Teil 1 des Textes führte in die konfliktreiche christliche Ikonographiegeschichte ein, um im Versuch, das Verhältnis der beiden Diskurse Bild und Religion zu bestimmen, die radikale Differenz der jeweiligen symbolischen Verweis- strukturen aufzuzeigen. In diesem Teil der Abhandlung soll es um die daraus zu ziehenden Konsequenzen für eine Auseinandersetzung mit religiösen Bildsignaturen in der Kunst-/Bild-/Medienpädagogik gehen. Dazu wird zunächst das Konzept „Kultur des Verhaltens zur Kontingenz“ herausgearbeitet, das für geeignet gehalten wird, eine Brücke zwischen den religiösen und bildlichen Symbolsystemen zu bauen. Abschließend geht es um die Bestimmungs- und Erhebungsmöglichkeiten möglicher Wissens- und Sinnbildungsprozesse bei der Auseinandersetzung mit religiös konnotierten Bildern.
Teil I der Abhandlung finden Sie hier
Die Reibungen und Widersprüche, die durch das Aufeinandertreffen zweier verschiedener Diskurse entstehen können, kann die Kontingenz aller Wahrheits-, Objektivitätsansprüche erfahren lassen. Absolutes Wissen kann „nicht mehr als Repräsentation von Realität betrachtet“ werden, sondern nur als Perspektive oder Sichtweise einer Welt, die man nicht genau beschreiben kann“ (von Glaserfeld 2002: 27). Alles könnte immer auch ganz anders sein.
In der enttraditionalisierten, funktional differenzierten Gesellschaft wie der unseren haben sich das Bewusstsein um die Kontingenz von Wissen und Erkenntnis wie auch deren flexible Handhabung ihrer Repräsentanten längst durchgesetzt (vgl exempl. Giddens 2000; Sennett 1998). Wir haben im Prinzip gelernt, verschiedene Sicht- und Vernunft- und Handlungsweisen zu akzeptieren und nebeneinander stehen zu lassen. Anders als in rigide normierten Zusammenhängen ist das Leben nicht mehr vom „Leiden an zu vielen strengen Regeln, Verboten oder Repressionen“ bestimmt. In allen Bereichen gilt die „Ideologie der freien Wahl“ (vgl. Salecl 2010). Das Sensorium für die Kontingenz von Wissen und Erkenntnis kann neben Momenten der Erleichterung und Freude aber auch als ungewissen Sichtweise allen Daseins erlebt werden. Die dadurch entstehende Überforderung und Einsamkeit kann depressiv und handlungsunfähig machen (vgl. Ehrenberg 2004). Der Erziehungswissenschaftler Thomas Ziehe behauptet, dass sich wesentliche Lebenswünsche junger Menschen daher darauf richten, „Orientierungsdiffusität und Instabilitäten abbauen zu können“ (Ziehe o.J., o.S.). Religiöse Signaturen scheinen dabei immer noch eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen. Sie werden nur manchmal in spezifische Milieus des Lebensalltags eingepasst, die den traditionellen religiösen Orten und Vorstellungen möglicherweise elementar zuwiderlaufen (Graf 2014: 84).
Auf der hier abgebildeten Fotografie sehen wir einen jungen Mann in offensichtlich selbstverliebter Pose. Seinen nackten Körper schmückt eine auffällige Halskette mit Kreuz, ein Rosenkranz. Vielleicht handelt es sich um das Zeichen des katholischen Glaubens des Trägers, vielleicht um ein wichtiges Erinnerungsstück, ein wertvolles Schmuckstück oder um ein ganz banales Fundstück. Vielleicht ist sich der Trager der religiosen Konnotation des Kreuzes gar nicht bewusst, vielleicht ist sie ihm einfach egal, vielleicht setzt er sie in provokanter Absicht ein. Vielleicht steht es für eine Art leidenschaftliches Bekenntnis für das Romantische im Manne gegen den durchrationalisierten Homo Faber Wie auch immer, in jedem Fall scheint sie ein wichtiger Baustein der Selbstinszenierung zu sein. Wie seit ewigen Zeiten gibt dieser Platzhalter anscheinend einen starken Identitätsanker ab. Die Befreiung vom traditionellen Kontext und seinen Deutungsmustern bedeutet aber keine Bedeutungsoffenheit. Sie richtet sich aber weniger an externen, als an internalisierten Regulierungs- und Disziplinierungsprozessen aus. Das heißt nicht, dass sie frei vonKlischees und Ideologien, also fremdbestimmten Vorstellungen, Leitbildern und Weltanschauungen wären. Ihre Bedeutung lässt sich aber nicht genau bestimmen. Denn auch für solche idolisierenden, plakativen Selbstdarstellungen, die wohl eher dem Genre der „schwachen Ästhetik“ (Nordhofen 1993: 18) zuzurechnen sind, gilt, dass die Bedeutung ästhetisch erzeugt wird, also „zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Identität und Mehrdeutigkeit, Unsicherheit und Beweisbarkeit“ (Hessler; Mersch 2009: 14) liegt. Spätestens die ikonologische Auseinandersetzung mit dem Bild wird aber das Kreuz als Zeichen des Bekenntnisses zum christlichen Glauben und Gebet des Selbstdarstellers in Erwägung ziehen müssen. Es kann aber auch sein, dass gläubige Betrachter die Bedeutung des Bildes religiös festlegen und in dem Kreuz einen Bezug zu etwas Heiligem sehen, das nicht verhandelbar ist. In diesem Moment kann die Kunstpädagogik, dessen genuines Strukturprinzip die Mehrfachsicht ist, in eine schwierige Situation geraten. Kunstpädagogen können bei der Verhandlung religiöser Sinnfelder mit einem Wahrheitssystem konfrontiert werden, das das fachliche Selbstverständnis über die Kontextualität und Kontingenz aller Bedeutungsgebung auf eine harte Probe stellt. Denn die Religion hat im Gegensatz zur Kunst, wie Niklas Luhmann darlegt, festgelegte Antworten auf das Kontingenzproblem (Luhmann 2002: 29 ff.). Der Philosoph Herrmann Lübbe nennt die Religion daher eine „Kontingenzbewältigungspraxis“ (Lübbe 2004: 150).
An dieser Stelle lässt sich meines Erachtens eine Brücke zur Kunst-/Bild-/Medienpädagogik schlagen. Und zwar mit ebenfalls mit Herrmann Lübbe, der von der Religion auch als einer „Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren“ (ebd. 149) spricht. Denn auch der Umgang mit starken Bildern der Kunst, der Natur und des Alltags stellt eine Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren dar, die zur Bewältigung existenzieller Kontingenzen beiträgt. Auch wenn sie das Unverfügbare nicht wegarbeiten oder ihr gar einen eindeutigen Sinn abtrotzen, können sie doch Anschauungen und Reflexionen initiieren, die das Wissen um die Welt nicht nur dekonstruieren, sondern es auch rekonstruieren und gemäß differenzierter, selbstkritischer und selbstbestimmter Relevanzen auf neue Weise konstruieren. Sie geraten dann, so möchte ich behaupten, zu einer anschaulich-schöpferischen „Kontingenzbewältigungspraxis“, die es in besonderer Weise ermöglicht, sich dem Leben zuzuwenden und auch im Bewusstsein der Abwesenheit von Antworten Vergeblichkeit zu überwinden. Ich folge hier Albert Camus, der im bildnerischen Schaffensprozess ein „auf die Zukunft gerichtetes“ Tun erkennt, das mit „absurder“ Leidenschaft und Freude einhergeht. (vgl. Camus 2000: 35 ff.). Gerade das Differenzierungspotenzial ästhetischer und religiöser Sprachen kann die Entdeckung mannigfaltigen Sinns und die Realisierung mannigfaltiger Möglichkeiten bedeuten. Das Leben wird trotz seiner Kontingenz als gestaltbar, also bewältigbar erlebt. Albert Camus rekurriert übrigens auf Friedrich Nietzsche, der Bildern der Kunst die Fähigkeit zutraut, dass wir „nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“ (Nietzsche 1954: 835).
Meiner Meinung muss die Auseinandersetzung mit Bildern, die mit dem Unsagbaren und Verborgenen des Religiösen assoziiert werden, mehr beinhalten, als Ikonologie, Semiotik oder Symbolforschung. Wenn es um eine Kultur des Verhaltens geht, steht die menschliche Existenz im Mittelpunkt, die die Bildzeichen in einem bestimmten kulturellen Kontext aufnimmt und produziert. Wer die „kulturell institutionalisierten Rahmenbedingungen“ und die darin eingebetteten „Praktiken der Imagination“ (Kramer 2001: 275) bei der Auseinandersetzung außen vor lässt, kann den Mechanismen der kollektiven Überzeugungskraft, also der machtpolitischen Dimension subjektiver Vorgänge, die „imaginäre ‚fictions‘ zu sichtbaren ‚facts“ verwandelt“ (Bräunlein 2009: 777) wohl kaum auf die Spur kommen.
Ausgangspunkt einer Verhaltenskultur im Umgang mit Bildern in religiösen Kontexten ist das „elementare“ oder „primäre“ Bilderverstehen, also die Wirkung von Bildern mit religiös konnotierten Signaturen auf unsere Wünsche, Träume, Phantasien, Sehnsüchte, Hoffnungen, Enttäuschungen, Ängste, Probleme etc., also auf „all dies, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können“ (Böhme; Böhme 1983: 13). Gerade bei der Frage nach einer Kultur des Verhaltens im Bereich des Ikonischen ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Körper „der Ort der Bilder“ (Belting 1998: 34) ist, wie Hans Belting hervorhebt. Eine Kultur des Verhaltens geht freilich darüber hinaus. Sie hat die leiblichen und emotionalen Wirkungen auf unsere Phantasien zu vergegenwärtigen, um das Sehen als „eigenständige, durch nichts zu ersetzende kulturelle Leistung“ selbst und die im Sehenden schon vorgefasste[n] Konzept[e]“ (Imdahl 1996: 304) reflektieren zu können. Die primäre Wirkung wird dazu mit Prozessen des intensiven Nachspürens, Nachdenkens, Erinnerns, Studierens, Assoziierens, Kommunizierens, Kritisierens und Urteilens verbunden. Solche Verknüpfungsbewegungen sind auf den Erwerb von Wissen, Erkenntnis und Sinn in Bezug auf das Bild, die Religion, den Kontext und das Selbst gerichtet. Die sinnliche Erfahrung verliert sich darum aber nicht. Im Gegenteil, sie bleibt mit der bewussten Reflexion verwoben – und zwar ohne, dass das empirisch exakt erfassbar wäre. Nur im Nachhinein und unter Vorbehalt lässt sie sich plausibel und intersubjektiv nachvollziehbar machen. Man tut gut daran, solche Rückverfolgungen als subjektive Übersetzungen, Konstruktionen, Fantasien, Fiktionen, Imaginationen o.ä. anzuerkennen und nicht mit einer ‚unverstellten’, ‚eigentlichen’ Realität zu verwechseln. Sie weisen immer zurück auf die Einmaligkeit, Flüchtigkeit und Körperlichkeit der Handelnden und auf die räumlichen, zeitlichen und materialen Bedingungen (vgl. Mersch 2002: 11 f.). Wir haben es also mit einer sehr persönlichen Ebene zu tun, die sich letztendlich immer der Überprüfbarkeit zu entziehen versucht. Wenn die religiöse Ebene mitgedacht wird, bleibt der Prozess erst recht ohne überprüfbaren Gegengehalt. Gott, Heiliges, erste und letzte Dinge sind in der übersinnlichen Welt angesiedelt, der ein diskursives, ergebnisoffenes Denken im Grunde „abgründig fremd“ (Habermas 2005: 150) ist, weil ihr genuines Thema, das nichtbeobachtbare Jenseitige damit vernichtet würde.
Wenn nun die visuelle, das Religiöse mitdenkende Kultur des Verhaltens zur Kontingenz als Kompetenz gefasst werden sollen, ist der Kompetenzbegriff der empirischen Bildungswissenschaften zu reflektieren, weil er die empirische Erfassbarkeit des Lernens nach den Kriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität fordert. Statistische Wirkungsforscher, Hirnforscher, Chronobiologen, Neurowissenschaftler, Psychologen, Kognitionswissenschaftler etc. mögen sich noch so bemühen, sie werden niemals psychometrisch analysieren definieren und überprüfen können, was bei Vergegenwärtigungs-, und Reflexionsprozessen in Bezug auf Bilder wirklich geschieht, welche Einflüsse sie auf Wissens- und Erkenntnisprozesse haben und welche Faktoren auf welche Weise deren Qualität beeinflussen können. Man kann sich dem nur mit Mitteln der nachträglichen Interpretation nähern, nicht mittels experimenteller Beweise. Da die Vergegenwärtigung zudem auf Sinneserfahrung beruht, die „nur als Absolutheit“ zu haben ist – „entweder ist etwas einleuchtend oder nicht –, sie duldet keine Abstufung, keine Nuancierung“ (Hessler; Mersch 2009: 29), lassen sich nicht nur keine präzisen Kompetenzformulierungen, sondern auch keine kumulativ aufgebauten Niveaus definieren, deren Überprüfung eine Orientierung über den Stand der Lernenden abgeben könnte.
Die Infragestellung des Bildungskonstrukts ‚Kompetenz’ für die Bestimmung der Wissens- und Sinnbildungsprozesse bedeutet freilich keine Verweigerung gegenüber Fragen der Konkretisierung und Systematisierung des Lernens überhaupt. Die Entwicklung, Dimensionierung und Evaluation der Sinnbildungsprozesse bei der Auseinandersetzung mit religiösen Kunstwerken und Signaturen muss aber andere analytische Zugriffe erlauben, als die der zurzeit hegemonialen empirischen Bildungswissenschaften. Die Lernpotenziale einer Verhaltenskultur lassen sich nicht auf ein funktionalistisch orientiertes Konzept hin reduzieren, das in seiner Tragweite und Bedeutung noch völlig unausgereift ist (vgl. Aden 2011: 13 ff.)
Statt die Verhaltenskultur beim Umgang mit religiösen Signaturen auf die Wiederholung kontextfreien, reinen Wissens zurechtzustutzen, muss der Prozess der Wissens- und Sinnbildung selbst als eigentliches Thema des Lernens in den Blick genommen werden und nicht nur dessen Ergebnis, das der argumentativen Logik der Begründung, der Schlussbildung und der Beweisführung gehorchen müsste. Dieser Lernprozess ist performativ. Mit reglementierenden Sollens- und Leistungsvorgaben und vergleichenden Testverfahren im Sinne der Kompetenzorientierung ist dem nicht beizukommen. Möglicherweise ist das der Grund, dass es von Seiten der forschenden Bildtheologen und Religionspädagogen trotz massiver Indienstnahme von Bildern in religiösen Kontexten bislang keine Bemühungen um eine Kompetenzierung der dabei stattfindenden Lernprozesse gibt.
Um Wege aufzuzeigen, die Dimensionen der „schwer messbaren“ (Frederking 2008) Wissens- und Sinnbildungsprozesse bei der Auseinandersetzung mit religiösen Signaturen zu erheben und zu bestimmen, seien hier zunächst noch einmal die Voraussetzungen zusammengefasst:
Religiöse Welterzeugungsweisen sind nicht die Welterzeugungsweisen der Kunst. Beide erzeugen auf je unterschiedliche Weise Wissen und Sinn. Sie können daher nicht als Repräsentation von Realität betrachtet werden, sondern als mögliche Symbolsysteme einer Welt, die unverfügbar bleibt. Die Differenz der Symbolsysteme kann die Kontingenz allen Wissens und Sinns offenbar werden lassen.
Religiöses und bildnerisches Wissen bzw. dessen Sinn wohnt nicht in den Bildern. Sie können also nicht von dort in den Menschen transportiert werden. Jeder einzelne Mensch konstruiert sie in eigensinnigen Wissens- und Sinnbildungsprozessen selbst. Diese Prozesse sind durch die Eigendynamik des Bewusstseins in Wechselwirkungen mit den jeweiligen Welterzeugungsweisen bestimmt.
Der Prozess der Wissens- und Sinnbildung ist unvorhersehbar und lässt sich nicht vollständig von außen beobachten, aber unvollständig, d.h. situations- und persönlichkeitsbezogen, vergegenwärtigen.
Wissens- und Sinnbildungsprozesse beim Umgang mit religiösen Signaturen können als Kultur des Verhaltens zur Unverfügbarkeit der Welt verstanden werden, die auch existenzielle Wertorientierungen betrifft.
Die Bestimmung der Dimensionen der Wissens- und Sinnbildungsprozesse umfasst systematische und dynamische Lernprozesse. Die dabei zu erlernende Fähigkeiten, Fertigkeiten, Strategien, Haltungen und Bereitschaften entwickeln sich weder rein spontan noch lassen sie sich auf kompetenztheoretische Handhabung reduzieren.
Normalerweise versuchen sich Lehrer den Wissens- und Sinnbildungsprozessen von Schülern zu nähern, indem sie sie beobachten und die Ergebnisse abfragen. Über die im Verborgenen liegenden Vorgänge können sie nur spekulieren. Es gibt jedoch Möglichkeiten, auch die eigensinnigen Wissens- und Sinnbildungsprozesse bedingt ans Licht zu bringen, um sie intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Ohne an diese Stelle eingehend auf solche Vegegenwärtigung eingehen zu können (vgl. dazu Aden 2011: 79 ff.; Sabisch 2007: 25 ff.), sei auf handlungsparallele Notate verwiesen, die während des Sehens und Erlebens angefertigt werden. Solche Dokumentationen können die mit einer Lernhandlung einhergehenden Augenblickserfahrungen sichtbar machen. Es handelt sich um Aufzeichnungsformen des automatischen Assoziierens, Schreibens und Visualisierens an, die an der Schnittstelle von Bild und Schrift oder auch Klang und Sprache liegen. Künstler, die solche automatischen Schreibweisen entwickelt haben, können als formale Vorbilder herangezogen werden. Sie übersetzen auch die eher unreflektierten, nichtdiskursiven Momente der Wissens- und Sinnbildungsprozesse in eine sichtbare, kommunizierbare Form. Als Antworten auf den Erfahrungsprozess des Sehens und Erlebens stellen solche Schreib- und Graphieformen eine Möglichkeit dar, die Wissens- und Sinnbildungsprozesse schon im Prozess ihrer Entstehung zu dokumentieren. Man muss sich aber bewusst sein, dass die Aufzeichnungen und die Seh- und Handlungserfahrungen nicht vollständig ineinander aufgehen, sondern den Prozess zum einen mit herstellen und zum anderen nur bruchhaft sichtbar machen. Sie sind zudem semiotisch offen und daher interpretationsbedürftig. In diesem Sinne stellen sie aber einen idealen Bezugspunkt für weitere Beobachtungen, Reflexionen und Analysen der Lernhandlung dar.
Zu den in selbstbestimmt durchgeführten Prozessdokumentationen aktualisierten Wissens- und Sinnbildungsprozessen in Bezug auf religiöse Signaturen liegen erste empirische Untersuchungen vor (vgl. Aden 2015). Sie zeigen im Ergebnis, dass es um ästhetisches Erleben ebenso geht, wie um subjektive Einstellungen und Gefühle sowie um religiöses Wissen, politische Werte und kulturelle Normen. Im Einzelnen lassen sich die im Folgenden aufgeführten Fähigkeiten, Fertigkeiten, Strategien, Haltungen und Bereitschaften identifizieren:
Passiv-rezeptive Konzentration auf die Augenblickserfahrung in frei schwebender Aufmerksamkeit vor aller präzisen, vergegenständlichenden Begrifflichkeit
Verknüpfung der Augenblickserfahrung mit automatischen Assoziationen
Krisenhafte Infragestellungen analoger Deutungsversuche durch Unfassbares, Unbekanntes, Unerkennbares, Unerklärliches, Infragestellendes, Aufbegehrendes… im Bild
Sachbezogenes Verstehen der bildnerischen Mittel, Motive, Medien und der ikonographischen und ikonologischen Wissensaspekte des Bildes
Kommunikativer Widerstreit mit anderen über unterschiedliche Wissens- und Sinnbildung in Bezug auf die bildliche Darstellung
Religiöse Perspektivisierung der Bildsignaturen; Sachbezogenes Verstehen der damit zusammenhängenden theologischen und alltagsreligiösen Konzepte
Kommunikativer Widerstreit mit anderen über unterschiedliche Wissens- und Sinnbildung in Bezug auf religiöse Deutungsweisen
Besinnung auf subjektiv relevante Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Wissensweisen.
Bewusstmachung des Gemachtseins und der Wirkungsweisen religiöser Bildsignaturen
Bewusstmachung de innersubjektiven und intersubjektiven Bedingungen der
Bedeutungsherstellung
Reflexion der Macht religiöser Bildsignaturen
Transfer auf religiöse Konflikte um die Bilder
Transfer auf Macht- und Disziplinierungsmechanismen durch die Funktionalisierung
religiöser Signaturen durch kirchliche oder lebensweltliche Deutungshoheiten
Ziel einer Auseinandersetzung mit religiösen Bildsigaturen ist die Vergegenwärtigung des Gemachtseins und der Wirkungsweisen religiöser Konnotationen, Kontextualisierungen, Perspektivisierungen und Deutungen von Bildern. Sie wird immer in die Erkenntnis münden, dass es religiöse Bilder nicht gibt, sondern nur von außen herangetragene, religiöse Deutungen von Bildern. Insofern unterscheidet sich die Auseinandersetzung mit religiös aufgeladenen Bildern nicht von der kritisch-produktiven Auseinandersetzung mit allen anderen Bildern. Immer geht es um eine über das elementare Bilderverstehen hinausgehende bildbezogene und selbstbezogene Reflexion. Objektive Symbolforschung wie auch der sinnliche Sehvorgang selbst stehen also im Fokus der Auseinandersetzung, damit Gebrauchsweisen, Funktionen, Mechanismen und Strukturen der religiös konnotierten Bilder in ihren gesellschaftspolitischen Kontext eingeordnet werden können. Die Auseinandersetzung mit religiösen Signaturen birgt aber noch ein anderes Potenzial. Sie kann eine ergebnisoffene Besinnung auf differenzierte, selbstkritische und selbstbestimmte Relevanzstrukturen vor dem Hintergrund der Kontingenz der Welt initiieren. Ob dabei im Ergebnis eine über das Irdische hinausgehenden Instanz anerkannt wird oder nicht, spielt im Kunst-/Bild-/Medienunterricht keine Rolle. Entscheidend ist die Auseinandersetzung selbst. Die bildlichen Wissens- und Sinnbildungsprozesse an sich stellen bereits eine Kultur des Verhaltens zur Unverfügbarkeit des Lebens dar. Hier spielen Wertorientierungen eine entscheidende Rolle, die freilich nicht abprüfbar sind. Schließlich gibt es unterschiedliche ‚richtige‘ Lösungen einer Kultur des Verhaltens zur Unverfügbarkeit des Lebens.
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Abb. 1: Bildmaterial verschiedener Internetseiten
Abb. 2: © Benjamin Harms
Der Text ist durch ein partizipatives System der Begutachtung und Kommentierung von wissenschaftlichen Beiträgen durch die Fachcommunity („Open-Peer-Review“) gegangen, das die zkmb bis September 2019 verwendet hat. Für die Dauer von zwölf Monaten konnte der „Text im Diskurs“ von allen Personen der Fachcommunity durch öffentliche und namentlich gekennzeichnete „Reviews“ kommentiert werden. Nach Ablauf dieser Zeit hatten die Autoren/innen die Möglichkeit, ihren Artikel zu überarbeiten und dabei gegebenenfalls Hinweise der Reviews einzuarbeiten. Die endgültigen Publikationen wird hier zusammen mit den daran geknüpften Reviews veröffentlicht.