„Schlitterlogik“ – Eine Geste von Außen? Aby M. Warburg und die Frage der Ellipse

So gesehen betreten der ,irre‘ Wissenschaftler (Warburg) und der Wissenschaftler der ,Irren‘ (Freud) genau dasselbe ‒ unebene, rhizomartige, grenzenlose ‒ Terrain jenes ,Seelendramas‘, von dem der Autor des Mnemosyne-Atlas so oft sprach. Ein Drama, das ständig weiterführt von Symbolen zu Symptomen, von kulturell geschaffenen Bildern zu dunklen Traumbildern, von Territorien zu Wanderungen, von Formationen zu Deformationen, von historischen Neuerungen zu Nachlebendem … Doch wie soll man sich in diesem Raum orientieren? (Didi-Huberman 2010: 561)

Dieser außergewöhnliche Lesesaal hier und heute in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) mit seiner elliptischen Form ist ein magischer Ort, und so gesehen, trefflich gewählt für eine Zusammenkunft um den vertrackten Signifikanten Bild.[1] „Wenn ich Ihnen heute abend Bilder mit begleitenden Worten zeige …“ ‒ mit diesen Worten eröffnet Aby Warburg am 21. April 1923 seinen legendären Vortrag über die Pueblo-Indianer in New Mexico, Arizona, über die Hopi und deren Katcina-Puppen und Schlangentänze (Warburg 1988: 7). Er ist von deren palimpsestartiger[2], geschichtlich-archäologischer Kultur zutiefst beeindruckt. Für ihn war schon damals ein Relief sichtbar, das während des täglichen Lebens mit seinen Ritualen, Nöten und Freuden zugleich aus Spuren von Wildem, injiziertem Glauben und Fortschritt des Anderen geprägt war. Warburg hält diesen Vortrag in Kreuzlingen, in der Heilanstalt Bellevue, lange 27 Jahre später, nachdem er 1896, also dreißigjährig, in den Felsendörfern des Colorado-Tafellandes, den Treppenhäusern der Hopi und Kiwas (Andachtsräume) der Pueblo-Indianer war. Er ging mit ihnen auf Tuchfühlung.

Abb. 1: Aby Warburg: Tragen, nachahmen, sich identifizieren, 1896.[3]

Dies ist eine Zeichnung Warburgs von 1896 während seines Aufenthaltes dort, auf der Verhältnisse von Objekt und Subjekt durchgespielt werden: O, das Objekt, ist eine Fläche mit einer durchgezogenen Achse, ein Tuch, ein Blatt … und S, das Subjekt, eine Spirale, eine Sprungfeder, ein Glühfaden, eine Schlange, eine Graphie … wer weiß. Sie sind dargestellt mit den Notizen: tragen, Kraft, Dynamik; getragen werden; einfühlen, nachahmen, sich mit den Perspektiven identifizieren. Es sind Vorstellungen, Entwürfe von Übertragungsverhältnissen: Begegnungen mit dem Anderen. Dieses Blatt verdeutlicht, wie Warburg die Frage der Berührung mit dem Anderen moduliert: Wer trägt wen? Wie prägt und trägt es sich ein?[4] Warburg entwirft seinen Vortrag in Bellevue mit Hilfe seines Assistenten und Freundes Fritz Saxl, der ihm das Bildmaterial und seine Notizen aus Hamburg übermittelte. Warburgs Wille, noch einmal etwas über das verflochtene Verhältnis herauszufinden von mythisch-dämonisch-gefährlichen Kräften zum einen und von schöpferischen Kräften wie Tanzritualen, Architektonik der Treppenhäuser mit ihren Tonkrügen, Puppen mit Fetischcharakter, Bildern, Masken und Symbolen zum anderen. Gleichsam zwei Brennpunkte: Sie geben den Naturgewalten mit Leib und Seele zeichenhaft Widerstand und rufen sie an: z. B. im Schlangentanz, der den Regen heraufbeschwört. Hier kommt das polyseme Zeichen der Schlange zum Zuge, die Verschlingungen der affinen Formen von Blitz, Schlange, Asklepiusstab, Perseus und Medusa mit dem Schlangenhaupt, gefiederter Schlangenkopf, Eva usw. Warburg sah damals mit eigenen Augen, wie Indianer beim Ritual lebendige Giftschlangen in den Mund nahmen. Ist dies als eine Aktion lesbar, die etwas unbewusst Phantasmatisches via Ritual ins Gegenwärtige überträgt? Ein Phantasma, welches von der drohenden Verschlingung und möglichen Vergiftung des Anderen „spricht“ bzw. von dem Wunsch nach dem (befreienden) Todesbiss – was ja S wie O beträfe? Eine einzigartige Inszenierung von Aggressivität, die in einem Todesdrohung und -wunsch enthält, während der Einlass der Giftschlange in die Mundhöhle sowohl auf Zeugungsphantasien und die Aufnahme des genuin Anderen anspielt.

Sein damaliger Psychiater Ludwig Binswanger, der mit Sigmund Freud freundschaftlich verbunden war, hat Warburg, der Überlieferung zufolge, zu dem Vortrag angeregt. Warburg war zu diesem Zeitpunkt seit etwa zwei Jahren in Kreuzlingen, vorher gab es einige Klinikaufenthalte in Hamburg und Jena aufgrund einer nach dem Ersten Weltkrieg ausgebrochenen Psychose. ‒ Warburg erhielt lange Zeit die Diagnose Schizophrenie, was nach der damaligen ärztlich-psychiatrischen Erfahrung hieß, keine, kaum Aussicht auf Linderung, für immer darin gefangen; der renommierte Psychiater Emil Kraepelin, der Warburg in Kreuzlingen besuchte (einen Tag vor Ernst Cassirers Besuch), befand einen manisch-depressiven Mischzustand und ermöglichte nebst Warburgs eigener Dynamik eine Unterstellung, nicht auf Heilung, aber auf Bewegungsfreiheit im Denken, Leben ‒ und auf Abstand zur Hölle der Qualen und des Gequältwerdens. Der Kreuzlinger Vortrag ist nachträglich betrachtet ein Akt Aby Warburgs, der, mit Georges Didi-Huberman gesagt, „aus einer ,Regression‘ eine ,Erfindung‘“ macht (Didi-Huberman 2010: 405).

Didi-Huberman nahm Einblick in hunderte Notizen und Blätter, die Warburg von Anbeginn des Ersten Weltkriegs anfertigte (Abb. 2). Lange davor schon hatte Warburg, der mit seiner Frau, geb. Mary Hertz, und ihren Kindern von 1898 bis 1902 in Florenz lebte, Pollaiuolos Kupferstich gesehen. ‒ Das Kämpferische, der Tötungsdrang und seine Prüfungen, darin zu überleben, scheinen das Ungeheuer Mensch auszuzeichnen. „Ungeheuer ist viel. Doch nichts / Ungeheuerer, als der Mensch.“ (Hölderlin 1804/1988: 299, V. 349f.) Der Erste Weltkrieg trägt an Warburg und viele andere Menschen neue Dimensionen der Tötungspraktiken und Grausamkeiten heran. „Vernichtungsnächte“, wie Walter Benjamin es 1928 in der Einbahnstraße unter der Überschrift Zum Planetarium diagnostiziert. (Benjamin 1928/1991: IV.1., 146)[5] Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, dass Warburg Flüchtlingslinien, die heute gezogen werden, aufzeichnen würde, als einen Versuch einer Annäherung, etwas zu verstehen, was das Denken des ins Geschehen Involvierten einfach sprengt und es so umso mehr herausfordert.

Abb. 2: Aby Warburg: Frontverlauf in den Kämpfen zwischen den Franzosen und Deutschen. 1914.

Abb. 3: Antonio del Pollaiuolo: Kampf der Nackten. Florenz 1470/75.

1929 wiederum entstehen die letzten Manuskripte Warburgs, von denen ein Teil, so Didi-Huberman, „den Titel ,Methode‘ trägt. Das Wort steht allein auf einer ganzen Seite. Auf der folgenden liest man Nietzsches Namen. Auf einem dritten Blatt erkennt man die Worte ,Schluß‘, ,Flucht‘ und ,Schicksal‘. Die zwanzig folgenden Blätter blieben leer.“ (Didi-Huberman 2010: 560)[6]

Früher, im Jahr 1914, „[i]n mitten seiner Notizen über den Grabenkrieg, erschüttert von jedem Todesopfer, ohne zu wissen, wer schuldig und wer unschuldig war, begann Warburg sich mit Gespenstern zu identifizieren. Er glaubte, da er die heidnischen Dämonen des Obskurantismus […] geweckt hatte, sei er selbst die Ursache des Krieges. […] nach der deutschen Kapitulation 1918 entwickelte sich Warburgs Verzweiflung zu politischen Wahnvorstellungen (Bolschewiken verfolgten ihn als ,kapitalistischen Intellektuellen‘) und zu mythologisch-religiösen Wahnbildern (antike Furien verfolgten ihn als ,atheistischen Juden‘, die alten germanischen Dämonen des Antisemitismus gingen ihm nach)“ (Didi-Huberman 2010: 408).

In Kreuzlingen „ging er vollends zu Boden, und dort erholte er sich mit Binswangers Hilfe wieder. Dort fand er zurück zur ,Stimmung‘ seiner ,chronischen Ängste‘ aus Kindertagen, aber auch zu dem fundamentalen Zusammenhang, den er schon 1874 – angesichts des Leidens seiner kranken Mutter – zwischen Bild und Symptom erkannt hatte. In der lebhaften Verschlingung seiner Wahnmotive fanden sich kunterbunt die Faszination für die Indianer und die Weigerung, koscher zu essen, die Ikonographie des Leidens Christi und der groteske Eros der Petites Misères de la vie conjugale von Balzac (Abb. 4), deren Illustrationen ihn seit seinem sechsten Lebensjahr verfolgten“ (Didi-Huberman 2010: 409).

Zwei Dämonen reißen das Lid eines Auges auf, welches in elliptischer Form, darin die kreisrunde Pupille bzw. ein schwarzes, saugendes Loch, erscheint. Mit einer Träne ‒ einem herunter stürzenden Zeppelin ähnlich, den es zwar 1864 noch nicht gab, was sich gleichwohl, Warburgs Methode des Anachronistischen gemäß, in der Kompositionstechnik und den Bildkonstellationen im Mnemosyne-Atlas wiederfindet. Warburg schreibt in seinen Reiseerinnerungen: „Jetzt aber, 1923 im März, in Kreuzlingen, in einer geschlossenen Anstalt, wo ich mich als Seismograph empfinde, der aus Holzstücken zusammengesetzt ist, die einem Gewächs entstammen, das aus dem Orient in die nahrhafte norddeutsche Tiefebene verpflanzt wurde und einen aus Italien inokulierten Ast trug, lasse ich die Zeichen, die ich empfange, aus mir heraustreten, weil in dieser Epoche eines chaotischen Untergangs auch der Schwächste verpflichtet ist, den Willen zur kosmischen Ordnung zu verstärken“ (Warburg 2010: 573).

Welch ein Vergleich „als Seismograph“: der Seismograph ist tatsächlich eine technische Neuerfindung etwa aus dem Jahr 1876, das darüber hinaus in einem Wort Erschütterung und Schreiben verknüpft. Noch Zitternadel und schon eine Metapher, da ist dem Schreibenden, Denkenden etwas geglückt, insofern sie die innere Unruhe und Bedrohtheit schirmt und ver

schleiert; der Einfall des sich „als Seismograph[en]“ Empfindens versieht das Subjekt mit einem Sprech- oder Schreibakt und zieht somit eine Schlaufe, Schlinge zwischen Innen und Außen um das, was manches Mal im Spuk des Chaos zu nackt, zu wuchtig, zu unmittelbar droht.

Abb. 4: Holzstich von Bertall: Brutale Enthüllungen, 1864.

Etwa ein Jahr nach dem Kreuzlinger Vortrag, am 10. und 11. April 1924, hat Warburg in Bellevue Ernst Cassirer getroffen, der seit 1919 an der Universität Hamburg lehrte und der KBW verbunden war. Sie tauschten sich über die bahnbrechende Deutung Keplers aus. Johannes Kepler hat um 1600, also zu Zeiten Luthers, in Astronomia Nova und De motibus stellae Martis (1609) erkannt, dass sich der Mars nicht in der Dynamik des Kreises und seiner entsprechenden Zentrierung um die Sonne dreht, sondern eine elliptische Umlaufbahn mit zwei Brennpunkten hat. Eine Ellipse entsteht durch den Kegelschnitt eines Kreises. „Für Warburg allerdings“, so Horst Bredekamp, „blieb die bipolare Form der Ellipse“, bipolar, möchte ich klarstellen, im physikalischen Sinne gemeint, „mit ihren 2 Brennpunkten das wesentliche Moment des Durchbruchs. In den Brennpunkten sah er einen Spiegel der Welt, nicht nur der Pole von Rationalität und Irrationalität (die seiner Auffassung nach die menschliche Psyche über jegliche Ein- und Ausdrucksform determinieren), sondern etwa auch der Elektrizität und anderer bipolarer Gegensätze.“ (Bredekamp/Wedepohl 2015: 49)[7].

Warburg und Cassirer tauschten sich aus über die Symbolkraft der Ellipse als Spiegel der Welt und die Ellipse als verdichtete Form, die in sich die Spannung von Astronomie (mathematische Sternenkunde) und Astrologie (Sternenglaube) transportiert. Dieser Transfer interessiert Warburg schon seit 1912 brennend, wovon u. a. sein Vortrag Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoia zu Ferrara (1912/22) zeugt. Dort im Sala dei Mesi dechiffriert Warburg den berühmten, al fresco gemalten Wandkalender (ca. 1466-1470) partiell: Himmlischen, göttlichen Sphären, wie sie bewohnt werden, darunter im Mittelfeld das Tierkreiszeichen mit den drei Dekanen ebenso wie dem irdischen Boden, auf dem der Auftraggeber erscheint, schenkt Warburg geduldige Aufmerksamkeit und wagt seine Deutungsarbeit, insbesondere der Perseusfigur, in der Perseus im Sternbild des Widders unter der Herrschaft des Mars erscheint.[8] Wer einmal in dem Raum war, wird die Faszination der Fresken und den Denkmut Warburgs begreifen.

In einem Brief vom 10. April 1924 an seine Frau Mary äußert sich Warburg über die Begegnung mit Cassirer: „Meine Auffassung der Ellipsenentdeckung als Markscheide der Kulturepochen fand eine schlagende Bestätigung durch Prof. Cassirer […].“ (Ebd.: 46) Einen Tag später schreibt er an Mary: „Fühle mich nach d[em] Besuch von Cassirer jetzt ziemlich ausgepumpt, weil er zunächst dialektisch-philosophische Bestimmtheit erwartet; das Bildmaterial ist bei ihm sekundär und mir doch die Hauptsache.“ (Ebd. 46f.)[9] Warburg zieht aus dem Treffen freundschaftlich intellektuellen Zuspruch mit der Erfahrung einer Differenz der Perspektiven, die ihn anzustrengen scheint. So Warburg: „Ich habe zwar noch nie das Gefühl gehabt, daß ich von einem Daemon intellektuell geleitet werde, der mich zum Glühkörper machen will und zugleich – selbstverständlich – zerstören will, denn ich werde nicht mehr das Glück haben, in meiner Heimat mich wieder aufrichten zu dürfen.“ (Ebd.: 47) Unter der sprachlogischen Bedingung der Verneinung war es nicht so mit dem Dämon und dem Glühkörper. ‒ Darüber hinaus hat Warburg sich zum Glück noch darin getäuscht, dass er sehr wohl wieder auf die Füße gekommen ist.

Nur wenige Zeit nach dem Treffen mit Cassirer kehrt Warburg nach Hamburg zurück, der Bau der heutigen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg beginnt, die Bibliothek wandert von der Heilwigstraße 114 nach 116. In Voraussicht, angesichts des Hasses der Nazis auf die Juden und das Menschliche überhaupt, und zum Glück wurde durch Fritz Saxl 1933 die Bibliothek nach London „evakuiert“. Seitdem besteht ein lebhafter Transfer zwischen dem The Institute Warburg und der KBW. Am 4. September 1928 fährt Warburg mit seiner Frau Mary nach Scharbeutz und trifft dort voll froher Erwartung Albert Einstein. Wieder geht es um die Kepler’sche Figur der Ellipse. Eine Zeichnung Einsteins mit weichem Bleistift und Warburgs Eintrag „Von A. Einstein in Scharbeutz gezeichnet Sept. ’28 W….“ zeugt davon.

Damals nahm Warburg insgesamt vier schwere Mappen bzw. Tafeln mit zu Einstein (vgl. ebd.: 62f.). Vermutlich waren auch einige Reproduktionen der Tafel C der letzten Fassung des Mnemosyne-Atlas dabei, die er in Scharbeutz an eine Gardine heftete, um Einstein das vorgängig Mythische und sein Nachleben in den Bildern, bzw. das dem physikalisch-mathematisch Logischen innewohnende Mythisch-Dämonische zu veranschaulichen. Wie beim Zeppelin: Fortschritt und einer Bombe ähnlich: Attackenobjekt mit Einfallswinkel (Abb.6). In einem Brief von Warburg an Saxl am 5.9.1928 lässt sich neben dem Ansporn der Unterhaltung mit Einstein auch wieder eine leise Enttäuschung vernehmen: „Ich fuhr gestern mit meiner Frau nach Scharbeutz und fand einen geradezu heroisch kindlichen Mann, der tatsächlich von diesem Mutterboden der Bildhaftigkeit und der denkraumformierenden Magie [hervorgehoben, SG] nichts wusste und der trotz seines schwerleidenden Zustandes (Herz) gespannt wie ein Schuljunge im Kino meinen Bildern folgte und unter steten unerbittlichen Nachfragen die Stichhaltigkeit meiner Schlüsse prüfte. Nur bei Kepler und der Ellipse habe ich, glaube ich, nicht gut bestanden, sonst war er mit mir zufrieden“ (ebd.: 72). Warburgs „Pendelgang zwischen mythischer und wissenschaftlicher Auffassung im Spiegel künstlerischer Gestaltung“, so Bredekamp, ging indessen an Einstein vorbei (ebd.: 76).

Es gehört zum Stil Warburgs, dass er, Schleifen ziehend oder auch Umlaufbahnen durchlaufend, immer wieder von Neuem alten Fragen nachgeht, angesogen von dem Drang zur Ursache, zum Ursprünglichen, zum Unmittelbaren, hingezogen zur Quelle. Er will sehen, was auf dem Bild liegt und geschieht, wovon es spricht. Mehr noch: Er will herausfinden, welche Kräfte, Dynamiken, Phantasien und Erfahrungen das Bild hervorgebracht haben. Dabei ist für Warburg eine fundamentale Gespaltenheit der (seelischen) Kräfte, der Naturgewalten sowie des Technischen wirksam. Übrigens Sigmund Freud nicht unähnlich, der u. a. in Jenseits des Lustprinzips und in Unbehagen in der Kultur dem Todestrieb mit seinen destruktiven Strebungen etwas dem Menschen Konstitutives attestiert: Werden und Vergehen, Schöpferisches zieht unheilvoll Zerstörerisches nach sich. Diese Erkenntnis, diese Erfahrung ist schwer verdaulich. Der Zwang, also vom Trieb angespitzter Wiederholungszwang, schnürt einem die Kehle zu, und wenn es noch unerträglicher wird, reißt sie, die Kehle, den Körper auf: Schreien, Brüllen, Zittern, nach Innen, nach Außen. ‒ Wundersamerweise nun transportiert die hier, in den Lesesaal, eingelassene Form der Ellipse mit ihren zwei Polen ‒ einmal in dem Raumumriss (in dem nur eine Seite gerade ist, die Wandseite zum Garten, zum Kanal) und oben, an der Decke, gen Himmel ‒ eine Ruhe, eine Gelassenheit. Etwas mysteriös Tröstliches scheint da am Werke.

Hier gibt es keine Rotunde wie im Pantheon, sondern a) zwölf Segmente wie zwölf Sternbilder, b) eine Ellipse in der Ellipse, c) die Milchglaslampen im Außen herum wie Planeten, und d) die zwölf Segmente, die wie flache Kegel mit ihrer typisch leichten Wölbung sind. Zugegeben, aufgrund eines Gemischs von Einbildungskraft und Empfänglichkeit touchiert der Raum eine Öffnung zum Himmel, zum Licht, ins Offene, den Götterhimmel, das Weltall – es sei denn, es verdunkelt sich durchs Technische für die schon zu Warburgs Zeiten gehaltenen Diavorträge, dann fallen die Bilder auf die Leinwand ‒ oder es verdunkelt sich durch die wirkliche Nacht, etwas Irdisches, eine wiederkehrendes Spaltung von Tag und Nacht, das ist beruhigend ‒ oder es vernebelt und verdustert sich durch die dunkle Wolke der Melancholie. Die Melancholie spricht von einem Schmerz der Seele, dem ungeteilten Unbewussten der Familienkette, der Ideologie, des Archivs des Unerhörten.

Abb. 5: Albert Einstein: Skizze zur Erläuterung der Berechnung der Umlaufbahn des Mars.
Abb. 6: Aby Warburg: Tafel „C“ der letzten Fassung des Bilderatlas „Mnemosyne“, Oktober 1929.

In einem erkenntnistheoretischen Fragment notiert Warburg: „Vom unorganischen Verknüpfen als Schlitterlogik. Willkürverknüpfung mit dem Himmel, dem Boden, der Familie durch bildhafte Mittler.“ (Warburg 2010: 642) Bildhafte Mittler, das sind Bilder, Symbole, Träume, Worte natürlich, Künste im aufgefächerten Sinne, Zeichen und Halluzinationen. Das Phänomenale dieser wirklichen Ellipse liegt in meinen Augen darin, dass es eine klare Form darstellt, selbst mit seiner verspielt anmutenden Blütenhaftigkeit. Die Ellipse im Lesesaal ist ein Bild besonderer Natur. Eine Empfangsfläche, leergelassen, durchlässig nach innen in den Raum und nach außen. ‒ Die Ellipse wird zur Anspielungsfläche, die Atem lässt für Neues, noch zu Entwerfendes, Zukommendes. Anders als die Fläche mit den zwölf (dreigeteilten) Fresken im Palazzo Schifanoia, voller Rätsel (auch aufgrund des Verfalls der Fresken), denen Warburg sich in faszinierender Entzifferungsarbeit hingegeben hat, ist das Einladende hier, und darin liegt vielleicht etwas Atmendes, Tröstliches: Unbemaltes.

Ich möchte an dieser Stelle noch eine Kurve nehmen, und ‒ es erscheint vielleicht etwas willkürlich, ist es aber keinesfalls ‒ eine Verknüpfung zum Stil des Denkens und der Lehre von Karl-Josef Pazzini herstellen. Das Ausgelassene, das ist auch die Klammer von fool,[10] die den Narren herbeispielt, die hier im Titel der Tagung Nachbilder […] vorbildern wiederkehrt, und sogar einen Neologismus schöpft: „vorbildern“.

Das Elliptische, der Mangel, ist Anlass zum Forschen, was es mit dem Menschen, dem Tier und seinen Symptombildungen auf sich hat, was eine Kunstpädagogik dazu beitragen will. Glücklicherweise gibt Bildung vor Bildern (Pazzini: 2015) reichlich Stoff, also nix mit Ellipse – oder doch, da naturgemäß unerschöpflich? Zum Ausgelassenen, Verspielten gehört auch, hier ziehe ich noch eine Schleife, nicht aufzuhören zu unterstellen und zu glauben daran, dass man Berge versetzen kann, trotz und angesichts des Geschichtlichen – in der Universität und der Schule, im Gemeinschaftsleben und Politischen.

Das ist eine nicht selten auf die Probe gestellte Haltung, die – wenn auch auf einem anderen Tableau, dem Forschungstrieb Warburgs nicht unähnlich ist, sagen wir, in der Art einer Beharrlichkeit, Widerständigkeit und: Erfindungslust. Weder die Kunstpädagogik noch die Psychoanalyse, die Karl-Josef Pazzini miteinander verknüpft, sind einfach so vom Himmel gefallen. Worin liegt das Unerhörte? ‒ Eine Schlitterlogik sodann – Willkürverknüpfungen durch bildhafte Mittler – ist nur insofern eine Geste von außen, als sie etwas, was längst schon im Inneren drängt und rumort, ans Licht bringt: das schizoide Vermögen, gerade mit seinen Shifterqualitäten und exzentrischen Kräften, schreckt, schockiert manchmal, gerade deshalb will es gehört werden in seinem Treiben. So in der Kunst. So im Leben.

Vgl. Abb. 1: Aby Warburg: Tragen, nachahmen, sich identifizieren, 1896.

Bildung vor Bildern und das Denken von Karl-Josef Pazzini streift etwas davon, vielleicht nicht direkt und nur scheinbar en passant, etwas zwischen subtil und subjektil: unterhalb der pflasternden Worte, der Bilder Timbre, „während sie dalagen und leise Träume und Kindernamen aus rotweinblauen Mündern hochsteigen ließen, in den dunklen sternenbesetzten Himmel, der so irre runterkam, und wieder hochging, und wieder runterkam – und die Frage, ob der Himmel vielleicht das Trampolin Gottes sei? Und die Sterne nur winzige Löcher im elastischen Stoff, und dahinter das hochpotente Scheinwerferlicht einer Turnhalle – voller Glück?“ (Melle 2011: 149).

Anmerkungen

[1] Karl-Josef Pazzini hat das unterbelichtete Sujet des Bildes in der Psychoanalyse, die in der Kur aufs Sprechen zählt und das Visuelle (in kunsttheoretischer Auffassung) scheinbar wenig kümmert, unermüdlich in ihren Diskurs gezogen und dabei nonchalant ermuntert, Bilder ins Sprechen zu bringen. Die Tagung fand in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Aby Warburg-Haus, Heilwigstraße 116, 20249 Hamburg statt.

[2] „Philologisch betrachtet stehen wir also vor dem denkbar schwierigsten Objekt: Ein Palimpsest, dessen Text [„Werke der braunhäutigen Tänzer, Maler“ , hinzugefügt von SG] ‒ selbst wenn man ihn herausbringt ‒ kontaminiert ist.“ (Warburg 2010: 572).

[3] Dank an Claudia Wedepohl und Eckart Marchand vom The Warburg Institute in London für die Abbildungen 1, 2, 5 und

[4] Grundlegend für meine Betrachtungen ist das inspirierende Werk von Georges Didi-Huberman (2010): Das Nachleben der Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg; ebenso unverzichtbar erhellend: Bredekamp, Horst/Wedepohl, Claudia (2015): Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne; Marazia, Chantal/Stimilli, Davide (2007): Ludwig Binswanger – Aby Warburg. Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte; Michael Diers (1993) (Hrsg.): Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg 1933 London.

[5] Diesen Denkanstoß verdanke ich Davide Stimilli (2007: 21). Es ist erstaunlich, wie nah Benjamin und Warburg sich waren in ihrer Empfänglichkeit dem unsinnlich Ähnlichen gegenüber. „Die Lunaparks sind eine Vorform von Der Schauer echter kosmischer Erfahrung ist nicht an jenes winzige Naturfragment gebunden, das wir ,Natur‘ zu nennen gewohnt sind. In den Vernichtungsnächten des letzten Krieges erschütterte den Gliederbau der Menschheit ein Gefühl, das dem Glück der Epileptiker gleichsah. Und die Revolten, die ihm folgten, waren der erste Versuch, den neuen Leib in ihre Gewalt zu bringen. Die Macht des Proletariats ist der Gradmesser seiner Gesundung. Ergreift ihn dessen Disziplin nicht bis ins Mark, so wird kein pazifistisches Raisonnement ihn retten. Den Taumel der Vernichtung überwindet Lebendiges nur im Rausche der Zeugung.“ Benjamin (1928/1991: GS IV.1, S. 147f.).

[6] Fragen nach Methode, Flucht und Schluss drängen gegenwärtig laut ins Bewusstsein. Karl-Josef Pazzini und ich greifen sie auf in dem Themenheft: Heimsuchung der Psychoanalyse durchs Politische. RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud ‒ Lacan, Heft 84, Oktober 2016.

[7] Die folgenden Gedanken beziehen sich grundlegend auf die aufmerksamen Betrachtungen und Auslegungen von Horst Bredekamp und Claudia Wedepohl.

[8] Claudia Wedepohl hat die Denkwege, Hemmnisse sowie deren Überwindung in den Auslegungen Warburgs beeindruckend nachgezeichnet und kommentiert. Siehe: Das Freskenprogramm im Palazzo Schifanoia und der Weg zu einem neuen Weltbild, in: Bredekamp/Wedepohl (2015: 13-44).

[9] zitiert nach Bredekamp/Wedepohl (2015: 104, Fn 78 und 79): WIA, FC, Aby Warburg an Mary Warburg 10. und 11. April 1924.

[10] Auch wenn die Forschungs- und Le[ ]rstelle Kunst Pädagogik Psychoanalyse FuL geschrieben wird, habe ich, als ich es das erste Mal etwa 1996 vernahm, den fool gehört, und dies währt an.

Literatur

Benjamin, Walter (1928/1991): Einbahnstraße. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften (Hrsg. Tilmann Rexroth). Frankfurt/M.: Suhrkamp, Bd. IV. 1, S. 83-148.

Bredekamp, Horst/Wedepohl, Claudia (2015): Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne. Berlin: Wagenbach.

Didi-Huberman, Georges (2010): Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Übersetzt von Michael Bischoff. Berlin: Suhrkamp.

Diers, Michael (1993) (Hrsg.): Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg 1933 London. Hamburg: Dölling und Galit

Hölderlin, Friedrich (1804): Antigonä, V. 349f. In: Ders.: Sophokles, Bd. 16, Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Michael Franz, Michael Knaupp und D.E. Sattler. Stroemfeld/Roter Stern 1988.

Marazia, Chantal/Stimilli, Davide (2007) (Hrsg.): Ludwig Binswanger – Aby Warburg. Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte. Zürich, Berlin: diaphanes.

Melle, Thomas (2011): Sickster. Berlin: Rowohlt.

Pazzini, Karl-Josef (2015): Bildung vor Bildern. Kunst ‒ Pädagogik ‒ Psychoanalyse. Bielefeld: Transcript.

Flucht. Heimsuchung der Psychoanalyse durchs Politische. RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud ‒ Lacan, Heft 84, Oktober 2016. Initiiert und realisiert von Karl-Josef Pazzini und Susanne Gottlob, hrsg. von Peter Widmer.

Stimilli, Davide (2007): Tinctura Warburgii. In: Marazia, Chantal/Stimilli, Davide (2007) (Hrsg.): Ludwig Binswanger – Aby Warburg. Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte. Zürich, Berlin: diaphanes, S. 7-25.

Warburg, Aby (1988): Schlangenritual. Ein Reisebericht. Hrsg. von Ulrich Raulff. Berlin: Wagenbach.

Warburg, Aby (2010): Werke in einem Band. Hrsg. und kommentiert von Treml, Martin/Weigel, Sigrid/Ladwig, Perdita. Berlin: Suhrkamp.

Abbildungen

Abb. 1: Aby Warburg, Tragen, nachahmen, sich identifizieren, 1896. Tinte auf Papier, aus Grundlegende Bruchstücke einer monistischen Kunstpsychologie, Teil II, S. 3. London, Warburg Institute Archive. Foto: The Warburg Institute.

Abb. 2: Aby Warburg, Frontverlauf in den Kämpfen zwischen den Franzosen und Deutschen. Tinte auf Papier, aus den Notizbüchern, 26. Oktober 1914, S. 67. London Warburg Institute Archive. Foto: The Warburg Institute.

Abb. 3: Antonio del Pollaiuolo, Kampf der Nackten, Florenz 1470/75. Kupferstich und Kaltnadelradierung. Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Antonio_Pollaiuolo.

Abb. 4: Bertall: Brutale Enthüllungen, Holzstich aus Honoré de Balzac, Petites Misères de la vie conjugale, Paris 1846, S. 373. ‒ Zitiert nach Didi-Huberman 2010: 470.

Abb. 5: Albert Einstein: Skizze zur Erläuterung der Berechnung der Umlaufbahn des Mars. The Warburg Institute London.

Abb. 6: Aby Warburg: Tafel „C“ der letzten Fassung des Bilderatlas „Mnemosyne“, Oktober 1929. The Warburg Institute London.

Von Susanne Gottlob

Veröffentlicht am 25. November 2017

Zitiervorschlag

Gottlob, Susanne: „Schlitterlogik“ – Eine Geste von Außen? Aby M. Warburg und die Frage der Ellipse, in: Torsten Meyer, Andrea Sabisch, Ole Wollberg, Manuel Zahn (Hg.): Übertrag. Kunst und Pädagogik im Anschluss an Karl-Josef Pazzini, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2017. Quelle: https://zkmb.de/schlitterlogik-eine-geste-von-aussen-aby-m-warburg-und-die-frage-der-ellipse/; Letzter Zugriff: 30.12.2024

Review-Verfahren

Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.