Die immersiven Installationen von Jakob Kudsk Steensen weisen komplexe Verflechtungen zwischen künstlerischen, kulturellen, historischen, technologischen und ökologischen Phänomenen, Praktiken und Formen der Wissensproduktion auf. Der Künstler navigiert dabei in Kollaboration mit menschlichen und technologischen Akteuren – meist in Kombination mit generativer KI-Technologie – durch Orte und Zeiten, indem er unterschiedliche Bezugsrahmen und plurale Geschichten miteinander verwebt. Thematisch wird dadurch die Frage, wie verschiedene Arten der Wissensgenerierung angesichts aktueller Technologien zusammengebracht und künstlerisch umgesetzt werden können. Relevant ist dies, da sich im Zuge fortschreitender technologischer, post-digitaler Transformationen hybride materiell-digitale und digital-mediale Figurationen (vgl. Elias 2024; Herlitz/Zahn 2019) bilden, die sich zunehmend der Sichtbarkeit und Kontrollierbarkeit des Menschlichen entziehen und kaum bisher üblichen Formen der Organisiertheit entsprechen. Sie lassen sich daher weder mit klassischen Analyseverfahren noch mit etablierten wissenschaftlichen Forschungsmethodologien hinreichend beschreiben, was auch ihre bildungstheoretische Beurteilung und Perspektivierung erschwert (vgl. Herlitz/Zahn 2019). Die Künste haben nach Alva Noë hingegen die Möglichkeit, die Art und Weise, wie unsere Praktiken, Techniken und Technologien uns organisieren, hervorzuheben und zu zeigen, wie wir uns als Menschen organisieren. Alle Künste sind in diesem Sinne reorganisierende Praktiken (Noë 2015: 11f.). Diesen Gedanken aufnehmend, nähere ich mich in meinem Beitrag anhand einer exemplarischen Analyse der Installation Berl-Berl den unterschiedlichen Ebenen im Werk von Steensen an, untersuche deren Wahrnehmungsweisen aus rezeptionsästhetischer Perspektive und diskutiere diese mit Noës Ansatz zur Reorganisation von Wahrnehmung und Wissen (vgl. Noë 2015; 2023). Aus bildungstheoretischer Perspektive stellt sich die Frage, ob und inwiefern durch Steensens künstlerische Strategien spezifische Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen situiert werden, die anregen, unser anthropozentrisches Verständnis von Wissen und Wissensproduktion zu reorganisieren.
Mit dem Begriff „Immersion“ werden häufig die künstlerischen, auf neuesten Technologien basierenden Installationen von Jakob Kudsk Steensen beschrieben (vgl. Schrauth/Stumpf 2024; Enderby/Stumpf 2021), weshalb dessen Begriffsbedeutungen im Folgenden kurz skizziert werden, um anschließend am Beispiel einer spezifischen Installation Steensens einige erste theoretische Überlegungen zu den oben genannten Fragestellungen anzustellen.
„Immersion“ bezeichnet das ,Eintauchen‘ in eine imaginierte, fiktionale oder virtuelle (Bild-)Welt mittels eines Mediums und ist damit nicht zwangsläufig an digitale Technologien gebunden, kann allerdings als ein wesentliches Merkmal zur Beschreibung aktueller, digital-virtueller Welten verstanden werden. Dabei meint Immersion einen Zustand des ,Versunken-Seins‘ in eine virtuelle Realität und definiert den Grad des Eintauchens, in dem die eingesetzte Technologie in der Lage ist, eine einschließende, intensive, umfassende und lebendige Illusion der Realität zu liefern (vgl. Huff 2021). In immersiven Installationen werden durch sensorische Reize wie Sound, Licht, Projektionen o.ä. artifizielle Umwelten geschaffen, die aktuell von Raumerlebnissen in Virtual-Reality, interaktiven Kunstausstellungen bis hin zu aufwendigen künstlerischen Installationen reichen. In der Bildenden Kunst ist Immersion jedoch kein neues Phänomen und Traditionslinien lassen sich bis in die Höhlen von Lascaux, den mittelalterlichen „Isenheimer Altar“ (1516) von Mathias Grünewald, die Raum- und Kuppelfresken des Rokokos, die Panoramamalerei im 17. und 18. Jahrhundert oder das Cinéorama zur Weltausstellung in Paris 1900 zurückverfolgen (vgl. Grau 2005; 2004). Oliver Grau weist darauf hin, dass Illusions- und Immersionsbildmedien unsere Vorstellung vom Bild zu einem multisensorischen, interaktiven Erfahrungsraum im zeitlichen Ablauf verändern:
„Ehedem nicht darstellbare Objekte, Bildräume und Prozesse werden optional, die Raumzeitparameter beliebig wandelbar und das Virtuelle als Modell- und Erfahrungsraum nutzbar. Es entstehen polysensuell erfahrbare Bildräume interaktiver Kunstrezeption, welche Prozessualität, Narration und Performanz fordern und damit nicht zuletzt der Kategorie des Spiels neue Bedeutung verleihen.“ (Grau 2005: 70)
Aus medienhistorischer Perspektive vertritt Grau die These, dass in der Geschichte der Illusions- und Immersionsbildmedien eine Relation und Abhängigkeit zwischen den jeweils neuen suggestiven Bildtechniken und den inneren Distanzierungskräften der Betrachtenden auszumachen sei. Diese stehen in einem relativen Zusammenhang und hängen von der über die Zeit erworbenen Medienerfahrungen der Bildkonsumierenden ab (Grau 2005: 71). Damit wird deutlich, dass Formen menschlicher Sinnlichkeit und die damit verbundenen Wahrnehmungsvermögen wie -erkenntnisse, keine anthropologische Konstante sind, sondern immer auch durch historische, gesellschaftliche, technologische u. ä Entwicklungen beeinflusst und verändert werden.
Mit den jüngsten Entwicklungen sowie Erweiterungen virtuell-immersiver, sensorischer und generativer Technologien hat sich unser Sensorium durch (post-)digitale Praxen intensiviert und ist stärker vermittelt als je zuvor. Birgit Althans verdeutlicht, dass der Begriff „Immersion“ aktuell vor allem in medienwissenschaftlichen Kontexten genutzt wird, um den Übergang in die Möglichkeitsräume der virtuellen Welten wie eine körperliche, sensorische Erfahrung einer anderen Wirklichkeit bzw. eines anderen Elements zu metaphorisieren, womit gerade ein körperlicher Zugang zu digitalen Praxen betont werde (vgl. Althans 2019: 326 ff.). Dies ist ein wichtiger Hinweis, der verdeutlicht, dass die Digitalisierung nicht wie häufig angenommen eine Entfremdung von Körpern, Sinnen und Subjekten bedeutet. Vielmehr involvieren und definieren die postdigitalen technologischen Bedingungen Körper, Sinnlichkeit und Subjektivität in einer bisher ungeahnten Weise ganz neu. Unser Körper bleibt daher auch in digitalisierten Welten ein grundlegender Modus zur Wahrnehmung und Erfassung unserer Selbst- und Weltverhältnisse. Als menschliche, leiblich-sinnliche Wesen stehen wir auf unterschiedlichste Weise ästhetisch wahrnehmend, fühlend, imaginierend, denkend, handelnd usw. in Beziehung zur materiellen, postdigitalen Kultur und Kunst, wodurch sich auch Prozesse der Wahrnehmung organisieren. Obgleich die empirische Datenlage zu digitalen, immersiven Technologien wie z.B. Virtual Reality und deren Wirkung aktuell noch begrenzt ist, kommen Marie Schwarz und Anna Mauerberger zu dem Schluss, dass von immersiven Technologien – aufgrund ihrer spezifischen multimodalen Eigenschaften, ihrer Erzeugung von Illusion und des Gefühls in virtuellen Welten tatsächlich anwesend zu sein und dadurch Handlungen hervorzubringen – ein Potenzial für verkörperte Bildungsprozesse in digitalen Praxen auszumachen ist (vgl. Schwarz/Mauersberger 2023: 440f.). Interessant für meine exemplarische Analyse ist nun zunächst, ob sich das ,Eintauchen‘ in virtuelle Welten als leib-körperlicher Zustand auch in der künstlerisch gestalteten „immersiven Installation“ von Steensen (Enderby/Stumpf 2021; Steensen 2022) ausmachen lässt und ob damit spezifische Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen situiert werden, die mit den verwendeten Technologien in Zusammenhang stehen.
In Berl-Berl: The Singing Swamp (ARoS Museum of Art, Aarhus 2022) lädt bereits von Weitem eine erzählerisch-poetische Stimme sowie diverse Sounds die Besuchenden ein, den Ausstellungsraum zur eigentlichen Installation von Jakob Kudsk Steensens zu betreten[1]. Die Sounds erinnern mal an natürliche Klänge elementaren, tierischen oder pflanzlichen Ursprungs, mal klingen sie wie pulsierende, computergenerierte Beats, Instrumentenklänge oder der ferne Gesang einer Frauenstimme aus anderen Zeiten. Charakteristisch für diese verschiedenen Sounds und Stimmen ist ihr collagiertes, auditives Morphing, welches sich permanent verändert und durch seine Verflechtungen wie Übergänge den Eindruck einer akustischen Narration vermittelt – auch wenn sich eine klare Bedeutung des Gehörten selbst bei längerem Verweilen nicht erschließen lässt.
Im eigentlichen, abgedunkelten Ausstellungsraum befindet sich eine raumfüllende, audio-visuelle Videoinstallation, ausgestrahlt über mehrere große LED-Bildschirme und in der die Sounds zusammen mit virtuell-sinnlichen Bilderwelten verschmelzen. Raumelemente wie schwarze Bodenfolien spiegeln die sich permanent verändernden digitalen Bilder im Raum wider und provozieren dadurch den Eindruck, unmittelbar in den Bildwelten zu sein. Sitzkissen laden dazu ein, zu verweilen und sich längerfristig auf diese neuen, unbekannten Bild- und Soundwelten einzulassen, in sie einzutauchen. Unbemerkt von den Besuchenden kommunizieren Bildschirme, Kameras und Lautsprecher in der Installation über Algorithmen in Echtzeit miteinander und existieren in einem digitalen Live-Simulationsnetzwerk, sodass es zwar ähnliche, aber keine tatsächlichen Wiederholungen der Sound- und Bildeindrücke gibt, sondern sich alles stetig verändert. Dies wird insbesondere bei längerem oder mehrmaligem Besuch der Installation bemerkbar und irritiert, weil jeglicher Wiedererkennungswert stets verworfen werden muss, erzeugt jedoch zugleich den Eindruck einer sich im permanenten Wandel begriffenen Welt.
Visuelle Eindrücke erinnern mal an bekannte Landschaftsbilder in Feuchtgebieten und Flüssen, mal an unbekannte Ansichten über, auf und unter Wasser oder an Land. Neben diesen elementaren Zuständen sind Pflanzenelemente wie Farne, Blätter, Ranken, Bäume, Pilze, Wurzelgeflechte und tierische Elemente wie Amphibien oder Vögel erkennbar; irgendwann taucht eine Gestalt in der sumpfigen Landschaft auf. Wie ein digitales Live-Netzwerk scheinen sich die Bildwelten permanent zu transformieren und verwandeln sich, sobald man meint, etwas zu erkennen wieder in etwas anderes, nie zuvor Gesehenes, was dennoch an Bekanntes aus Flora und Fauna erinnert.
In Interviews und Making-of-Videos erläutert Steensen seine künstlerische Vorgehensweise zur Entwicklung seiner Installationen als eine Verbindung zwischen Kunst, Wissenschaft und neuster Technologie, in denen er mit Environmental Storytelling und durch 3D-Animationen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu neuen audio-visuellen und digital-immersiven Welten verbindet (vgl. Steensen/LAS Art Foundation 2021). Den Installationen gehen lange und umfangreiche Recherchen in Archiven, naturkundlichen Museen oder Sammlungen sowie Feldforschungen voraus, in denen mittels Makro-Photogrammetrie und Field Recording Bild- und Tonmaterialien gesammelt werden, die anschließend am Computer in digitale, dreidimensionale Planlandschaften umgesetzt und neu kombiniert werden. Hierfür nutzt Steensen Game Engines und entwirft komplexe virtuelle Bild- und Soundlandschaften, die sich mittels augmentierter, generativer KI-Technologie in Echtzeit immer wieder zu neuen audio-visuellen Szenen morphen. All diese Tätigkeiten erfolgen gemeinsam mit Naturwissenschaftler*innen, Historiker*innen, IT-Techniker*innen und in Kollaboration mit Musiker*innen, Komponist*innen, Autor*innen entwickelt der Künstler audio-visuelle Interpretationen wenig beachteter Naturphänomene, wie beispielweise Berlins Sumpflandschaft in der hier vorgestellten Arbeit. Die Intention seines Projektes beschreibt Steensen folgendermaßen:
„Berl-Berl is a song for the swamp, a place for the undefinable – morphing, liminal and mystical. Berl-Berl mourns what is lost and embraces what is new.“ (Steensen 2021)
Auf der inhaltlichen Ebene geht es also um den Sumpf, der im Sorbischen „Berl“ heißt und sich hier konkret auf die Ursprünge Berlins als Sumpflandschaft bezieht, die vor über 10.000 Jahren entstand und wie viele westliche Sümpfe im 18. Jahrhundert trockengelegt wurde (vgl. Enderby/Stumpf 2021). Als Übergang zwischen terrestrischen und aquatischen Systemen übernehmen Sümpfe eine wichtige Funktion im Ökosystem, wie beispielweise zur Kohlenstoffspeicherung, im Wasserkreislauf, zur Erhaltung der Artenvielfalt oder zur Bekämpfung des Klimawandels. Dennoch sind sie nach wie vor durch Entwässerung, landwirtschaftliche Nutzung o.ä. gefährdet. Steensen bezieht in seiner künstlerischen Interpretation des Sumpfes allerdings nicht nur naturwissenschaftliche Aspekte ein, die er unmittelbar vor Ort in der noch verbliebenen Berlin-Brandenburgischen Sumpflandschaft im Team dokumentiert, in Archiven und Sammlungen recherchiert und digital weiterverarbeitet. Sondern er lässt auch Erinnerungen an Mythologien vergangener Kulturen, die Berlins Sumpfgebiet vor seiner Trockenlegung besiedelten, als Narrative in die Arbeit einfließen. So tritt z. B. „Triglaw“ in Gestalt eines großen Baumes in der Installation audio-visuell in Erscheinung und steht für den Mythos einer Gottheit mit drei Köpfen, welche die drei Dimensionen der slawischen Kosmologie symbolisieren: Prav (Himmel), Yav (Erde) und Nav (Unterwelt) (Enderby 2022: 66). Diese Dreiteilung spiegelt sich auch in der virtuell gestalteten Welt von Berl-Berl wider, dessen Spektrum über drei Ebenen von Wurzelgeflechten und Pilzen bis hin zu Wasser, Bäumen und Himmel reicht und so die digitalen Landschaften bespielt.
Die Sounds greifen ebenfalls plätschernd, schmatzend, gurgelnd, gluckernd, raschelnd, gleitend usw. die verschiedenen zeitlichen und örtlichen Dimensionen des Sumpfes auf und erweitern diesen um auditive Narrative. Durch eine Kooperation mit dem Museum für Naturkunde Berlin wurden hierzu umfangreiche Recherchen möglich und es ließen sich durch historische Archivaufnahmen längst ausgestorbene Amphibien oder Vögel reanimieren (Enderby 2022: 67). Steensen verweist damit auf konzeptioneller Ebene auf das Artensterben und thematisiert unsere Rolle als Menschen im Anthropozän – jedoch weniger als Vorwurf, sondern vielmehr als Angebot des Eintauchens auf auditiver Ebene. Denn in der Installation selbst teilt sich der Entstehungsprozess der Sounds nur implizit auf sinnlich-sensorischer Ebene mit. Kombiniert werden die historischen Tonaufnahmen mit den eigens dokumentierten Umgebungsgeräuschen des gegenwärtig (noch) existierenden Sumpfgebietes und in Kollaboration mit dem Sound-Art-Künstler Matt McCorkle kompositorisch digital weiterverarbeitet. Zudem entwickelte Steensen zusammen mit der Sängerin Arca und McCorkle eine Melodie für die virtuelle Sumpflandschaft und greift dadurch vergangene kulturelle Praxen auf, Lieder zu singen, wenn der Sumpf durchquert oder Geschichten und Mythen mit anderen geteilt wurden (vgl. Steensen/LAS Art Foundation 2021).
Auf diese Weise holt Steensen vergangene Geschichten, ihre Artikulationen aus dem Gestern in unsere Gegenwart und gibt Impulse zur Suche von Verbindungen zwischen Klängen, Bildern, Körpern und Praxen, die wir nicht mehr oder noch nicht kennen. Dadurch entstehen temporäre Narrative, die sich immer wieder ändern und fortwährend ihren Sinn verschieben. Zwar fokussieren die digital-simulierten Videobilder die Aufmerksamkeit stark, doch die auditive Ebene, so meine These, trägt maßgeblich zur Verflechtung verschiedenster Narrative wie Bedeutungen bei und der Sound wird zu einem zentralen gestalterischen Element zur Erzielung der immersiven Installationssituation. Erklären lässt sich dies aus wahrnehmungstheoretischer Perspektive dadurch, dass das Gehör als involvierender Sinn wesentlich stärker nach innen auf den Körper gerichtet ist, Emotionen direkter affiziert und dadurch einen distanziert-reflektierten Überblick verhindert. Anders als das Sehen, was sich auf ein außerhalb des Körpers Befindliches richtet, könne das Hören, so Dieter Mersch, nur „gestreut“ wahrgenommen werden, sodass das Ohr „ins Offene hinein“ hört und „ins Geschehen selber eingebunden“ ist (Mersch 2001: 289). Auditive Aufmerksamkeitsdynamiken lassen sich daher für Katharina Rost nur als performative Wahrnehmungskonstitutionen fassen und die damit einhergehende Organisation von Wahrnehmung nur als fragiles, stets im Wandel befindliches und neu zu erzeugendes dynamisches Gefüge konzeptualisieren (Rost 2017: 17).
Bezogen auf die Sounds in Steensens Installation lässt sich deren Wirkung darin ausmachen, dass sie auf eine unmittelbare, sinnliche Weise affizieren und durch ihre Performanz sowie die spezifische Kombination sehr unterschiedlicher Sounds eine permanente An- und Umordnung des auditiven Gefüges bewirken, welches die Besuchenden in spezifische, teils psychoakustische Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen situiert. Die Vielfalt der vorgefundenen archivierten, instrumentellen, technischen und KI-generierten Sounds, ihre kompositorische Montage und Performanz sind dabei einerseits ein wesentliches Element zur Produktion einer immersiven Umgebung und andererseits ein wichtiger Aspekt des Storytellings in Steensens Arbeit. Dies setzt sich auf visueller Ebene fort, denn auch die Bilder werden nach ähnlichen Prinzipien kombiniert, verändert und erzeugen so visuelle Narrationen, die sich fortlaufend durch algorithmische Aktivitäten morphen. Die Art des Eintauchens in diese Bildwelten ist zudem mit den Möglichkeiten von Bildmontage und Virtual-Reality verknüpft. So lassen sich durch die Nutzung neuester Technologien, wie u.a. die Makro-Photogrammetrie, Bilder erzeugen, die eine Art haptisches Sehen in Szene setzen, ein Sehen, das zugleich ein Berühren ist und dadurch nicht nur auf visueller, sondern auch auf polysensueller Ebene „Aspekte einer fleischlichen und emotionalen Wirkung“ (Chang 2022: 129) hervorrufen.
Dane Sutherhand bezeichnet die künstlerische Strategie von Steensen in diesem Zusammenhang als ein „Konzept der verkörperten Simulation“ (Sutherhand 2022: 102), durch die die Besuchenden, die sorgsam montierten Bilder, Objekte, Sounds und Umwelten in der Installation immersiv erfahren. Dabei geht es um ein „Eintauchen“ in eine spezifische, artifizielle virtuelle Umwelt, die sich durch ein „Eintauchen in eine Montage, die höchst unterschiedliche zeitliche Momente – Geschichten und Mythen über das Leben im Sumpf, lebende und ausgestorbene Biome, künstliche Materialien der virtuellen Produktion – miteinander verschränkt und zu neuem Leben erweckt […].“ (Sutherhand 2022: 103)
Im Kontext der besprochenen Installation Berl-Berl dient der Sumpf, so Sutherhand, „als nützliches Denkmodell, um die Komplexität unserer dicht gedrängten Gegenwart zu erfassen und zu bewältigen.“ (Sutherhand 2022: 94) Anders als in etablierten, klassischen künstlerischen Konzepten von Landschaft, die immer vom Menschen aus betrachtet mit Ausblick, Überblick oder der vom Menschen gemachten Landschaft verbunden sind (vgl. Günzel 2022), fehlt im Sumpf ein klarer Horizont. Himmel, Land und Wasser verschwimmen zu einer unbestimmbaren, aktiven Masse aus Elementen, Flora und Fauna und begründen damit auch die Gefahren für Krankheiten oder das Versinken in der undurchdringlichen Dunkelheit des Sumpfes, aus dem sich seit Jahrhunderten Mythologien unterschiedlicher Kulturen speisen. Zugleich steht der Sumpf aber auch für Lebensenergie und thematisiert seine existenzielle Relevanz für Klima und Artenvielfalt in der gegenwärtigen, global-vernetzten Welt. Steensen bringt diese sehr unterschiedlichen Wissensbestände auf materieller Ebene zusammen, verbindet sie in ihrer Komplexität wie auch Verflochtenheit durch den Einsatz neuster Technologien und durch die Umsetzung in „verkörperte Simulationen“ (vgl. oben). Entscheidend ist nun, dass sich erst durch diese Art der Verflechtungen Kategorien wie Linearität, Zeitlichkeit oder Geschichtlichkeit auflösen und die „verschränkte Gleichzeitigkeit von multiplen Realitäten und Dichotomien“ (Sutherhand 2022: 97) wahrnehmbar wird. So lassen sich Dichotomien zwischen physisch-real und virtuell, organisch und synthetisch, Gegenwart und Vergangenheit, Menschlichem und Nicht-Menschlichem infrage stellen. Anders als durch institutionelle Wissenspraktiken zeigen künstlerische Praxen wie die Installation Berl-Berl auf eine spezifische Weise die Komplexität unserer Verflochtenheit (Entanglement) in Welt. Und sie zeigen es z. B., indem eine virtuelle Umgebung als „verkörperte Simulation“ inszeniert wird, die auf mehreren Sinnesebenen die anwesenden Körper affiziert und dadurch immersive digitale Wahrnehmungspraxen bewirkt, die potenziell auch neue Erkenntnisweisen eröffnen.
Beziehe ich die bisherigen Ausführungen auf Alva Noës Theorie des Entanglement (Noë 2023) lässt sich die Relevanz einer „verkörperten Simulation“ verdeutlichen, um zu verstehen, inwiefern durch Steensens künstlerische Strategien spezifische Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen situiert werden, die nicht nur ein ,Eintauchen‘ bewirken, sondern anregen, unser anthropozentrisches Verständnis von Wissen und Wissensproduktion zu reorganisieren. Noë geht davon aus, dass Wahrnehmung und Bewusstsein ebenso wie kognitive und geistige Prozesse verkörpert und als solche wesentlich in eine Umwelt eingebettet sind. Für ihn ist dies konstitutiv für die menschliche Daseinsweise, die er auch als „Entanglement“ beschreibt, d. h. als strukturelle Verflochtenheit zwischen Organismus und Welt (Noë 2023). Im Anschluss u. a. an Phänomenologie und Pragmatismus und mit anderen Vertreter*innen der aktuellen Verkörperungs- und Embodiment-Debatte, vertritt auch Noë die Ansicht, dass es die Beschaffenheit unseres Körpers ist, die uns intelligent macht, eben weil dieser immer aktiv mit einer Umwelt verwickelt ist (vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild 2017: 9). Bewusste Wahrnehmung und Erfahrung sind für Noë demnach nicht eine Eigenschaft von Neuronen oder ein kognitiver Prozess der Verarbeitung von Sinnesdaten, sondern vielmehr werde das, was wir wahrnehmen, durch das bestimmt, was wir tun (vgl. Noë 2004). Das heißt, Wahrnehmungen und Erfahrungen passieren nicht einfach, sondern entspringen einer aktiven Tätigkeit, nämlich durch die Interaktion mit einer Umwelt. So lassen sich auch Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozesse in künstlerischen Installationen als verkörperter Vorgang in der Verflochtenheit zwischen Organismus und einer spezifischen Umwelt verstehen. Das entscheidende von Noës Argumentation ist nun, dass Kunst in diesem Sinne als eine Praxis bzw. Aktivität zu verstehen ist, die sich von alltäglichen Praxen unterscheidet. Kunst verwickelt uns einerseits und zeigt uns andererseits unsere Verflochtenheit in Welt auf. So formuliert Noë:
„By making, and by exposing what our making takes for granted, art puts us on display. […] It does this by simultaneously unveiling us to ourselves – putting the ways in which we are organized by technologies and habits of making on display – and by doing so in ways that supply resources to carry on differently. Art shines forth and loops down and disorganizes and thus, finally, enables the reorganization of the life of which it is the representation and against which it is a reaction. This entanglement of life with nonlife, technology and the reflective, disruptive work of art, becomes essential to life itself […].“ (Noë 2023: 11f.)
Ausgehend von der theoretischen Annahme, dass das alltägliche Leben durch organisierte Aktivitäten strukturiert ist, die immer relational in ihrer konstitutiven Verflechtung mit ihrer jeweiligen sozialen und materiellen Umwelt verbunden ist, begreift Noë Kunst als eine reorganisierende Praxis. Diese Reorganisation bezieht sich jedoch nicht nur auf die je spezifische Kunstsituation selbst, sondern wirkt sich auch auf alltägliche Praxen aus (vgl. Noë 2015: 49). „Kunst ist gerade in dieser Weise“, so fasst es Georg W. Bertram pointiert zusammen, „als eine Praxis zu begreifen, mittels deren Menschen sich im Rahmen historisch-kultureller Praktiken weiterentwickeln.“ (Bertram 2020: 28)
In Anlehnung an Alva Noës Theorie des Entanglements kann Kunst daher als ein Vorgang aufgefasst werden, durch den bzw. in dem sich ein Praktizieren von Verschränkungsmöglichkeiten ereignen kann, die eine Reorganisation der bisherig organisierten Aktivitäten unseres Wahrnehmens, Denkens oder Handelns bewirken. Das daraus resultierende Bewusstsein dafür, dass auch wir Teil des „Entanglements“ in der Welt sind, kann dazu führen, neue Perspektiven auf aktuelle Fragestellungen und Probleme zu erhalten, die mit unserem anthropozentrischen Handeln und ihren Effekten im Zusammenhang stehen. Ähnlich beschreibt Steensen:
„I think that we live in a time where technology and the climate transform at paces quicker than it is possible for the individual to truly perceive, and I hope that my work offers some form of new understanding of what it means to exist in a time where data and biology fluidly interconnect.“ (Steensen zitiert nach Vickers 2018: o. S.)
In postdigitalen, künstlerischen Installationen, wie Berl-Berl von Steensen, geht es daher nicht primär um das Erkennen eines bestimmten Inhalts, einer Deutung oder Intention, sondern vielmehr eröffnen sich durch „verkörperte Simulationen“ immersive Modell- und Erfahrungsräume zu einer unendlichen variablen Anzahl von Narrativen, Denkweisen und Bedeutungen, die plurale Geschichten erzählen und so unsere Verflochtenheit zwischen zeitlichen, räumlichen, technischen und technologischen Dimensionen sowie menschlichen und mehr-als-menschlichen Akteuren wahrnehmbar und ansichtig machen. Für Bildungsprozesse ist dies ein wesentlicher Aspekt, da diese im Kontext von Kunst, Medien und Bildung „als Praxis eines sinnlich-leiblichen und zugleich kritisch-ästhetischen Gewahrwerdens von Entanglement“ (Klepacki/Jörissen 2023: 168) entworfen werden können, die auch für alltägliche Lebensbereiche von Relevanz sind. Vor dem Hintergrund der hier exemplarisch aufgezeigten postdigital-künstlerischen Praxen von Jakob Kudsk Steensen und des philosophischen Ansatzes des „Entanglement“ von Alva Noë gilt es daher, Bildung wesentlich stärker im Sinne einer „Bildung als produktive Verwicklung“ (Allert/Asmussen 2018: 28) theoretisch neu zu konzeptualisieren.
[1] In den folgenden Ausführungen zu den immersiven Installationen von Jakob Kudsk Steensens beziehe ich mich auf die Arbeit „Berl-Berl: The Singing Swamp“ im ARoS Museum of Art (2022), da ich diese selbst besuchen und erfahren konnte. Meine eigenen Beobachtungen werden mit entsprechender Literatur ergänzend diskutiert, können jedoch aufgrund der konzeptionellen, inhaltlichen wie technologischen Komplexität der Installation an dieser Stelle nur ausschnitthaft dargestellt werden. Erstmals wurde „Berl-Berl“ 2021 in der Halle am Berghain, Berlin ausgestellt; zudem gibt es eine Online-Version (vgl. ausführlich zum Werk von Steensen u.a. die Website des Künstlers, Online: https://www.jakobsteensen.com [28.08.2024] und speziell zur Arbeit „Berl-Berl“ die Projektwebsite, Online: https://www.berlberl.world/making-of [28.08.2024].
Allert, Heidrun/Asmussen, Michael (2017): Bildung als produktive Verwicklung. In: Allert, Heidrun/Asmussen, Michael/Richter, Christoph (Hrsg.): Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript, S. 27-68.
Allert, H., & Richter, C. (2016): Kultur der Digitalität statt digitaler Bildungsrevolution. Online: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-47527-7 [01.09.2024]
Althans, Birgit (2019): Digitalisierte Präsenzen – Körper oder Leib in situ? In: Brinkmann, Malte/ Türstig, Johannes/Weber-Spanknebel, Martin (Hrsg.): Leib – Leiblichkeit – Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Wiesbaden: Springer VS, S. 323-341.
Bertram, Georg W. (2020): Improvisation als Paradigma künstlerischer Wirksamkeit und ihrer sozialen Dimension. In: Eusterschulte, Birgit/Krüger, Christian/Siegmund, Judith (Hrsg.): Funktionen der Künste. Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken. Berlin: J.B. Metzler, S. 17-32.
Chang, Alenda Y. (2022): Technologie – natürlich? In: Enderby, Emma/Stumpf, Liz (Hrsg.): Jakob Kudsk Steensen: Berl-Berl. Ausstellungskatalog, Köln: Koenig Books, S.122-132.
Elias, Norbert (2024): Figuration. In: Kopp, Johannes/Steinbach, Anja (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie. Stuttgart: Leske+Budrich (Utb), 13. korrigierte Aufl., S. 88-91.
Enderby, Emma/Stumpf, Liz (Hrsg.) (2022): Jakob Kudsk Steensen: Berl-Berl. Ausstellungskatalog (Halle am Berghain, 10.07.2021-26.09.2021, Berlin) Köln: Koenig Books; Berlin: LAS.
Enderby, Emma (Hrsg.) (2022): Reale Fantasien. In: Dies./Stumpf, Liz (Hrsg.): Jakob Kudsk Steensen: Berl-Berl. Ausstellungskatalog, Köln: Koenig Books; Berlin: LAS, S. 48-84.
Enderby, Emma/Stumpf, Liz (2021): Einleitung zur Ausstellung „Jakob Kudsk Steensen: Berl-Berl.“ Online: https://www.berlberl.world/de/introduction [31.08.2024]
Fingerhut, Joerg/Hufendiek, Rebekka/Wild, Markus (Hrsg.) (2013): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. Berlin: Suhrkamp.
Grau, Oliver (2005): Immersion und Emotion – Zwei Bildwissenschaftliche Schlüsselbegriffe. In: Ders./Keil, Andreas (Hrsg.): Mediale Emotionen: zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 70-106.
Grau, Oliver (2004): Immersion und Interaktion. Vom Rundfresko zum interaktiven Bildraum. In: Medien Kunst Netz. Online: www.medienkunstnetz.de/themen/medienkunst_im_ueberblick/immersion/7/ [28.08.2024]
Günzel, Ann-Katrin (2022): Der Blick auf die Welt oder: Der lange Weg durch die Landschaft. Zur Aktualität des Landschaftsbildes in der Kunst. In: Dies. (Hrsg.): Kunstforum International. Arkadien in der Krise. Zur Aktualität des Landschaftsbildes, Band 284, Seite 50-69.
Herlitz, Lea/Zahn, Manuel (2019): Bildungstheoretische Potentiale postdigitaler Ästhetiken – Eine methodologische Annäherung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE. Online: https://www.kubi-online.de/artikel/bildungstheoretische-potentiale-postdigitaler-aesthetiken-methodologische-annaeherung [28.08.2024]
Huff, Markus (2021): Immersion. In: Wirtz, Markus A. (Hrsg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie. 20., überarbeitete Auflage. Bern: Hogrefe.
Klepacki, Leopold/Jörissen, Benjamin (2023): Freiheit und Entanglement: Kulturelle Resilienz als relationale Bildungstheorie. In: Paragrana, 32(1), S. 168-180.
Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur- Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Mersch, Dieter (2001): Aisthetik und Responsivität. Zum Verhältnis von medialer und amedialer Wahrnehmung. In: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Umathum, Sandra/Warstat, Matthias (Hrsg.): Wahrnehmung und Medialität. Tübingen: Francke, S. 273-300.
Noë, Alva (2023): The Entanglement. How Art and Philosophy Make Us What We Are. Princeton: Princeton University Press.
Noë, Alva (2015): Strange tools: art and human nature. New York: Hill and Wang.
Noë, Alva (2004): Action in Perception, Cambridge/MA: MIT Press.
Rost, Katharina (2017): Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance. Bielefeld: transcript.
Schrauth, Ulrich/Stumpf, Liz/Hamburger Kunsthalle (Hrsg.) (2024): The Ephemeral Lake: Jakob Kudsk Steensen. Ausstellungskatalog (Hamburger Kunsthalle, 12.04.2024-27.10.2024, Hamburg), Berlin: DISTANZ.
Schwarz, Marie/Mauersberger, Anna (2023): Verkörperte Bildung durch die virtuelle Realität THE SHAPE OF US. Empirische Befunde, didaktisches Design und bildungstheoretische Schlüsse. In: MedienPädagogik 51 (Immersives Lehren und Lernen. AR/VR – Teil 2), S. 430-459. Online: https://doi.org/10.21240/mpaed/51/2023.01.27.X. [08.08.2024]
Steensen, Jakob Kudsk/LAS Art Foundation (2021): Berl-Berl, 2021, Live simulation. Online: https://berlberl.world/de/introduction [08.08.2024]
Vickers, Ben (2018): Artist Profile: Jakob Kudsk Steensen. In: Rhizome, 14 December 2018. Online: https://rhizome.org/editorial/2018/dec/14/artist-profile-jakob-kudsk-steensen/ [08.08.2024]
Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.