise lehnen nicht nur Propheten- und Gottesdarstellungen, sondern auch Mensch-und Tierabbildungen ab. Zumindest in den Moscheebauten sowie in den Koranhandschriften sind sie daher nicht anzutreffen. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass das Bilderverbot einen Grundpfeiler des Islams bildet, sind aber in alten Palästen und auch in profanen, privaten wie öffentliche Räumen seit dem 19. Jahrhundert figürliche Bilder aller Art bis hin zu Bildern des Propheten zumeist selbstverständlich. Auch die jüdische Religion war und ist nicht generell bildfeindlich. Antike Synagogen tragen einen beachtlichen Bildschmuck, der Tier- wie Menschendarstellungen erkennen lässt,und auch die Illustration religiöser Texte ist bekannt (vgl. Uehlinger 1998: 1576).
Bilderverehrung und Bilderkult
Obwohl religiöse Bildprogramme in allen monotheistischen Kulturen anzutreffen sind, ist die Bildproduktion christlicher Motive trotz des alttestamentarischen Bilderverbots vergleichsweise groß. Zwar war das frühe Christentum – aufgrund des mosaischen Verbots, aber wohl auch als Gegenreaktion auf den antiken Bildkult in Verbindung mit einer gewissen Heimat- und Bedürfnislosigkeit der ersten Christen (vgl. Schwebel 2002: 27) – noch bilderlos. In weiten Teilen der Westkirche wurde das Verlangen nach einer kommunikativen Nähe zu einem Gott durch eine auf Bilder ausgerichteten Frömmigkeit theologisch aber nicht nur toleriert, sondern auch argumentativ legitimiert, kontrolliert und in den Dienst des Machterhalts genommen. Die ersten Christus-, Marien- und Heiligenbilder dienten der Erinnerung an eine tote Person und an die Heilsgeschichte. Die Rechtfertiger beriefen sich,insbesondere auf die Funktion Gedankenkonstruktion Johannes von Damaskus (um 650 – 754). Jener legitimierte den Bildgebrauch damit, dass in Christusbildern die Nähe des unsichtbaren Gottes leibhaftig würde. Denn, so seine Argumentation, mit der Fleischwerdung Christi habe Gott der Welt seine Wesenheit und sein Bild gegeben (Burrichter; Gärtner 1014: 84 ff.). Diese Gestalt sei darum auch abbildbar. Diese Idee rechtfertigte die Annahme der körperlich-substantielle Anwesenheit des unsichtbaren Urbildes in porträtgenauen Darstellungen, also die Gleichsetzung von Bild und Abbild, was die Schriftkulturen noch zu verhindern versucht hatten. Und sie wurde zum Ausgangspunkt einer Bildlichkeit, bei der die lebendige Nähe und Wirksamkeit von etwas Heiligem im Abbild angenommen wurde (vgl. Belting 2005: 24).
Beispielhaft kommt solcher Bilderkult in der Verehrung der „vera ikon“ zum Ausdruck. Verschiedene Schweißtücher, als hochheilige Reliquien verehrt, verewigen, so der Glaube, das „wahre“ Antlitz Christi. Gemäß verschiedener Legenden handelt sich um nicht von Menschenhand gemachte Bilder, die als materialisierten Gegenwärtigkeit des menschengewordenen Sohnes Gottes verehrt und angebetet werden. Eine besondere göttliche Kraft, bezeugen aber auch solche „authentischen“ Bilder, die aus der Hand von unanfechtbaren Zeugen heiliger Geschehnisse stammen. Zahllose Muttergottes-Tafeln sind dem Evangelisten Lukas zugeschrieben worden, der sie Legenden zufolge sogar mit Hilfe eines Engels oder der Jungfrau Maria selbst angefertigt haben soll. Der Echtheitsbeweis gilt auch für schematisch kopierte Repliken von Christus- und Heiligenbildern, wenn eine künstlerische Porträtgenauigkeit des Gesichtes des jeweiligen Urbildes behauptet wird (vgl. Schwebel 2002: 8)(3)
Im Gegensatz zur Ostkirche, für die nur ein festgelegter Typ der Christusikone das einzig wahre Gottesbild sein kann, erfuhren innerhalb der Westkirche auch jene Bildnisse eine Verehrung, die mit anderen Mitteln als der Urbildähnlichkeit auf das Göttliche verweisen. So wurde gerade auch über die anaturalistischen Bildnisse des Mittelalters mit ihrer Perspektiv- und Körperlosigkeit behauptet, dass das Göttliche und Heilige zur Anwesenheit brächten, weil es ja nicht von dieser Welt sei. Eindrückliche Augen, expressive Gesten, leuchtende Gewänder und Goldgrund würden das ins Bild eindringende Göttliche gerade dadurch bezeugen, dass sie Zeit und Ort negierten. Auch hier wird der Wahrheitsgehalt angenommen und mit dem Glauben an die Übertragbarkeit heiliger Kräfte bzw. die Erinnerung an die Wahrheit religiöser Fakten begründet (vgl. Hoeps 2012). Derart göttlich aufgeladen, können Bilder weinen und bluten, heilkräftige Substanzen ausschwitzen oder Feinde und Geister abschrecken. Gläubige bezeugen bis heute deren göttliche Präsenz durch Niederwerfen Niederknien, Küssen, Anzünden von Kerzen und Weihrauch und ehren die leibhaftigen Bildzeugnisse des Glaubens mit Nahrungsmitteln, Waschungen und dem Einkleiden in kostbare Gewänder mit Verzierungen und Geschmeiden. Solche Ehrerweisungen vor Kult-, Wunder- und Ablassbildern entsprechen den Mustern des Herrscherzeremoniells. Sie wurden teilweise unter Strafandrohung durchgesetzt, weil Verweigerer, so die Drohung, die Inkarnation und damit die Liebe Gottes verleugnen würden (vgl. Schwebel 2002: 31).
Im Laufe der westlichen Ikonographiegeschichte wurde das Verhältnis von Dargestelltem und Darstellung nicht mehr als Gleichsetzung zwischen religiösem Bild und religiöser Wahrheit aufgefasst. Vor allem seit Theodor W. Adornos tiefem Misstrauen gegen versöhnliche und vollkommene Bilder ist der Anspruch an eine „starke Ästhetik“ (Nordhofen 1993: 18) des Religiösen durch die „Negativitätsästhetik“ des Brüchigen und Fragmentarischen geprägt (vgl. Adorno 1970: 282 ff.). Mehr noch, die Bilderfeindlichkeit des Protestantismus hat nach dem zweiten Vatikanischen Konzil auch die katholische Ästhetik ergriffen. Die Vermeidung von Bildern in spröden Sakralräumen, die über Brot-für-die-Welt-Plakate oder Kinderzeichnungen hinausgehen, legt Zeugnis davon ab. Andererseits hat sich, wie Hans Belting ausführt, ein gewisser „Anachronismus des Bilderkults“ (Belting 1990: 539) im Laufe der Kirchen- und Kunstgeschichte verstetigt. Die Lobrede des Theologen Paul Tillich auf das „große protestantische Kunstwerk“ (Tillich 1959: 80) Guernica ist nur ein Beispiel. Besonders auch in abstrakten Bildern ohne eine verbindlich-christliche Ikonographie klingt das „Echo der Religion“ (Belting 1998: 10) nach. In weniger traditionsvermittelten Religionszusammenhängen tragen sie zur Reflexion des Religiösen bei, ohne zwingend mit einer personalen Gottesvorstellung einherzugehen. So behauptet Marc Rothko, dass vor seinen Bildern „Tragik, Ekstase, Verhängnis usw.“ (zit. nach Schwebel 2003: o.S.) ganz ohne religiöses Bezugssystem religiös empfunden werden. Die Nichtfestlegbarkeit dessen, was eigentlich religiös ist, führt dazu, dass auch ‚ganz andere‘ Erfahrungen intensiver Tiefe und existenzieller Durchbrüche als Religion benannt werden. Christen, die nach konkreten Bezügen suchen, lehnen solchen „bildimmanenten Ikonoklasmus“ als antichristliche „Bricolage-Religiosität“ (Burrichter; Gärtner 2014: 164 ff.) ab. Das zeigen nicht allein die Auseinandersetzungen um Gerhard Richters Domfenster im Kölner Dom (vgl. dazu Ullrich 2011: 15 ff.). Das Risiko einer Auflösung religiöser Überlieferungen in „narkotischen Dunst“, beschreibt schon Basilius von Ramdohr 1809 über Caspar David Friedrichs „Tetschener Altar“ in einer heftigen Kritik (von Ramdohr 1974: 148 ff.). Ob diese religiös genannte Bilderfahrung tatsächlich als Ausdruck eines „Synkretismus“ (Burrichter; Gärtner 2014: 164 ff.) oder gar einer „neumodischen Verwahrlosung“ (Lewitscharow 2012, o.S.) der Religionen abzulehnen ist oder nicht, soll hier nicht beantwortet werden. In jedem Fall scheint ein „im Christentum vernachlässigter Aspekt“ (Schwebel 2003, o.S.) einen Ausdruck zu finden, etwas, das Friedrich Schleiermacher das Einswerden mit dem Unendlichen im Endlichen genannt hat (Ringleben 2000: 431). Solches stellt aber auch für Nichtchristen in dem Moment ein Problem dar, in dem der Bildgenuss selbst zu einer Art Religionspraxis erklärt wird. So sakralisierte z.B. Johann Wolfgang von Goethe die Dresdner Schlossgalerie mit den Worten: „Dieser in sich selbst wiederkehrende Saal, in welchem Pracht und Reinlichkeit bei der größten Stille herrschten, die blendenden Rahmen, alle der Zeit noch näher, in der sie vergoldet wurden, der gebohnerte Fußboden, die mehr von Schauenden betretenen als von Arbeitenden benutzten Räume gaben mir ein Gefühl der Feierlichkeit, einzig in seiner Art, das umso mehr der Empfindung ähnelte, womit man ein Gotteshaus betritt, als der Schmuck so manchen Tempels, der Gegenstand so mancher Anbetung hier abermals, nur zu heiligen Kunstzwecken aufgestellt schien“ (zit. nach Grasskamp 1981: 39). Hier wird eine Nähe von Bild und Religion angedeutet, die in der Romantik in Erlösungsvorstellungen durch ästhetischen Genuss gipfelte. In Mel Gibsons Überwältigungskino dagegen wird in einer fast ununterbrochene Kette von Nahaufnahmen des leidenden Christi wieder die Unvorstellbarkeit der Erlösung ganz elementar und direkt vorstellbar macht. In seinem Film „The Passsion of Christ“ feiert ein Kult des Bildes fröhliche Urständ, das wie die barocken Werbebilder auf die überschwängliche Inszenierung einer gesteigerten Aura zur allsinnlichen Erfassung des Göttlichen baut (Gruber 2005: 1). Fast sind wir wieder bereit, dem Religiösen in diesen Bildern eines zeitgenössischen Christusidols zu glauben, weil wir, wie Hans Belting schreibt, eigentlich niemals aufgehört haben, an Bilder zu glauben (vgl. Belting 2001: 16).
Bilderskepsis und Bilderverbot
Formen des Bilderkults wurden im Laufe der christlichen Bildergeschichte immer wieder bekämpft. Karolingische Theologen, frühe Angehörige der Byzantinischen Kirche, die spätmittelalterlichen Reformprediger und die Humanisten und Reformatoren wollten allein Schrift und Wort gelten lassen. Mit ihrer Verweigerung der Verähnlichung versuchten sie vor allem die Einzigkeit Gottes zu sichern, über die kein Mensch Macht zu gewinnen suchen sollte. Wiederkehrend wird behauptet, dass sie die Macht der Bilder damit nur bestätigen. Ikonoklasmus sei Idolatrie unter umgekehrten Vorzeichen. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Ein differenzierter Blick erhellt aber auch die machtpolitischen Dimensionen der Bilderstreitigkeiten. So wandten sich die einen u.a. auch deshalb gegen den körperlichen Bilderkult, um eine Verbindung zu jüdischen und islamischen Verbündeten nicht zu gefährden, und die anderen wollten sich mittels einer intellektuellen Religionsausübung vor allem vom kirchlichen Machtmissbrauch emanzipieren.
Sowohl gegen diese Ikonoklasten wie auch gegen die Abgötterei bzw. kirchliche Instrumentalisierung der Bilder gerichtet, verteidigten Theologen wie Gregor der Große (540 – 604) oder später auch Martin Luther (1483 – 1564) die katechetische Bedeutung der Bilder als Vermittler bzw. Werbeträger des Glaubens. Gar nicht die repräsentativen Altar- und Wandbilder, sondern vor allem auch die zahlreichen Andachtsbilder, Bilderbögen, Gebetszettel, Merkbilder, Votivbilder, Gnadenbilder wurden so zahlreich hergestellt, dass sie ganze Generationen geprägt haben. Sie alle zielen auf das mitfühlende Verstehen, das seit dem Mittelalter die „memoria“ sowie die „compassio“ umfasst, also erinnernde Betrachtung und Versenkung (Mertens Fleury 2006: 13 ff.). Aufgrund des Zutrauens in Bilder, Verstand, Gedächtnis und Gefühl mit Bildern simultan anzusprechen, gibt es im schulischen Religionsunterricht und in der Gemeindearbeit bis heute wenige Bedenken, sie in den pädagogischen Dienst zu nehmen (vgl. Hoeps 2012, o.S.). Ohne Funktion und Wirkung groß zu überlegen geht man davon aus, dass sie die verkopften, schwer zu vermittelnden Inhalte religiöser Diskurse interessanter und attraktiver machen und die Leute bei der Stange halten (vgl. Gärtner 2015, o.S.). Besonders die Bilder der Kunst haben den Ruf, Besonderes und Nützliches „zur Individualisierung, Versittlichung, Befreiung, Harmonisierung oder Emanzipation des Menschen und der ganzen Gesellschaft“ (Ehrenspeck 1998: 292) zu sagen zu haben.
Aber auch eine intellektuell reflektierte Rechtfertigung von Bildern zur Thematisierung religiöser Fragen oder eines bestimmten Glaubensverständnisses ist nicht unproblematisch. So sollen Bilder z.B. im Habermas’schen Sinne als „rettende Dekonstruktion“ (Habermas 2001: 29) zur kritischen Neuausrichtung religiöser Fragen und Themen im „Zeitalter des Postsäkulären“ (Henke; Spalinger 2012: 18) herhalten. Aus theologischer Sicht mag es richtig sein, Bilder als eine Art Schaltstelle zur Vermittlung und Reflexion theologischen Wissens zu betrachten, die zur Entwicklung eines eigenen Bezugs zu zentralen theologischen Fragestellungen beitragen. Von Seiten der Kunstwissenschaften ist aber darauf hinzuweisen, dass die theologische Fremdbestimmung das ästhetische Potenzial von Bildern unterdrücken kann, das alle außerästhetische Erfahrung, Zuschreibung und Kontextualisierung zu überschreiten und verwandeln vermag.
Bilder und Religionen haben einen gemeinsamen Gegenstand: die unverfügbare Wirklichkeit. Beide antworten, wie Aby Warburg es ausdrückt, auf die „rätselhaften, unfassbaren Energien der Welt“ und erlauben dadurch eine „Distanzierung von einer universalen Urangst“ (zit. nach Böhme 1997: 136). Sie überführen also die Unbestimmbarkeit der Welt in ein Bestimmtes – und zwar, wie Georg Simmel hervorhebt, anders als die empirischen oder berechnenden Konstruktionen mittels expressiver Symbolformen (vgl. Faber; Krech 2001: 9 f.). Jene haben affektiv-spirituell-ästhetische Dimensionen und bringen dadurch ihren „Gegenstand in eine Distanz, weit jenseits aller unmittelbaren Wirklichkeit […] – um ihn uns ganz nahe zu bringen, näher als je eine unmittelbare Wirklichkeit ihn uns bringen kann“ (Simmel 1993: 127).
Die Versuchung ist groß, eine unauflösbare Nähe, vielleicht sogar ein „charmantes Bezauberungsverhältnis“ (Schüz; Erne 2011: Klappentext) zwischen religiösen und ästhetischen Systemen anzunehmen. Eine Gleichsetzung der beiden Sphären verkennt aber, dass sie im Grunde „nichts miteinander zu tun [haben], ja sie können sich in ihrer Vollendung sozusagen nicht berühren, nicht ineinander übergreifen, weil eine jede schon für sich, in ihrer besonderen Sprache, das ganze Sein ausdrückt“ (Simmel 1993: 129) Religion und Bild sind verschiedene Sprachen! Nelson Goodman spricht von verschiedenen „Weisen der Welterzeugung“ (Goodman 1990) andere von unterschiedlichen Systemen, Sinnfeldern, Konstruktionen, Phantasien oder Antworten. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass es so etwas wie die eine Welt nicht gibt, deren Abbildung die Aufgabe der Erkenntnis – womöglich nur der wissenschaftlichen – wäre. Die Welt ist nur in symbolischer Vermittlung und niemals an sich zu haben. An die Stelle der einen Welt treten verschiedene, voneinander getrennte Sichtweisen die sich in unterschiedlichen Symbolsystemen mit ihren je eigenen medialen Bedingungen und Strukturen repräsentieren.
In welchem Verhältnis aber stehen Religions- und Bildsystem dann zueinander? Theoretisch sind sie als gleichberechtigte Teile der Kommunikation und Artikulation innerhalb einer umfassenden Erkenntniserzeugung über die Welt aufzufassen. Insofern sind beide autonom. Das meint nicht, dass ihnen eine ‚wahre’ Objektivität zu unterstellen wäre. Denn ein wie immer gearteter Wahrheitsanspruch ist ihnen ja gerade abzusprechen. Das Verhältnis von Religiosität und Bildlichkeit ist allerdings nicht symmetrisch. Dies anzunehmen würde auf beiden Seiten symbolische Verweisstrukturen voraussetzen, die in Bezug auf die Deutung ihres Gegenstands offen bleiben. In Hinsicht auf die Bilder kann das vorausgesetzt werden (Rebentisch 2006, o.J.). Indem sie den Verweis auf die Scheinhaftigkeit ihrer symbolisierten Gegenstände in sich tragen, kann ihre Ästhetik unabhängig von irgendeinem außerästhetischen Inhalt eine autonome Logik entwickeln. Sie zwingt uns, „einen Sinn anzuerkennen, der den außerästhetischen Dingen nicht ähnelt, für den keine literarische Vorformulierung existiert, der sich in kein präexistentes System von Konventionen der Erfahrung einbettet“ (Gadamer; Boehm 1978: 446). „Einen tiefen Sinn“, so Georg Friedrich Wilhelm Hegel, „können derartige Gegenstände nicht befriedigen; […] Was uns reizen soll, ist […] das in Rücksicht auf den Gegenstand ganz interesselose Scheinen“ (Hegel 1986: 225 ff.) das, um mit der klassischen Feststellung Immanuel Kants zu argumentieren, das „freie Spiel der Erkenntniskräfte“ (Kant 1974: 9) anspricht. Der Künstler und Theologe Thomas Lehnerer hat das wunderbar ausgedrückt, wenn er schreibt: Bilder sind eine ausgezeichnete Methode, „Empfinden aus Freiheit“ erfahren zu können. Die ist „die vielleicht unbedingte Freude daran, dass etwas ohne Not und Grund – frei – sich bewegt, dass etwas lebendig ist in dieser Welt, einfach so“ (Lehnerer 1994: 176).
Solche Befreiung wird auch in manchen mystischen Religionspraxen angestrebt, und zwar in Zuständen unabhängig und jenseits aller Gefühle, Bedingungen und Gestaltungen. Im Loslassen von allen Anhaftungen an die Bedingungen des Seins wird der „Grund des Seins“, das „überseiende Nicht-Sein“, das „namenloses Nichts“ u.s.w. erfahren und die Verfügbarkeit alles außerhalb dieses Zustands Liegenden aufgegeben. Dabei bleiben auch Gott, Transzendenz, Spiritualität, Glaube und Liebe weiselos, formlos, namenlos, verborgen. Sie werden zu einem unbeschreibbaren, unsichtbaren und unteilbaren Prinzip, dessen Werte, Praktiken und Äußerungen auf einer undogmatischen, rein persönlichen Beziehung zu etwas Jenseitigen basieren. Aber selbst wenn die Religiosität in diesem Sinne als persönliche „Anschauung und Gefühl“ oder individuellen „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (Schleiermacher 1967: 53) beschrieben wird, wie es der Frühromantiker Friedrich Schleiermacher propagierte, entsteht meistens doch eine Bestimmung des Unbestimmten, sei es auch nur eine flüchtige Vorstellung des Unvorstellbaren. In diesem Moment ist dessen Autonomie durchbrochen. Institutionell gefasste Religionssysteme heben die Autonomie mittels eines „verbindlichen Repertoire[s] an Symbolen“ (Gerz 1987: 48) absichtlich auf. Zwar wissen sie zumeist um den unzureichenden Geltungsanspruch ihrer symbolischen Verweisstrukturen und reflektieren die moralisch-normative Ausprägung von Lehrmeinungen, Traditionen oder Wahrheitsansprüchen. Solange aber die Narrationen von ‚Gott’ oder ‚Offenbarung’ in Berufung auf außerreligiöse Autoritäten wie heilige Schriften oder absolute Wahrheiten eines Lehramts vorausgesetzt werden, werden sie in ihrer Autonomie und Freiheit beschnitten. Sinn und Bedeutung des Religiösen erhalten dadurch eine bindende Gültigkeit, die eine Bekenntnisentscheidung verlangt.
Wenn die prinzipielle Möglichkeit einer Befreiung der Religiosität von einer Bestimmung ihrer rituellen, sprachlichen, klanglichen und bildlichen Signaturen auch nicht angezweifelt werden soll, so muss sie in Bezug auf die meisten Religionspraxen relativiert werden. Bilder dagegen stellen aufgrund ihres ästhetischen Charakters ein autopoietisches Symbolsystem dar, das keiner außerästhetischen Bestimmung bedarf. Das Ästhetische verhält sich indifferent zu religiösen Denk- und Sinnverweisen.
Die Betrachtung bildlicher Darstellungen des Religiösen in Kirche und Museum ist in säkularen Gesellschaften eine freiwillige Sache. Religiös aufgeladenen Signaturen im Alltag dagegen ist kaum auszuweichen. Sie erscheinen in konfliktreichen Diskurszusammenhängen um Karikaturen, Cartoons und Satire, um Kopftücher, rituelle Orte, Beschneidungen, Ehrenmorde, homosexuelle Priester, Kreationisten, heilige Kriege etc. ebenso wie in friedvollen Debatten um Liebe, Reinheit, Treue und Unschuld, Gewaltlosigkeit etc.
Diese Reihe mit gefundenem Bildmaterial aus dem Internet mag didaktisch erscheinen, eignet sich aber gerade darum ganz besonders, die Differenz von Bild- und Religionssystem evident zu machen. In Anbetracht der Tatsache, dass dem Begriff Kopftuch zumindest hierzulande oft automatisch eine religiöse Bedeutung unterstellt wird, ermöglicht ihre Betrachtung das Aufbrechen konventioneller Analogiebildungen. Die konkret aufzufassende Symbolgestalt des Stückes Stoff zur Bedeckung des Kopfes und ihr religiöser Bedeutungsgehalt können entkoppelt werden, so dass die normierende Kraft konventioneller Ideologien und Klischees ans Licht geraten kann. Solches gelingt, wenn das Bildliche der eigentliche Inhalt der Auseinandersetzung ist und nicht der religiöse Gehalt. Dann wird deutlich, dass es religiöse Bilder oder Bilder Gottes nicht gibt, sondern nur Bilder des Menschen. Das Religiöse oder auch Göttliche wohnt nicht in den Symbolen selbst, sondern kann nur nachträglich von außen herangetragen werden, als eine Art des religiösen „Mit-Denkens“ (Mertin 2012: o.S.). Dabei kann Neues zum Vorschein kommen, das bis dato nicht gesehen oder gewusst wurde. Das birgt freilich glaubensdepotenzierendes und -dekonstruktives Potenzial. Wer Bilder in der praktischen Theologie einsetzt, betritt daher theologisches Glatteis. Georg Picht behauptet sogar, dass durch Bilder „Theologie und Kirche insgesamt mit einer Radikalität in Frage gestellt werden, die alle zeitgenössische Theologie- und Kirchenkritik weit hinter sich lässt.“ (Picht 1987: 49) In Falle der Kopftuch-Bildreihe können die Diskurse um Verschleierung, Ehrerbietung, Entehrung, Konvention, Bekenntnis, Schicklichkeit, Mode, Emanzipation, Identität, Keuschheit, Schmuck, Ethik, Sünde, u.s.w. ins Rutschen geraten. Das nicht wegzuinterpretieren, erfordert Toleranz und Mut. Wer bereit ist, das Risiko einzugehen, kann sensibel für die „symbolischen Codierungen des Lebens“ (Mertin 2012: 179) werden.
Teil II der Abhandlung finden Sie hier
1 Der Text ist die Abwandlung einer Untersuchung, die im Auftrag der Universität Salzburg für das European Network of Visual Literacy (ENViL) angefertigt wurde und mögliche Bildkompetenzen beim Umgang mit religiösen Bildsignaturen erforscht. Angesichts der aktuellen, religiös motivierten Ereignisse in Paris, Kopenhagen, Dresden, Leipzig etc. wurde für die zkmb eine Aktualisierung vorgenommen.
2 Der Bildbegriff wird hier nicht auf Artefakte eingeschränkt, sondern kann visuelle Objekte, Prozesse, Vorstellungen, Handlungen und Situationen umfassen, die in der Kunst ebenso vorkommen wie im Alltag oder in der Natur.
3 Auf beeindruckende Weise veranschaulich Francis Alÿs die bis heute nachwirkende Idee des Kopierens von Heiligenbildern in seinen Ausstellungsprojekten „Fabiola. Seit über 20 Jahren sammelt der Künstler die vielfach von Laien produzierte Bildnisse der Heiligen Fabiola auf Flohmärkten und in Antiquitätenläden. Es handelt sich sämtlich um Kopien des Fabiolaporträts des Malers Jean-Jacques Henner (1829-1905). Die Ausstellungsinstallation der Sammlung besteht aus hunderten von fast identischen und doch unterschiedlichen Leinwand-, Stickerei-, Emaille-, Schnitz-, Mosaik- und Keramikporträts des Gesichts dieser Heiligen im Profil mit rotem Schleier. Online z.B. unter www.kulturtechno.de (14.4.2015) oder auf youtube: https://www.youtube.com/results?search_query=francis+al%C3%BFs+fabiola (14.4.2015).
Abb. 1: Bildmaterial verschiedener Internetseiten
Abb. 2: © Benjamin Harms
Der Text ist durch ein partizipatives System der Begutachtung und Kommentierung von wissenschaftlichen Beiträgen durch die Fachcommunity („Open-Peer-Review“) gegangen, das die zkmb bis September 2019 verwendet hat. Für die Dauer von zwölf Monaten konnte der „Text im Diskurs“ von allen Personen der Fachcommunity durch öffentliche und namentlich gekennzeichnete „Reviews“ kommentiert werden. Nach Ablauf dieser Zeit hatten die Autoren/innen die Möglichkeit, ihren Artikel zu überarbeiten und dabei gegebenenfalls Hinweise der Reviews einzuarbeiten. Die endgültigen Publikationen wird hier zusammen mit den daran geknüpften Reviews veröffentlicht.