Bildkompetenz durch künstlerische Bildung

Orientierung durch Bildkompetenz

In der globalen Bilderkultur ist Kompetenz gefordert, sich in dieser Kultur orientieren zu können (Bering 2011: 213 – 218). Bildkompetenz als aktuell diskutiertes Bildungsziel des Unterrichtsfaches Kunst will nicht nur Methoden und Fähigkeiten schulen, Bilder kritisch rezipieren zu können, vielmehr geht um so etwas wie Befähigung zur Bildung einer eigenen Identität inmitten widersprüchlicher, komplexer kultureller Verhältnisse, die wesentlich durch die massenmedialen Bilder geprägt werden. Kulturgeschichtliche Bildung wird in diesem Zusammenhang für wesentlich erachtet. Angesichts des Endes der unbedingten Gültigkeit der „großen Erzählungen“ von Religion und Ideologie müsste eine solche Bildung  einen Beitrag zur Befähigung des Einzelnen leisten, „kleine Erzählungen“ zu entwerfen, Erzählungen von Sinn und Bedeutung von Menschen und Dingen und Ereignissen, die dem eigenen Leben Richtung, Maß, Wert, Sinn geben (Lyortard 1986: 65). Der Mensch als übendes Wesen, dessen Dasein weder individuell noch kollektiv sicher ist, hat nichts außer seiner Geschichte, wenn er danach fragt, was er tun kann, warum er es tun soll, wer er ist und was das Ganze soll (Sloterdijk 2009: 13). Das Bild ist die Welt noch einmal, hier kann der Mensch sich nachdenkend zuschauen beim übenden Entwurf seines Daseins. Bildkompetenzen üben hieße entsprechend, existentielle Elementarbildung zu betreiben.

Kompetenter Umgang mit Bildern verlangt die Fähigkeit, ihre Form zu erfassen und die so erzeugten Inhalte zu reflektieren. Geschichtlich ist diese Bildbetrachtung des Subjekts sowohl im Hinblick auf die Vergangenheit als auch im Hinblick auf die Zukunft. Vergangenheit wird relevant und gegenwärtig als Bezug von Bildtraditionen, die zur Erschließung des Werkes bedeutsam werden. Zukunft ist wesentlich, wenn Bildbetrachtung für das Subjekt biographische Bedeutung erlangt, mithin Einfluss ausübt auf seine Vorstellungen, auf sein Wissen, auf seine Haltungen und Wertebildungen, auf seine Wünsche und Träume. Pädagogische Bildbetrachtung, die auf das Subjekt in seiner Lebenswelt trifft und es bilden will, ist von dieser existentiellen Zeitlichkeit, von dieser biographisch gekoppelten Geschichtlichkeit geprägt.

Identität als problematisches Ziel

Geübte betrachtende Bildkompetenz könnte dem entgegen wirken, was Fredric Jameson als postmoderne „Kultur der Oberfläche“ beschrieben hat (Jameson 1986, S. 50). Er erkennt den Einfluss der elektronischen Medien als zentral für die Gesellschaften und Kulturen unterm globalen Kapitalismus. Sie führen zu einer Oberflächlichkeit der Wahrnehmung und des Denkens, die sich ausdrückt in einem „Verlust von Historizität“ und einer neuen emotionalen Grundstimmung, die er mit dem Begriff der „Intensitäten“ beschreibt. Dies sind punktuelle, ereignis-, oder genauer noch sensationsabhängige Stimmungen, die „frei im Raum flottieren“ und sich nicht mehr zu einer kohärenten, erlebten Erfahrung zusammenfügen. Unter dem permanenten Druck der sich beschleunigt wandelnden Bilder und Ereignisse bricht nicht nur die zusammenhängende Dauer einer Erfahrungskette zusammen. Die Sensationen der Medieninszenierungen und ihrer Derivate, der ‚Events‘, sind überdies ahistorisch, sie wurzeln in keiner überlieferten Tradition und transportieren keine geschichtlich gewachsenen Bedeutungszusammenhänge. Allenfalls sind sie aufbereitete Bruchstücke, Fragmente aus der Historie, die so zum Requisitenfundus für aktuelle Ästhetisierungen wird. In all dem ist die Identität des Subjekts gefährdet. Ohne vertiefte Erfahrungszusammenhänge, ohne geschichtliche Bezüge wird es zum „dezentrierten Subjekt“, dem Fähigkeit und Maß zur Orientierung verloren zu gehen drohen.

Wilhelm Schmid bezeichnet eine solche gefährdete Subjektivität als „multiples Selbst“ (Schmid 1998: 250 ff.) Interessanterweise ist für ihn Identität aber keine erstrebenswerte Alternative. Versteht man den Begriff so, dass er das Streben nach Einheit meint, nach Identifikation mit einer Tradition, einer Weltanschauung, einer geografischen oder kulturellen Herkunft, dann birgt Identitätsstreben die Gefahr der Ausgrenzung des Fremden, Anderen, eine Gefahr, die gewalttätige Formen bis zum fundamentalistischen Terrorismus annehmen kann. Beiden polaren Verfallsformen des Subjekts in der postmodernen Kultur der Vielfalt setzt Schmid das „kohärente Selbst“ gegenüber. Dieses beschreibt er so, dass es einen Persönlichkeitskern habe, der durch Veranlagung, Erziehung, Erfahrungen geprägt ist. Darum lagern sich unterschiedlich feste Schichten der Persönlichkeit an, die nach außen hin immer durchlässiger, mobiler werden. An den Rändern ist das kohärente Selbst offen für Neues, welches begutachtet, bedacht, beurteilt und unterschiedlich tiefgreifend Teil der Persönlichkeit wird. Dieses Modell des Subjekts ist dynamisch angelegt, das Selbst arbeitet stets an der Kohärenz seiner Teile, die Begegnung mit Neuem fordert es heraus, dieses zu seinen bisherigen Schichten und Seiten in Beziehung zu setzen. Das ist eine kreative Leistung, eine Weise der permanenten Selbstgestaltung, bei der die Begriffe Freiheit und Wahl eine wesentliche Rolle spielen.

Kunst und Bildung

Die Dynamik des kohärenten Selbst ist eine gegenwärtige Charakterisierung dessen, welches eine menschliche Grundherausforderung ist: die Kunst, sein Leben zu führen. Prominent sind die Beschreibungen des Menschen als Künstler, nicht nur Beuys‘ Diktum weist darauf hin Nietzsche erkannte inmitten der Krise der expandierenden Moderne im 19. Jahrhundert „die Kunst, nur die Kunst als große Ermöglicherin des Lebens“ (Nietzsche 1994: 692), Schiller schilderte sie zuvor weniger tragisch als das eigentliche Zu-sich-selbst-Kommen des Menschen, „der nur da ganz Mensch ist, wo er spielt“, und er spielt mit all seinen Fähigkeiten in der Kunst (Schiller 1979: 63). Er setzte die Hoffnung auf moralische Erneuerung, indem in der Kunst der Mensch sinnliche Anschauung und Anteilnahme mit rationaler Reflexion verbinde.

Wenn von künstlerischer Bildung die Rede ist, dann sind dies die Bezüge, die relevant sind. In ihr geht es um die Bildung künstlerischer Fähigkeiten auf künstlerische Weise. Künstlerische Fähigkeiten unter der Maßgabe des existentiellen Kunstbegriffs meinen nicht die Fähigkeit zum Malen, Musizieren oder Dichten. Sie erschöpfen sich aber auch nicht in der Bildung von Bildkompetenz, jedenfalls nicht in der zumeist diskutierten Form. Künstlerische Bildung zielt auf die Fähigkeit zum künstlerischen Denken und Handeln. Sie will den Einzelnen befähigen, jeweils seine „kleine Erzählung“ von Sinn und Bedeutung zu entwickeln. Dabei klammert sie die Bildrezeption keineswegs aus. Aber sie integriert diese in einem Curriculum, in welchem die Gestaltungsarbeit als Herzstück des künstlerischen Handelns den Kern bildet.

Integration von Wissen und Gestalten – ein Beispiel

Im künstlerischen Projekt „Kopf mit Geschichte“ in einer Klasse 9 an einem Gymnasium formten die Schülerinnen und Schüler, ausgehend von selbst hergestellten Zufallsformen und ihrer Ausdeutung, daimonische Köpfe (Buschkühle 2005: 10 – 13). Es waren Köpfe, die menschliche mit tierischen Attributen verbanden, denn solche Figurationen lasen die Schüler aus den Frottagen, Farbflecken oder Tonklumpen heraus (Abb. 1 und 2). Die dreidimensionale Ausarbeitung des so inspirierten und zunächst skizzierten Kopfes erforderte neben der Übung handwerklicher Fertigkeiten insbesondere die recherchierende Auseinandersetzung mit relevanten Kontexten. Dazu gehörte die Naturbeobachtung am Objekt: Präparate aus der Biologie-Sammlung etwa erlaubten genaue Beobachtungen, wie z.B. Hörner aus Schädeln wachsen oder wie der ‚Raubtierblick‘ bei Greifvögeln zustande kommt. Zwischenwesen zwischen Mensch und Tier führen aber zugleich hinein in die Kulturgeschichte. Beispielsweise der Teufel ist in der christlichen Ikonographie ein solches Wesen. Michael Pacher zeigt ihn, wie er dem hl. Augustinus die Bibel hält, aufrechten Ganges wie ein Mensch, aber voller Attribute wilder Tiere wie Hörner, Hufe, Reißzähne (und ‚Arschgesicht‘ wie die Schüler schnell anmerkten) (Abb. 3). Der Teufel kommt nicht von ungefähr, die Dämonen der Antike, wie z.B. der Minotaurus, gehören zu den Vorgängern. Und er kehrt wieder, z.B. im Kino oder in Computerspielen, Verkörperung des Bösen durch Attribute des Wilden und auch Morbiden, wie z.B. bei den Orks, den Wesen der Unterwelt im „Herrn der Ringe“ (Abb. 4). Auch Autos haben dämonischen Charakter, z.B. der ‚böse Blick‘ von sportlichen Wagen, die auf entsprechende psychologische Wirkung designt sind.

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Abb. 1 und Abb. 2: Schülerarbeiten „Kopf“

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Abb. 3: Michael Pacher: Der Teufel und der hl. Augustinus; Abb. 4: ‚Orks‘ aus dem ‚Herrn der Ringe‘

Diese „crossmedialen“ und „bildhistorischen Bezüge“ wurden im Verlauf des Projekts im Klassengespräch erkundet und besprochen (Niehoff 2011: 206f), zu einem Zeitpunkt, als die SchülerInnen ihre eigenen Kopf-Imaginationen schon ein gutes Stück weit ausgearbeitet hatten. Die themenorientierten kulturgeschichtlichen Bezüge ordneten ihr eigenes Tun in weitere Zusammenhänge ein. Für diese historische wie aktuelle Kontextualisierung waren sie umso empfänglicher, als sie selbst ja in einer verwandten Thematik gestalteten. Zugleich nahmen sie sich, bei Bedarf, Anregung für die Ausdifferenzierung der eigenen Arbeit bei den Figurationen, die Gegenstand der Betrachtung im Unterricht waren oder bei solchen,  die sie, angeregt dadurch, selbst im Internet oder in Kunstgeschichtsbänden recherchierten. Im weiteren Verlauf des Projekts, welches ein Halbjahr lang dauerte, erfanden die Schüler zu ihren Köpfen adäquate Körper, verfassten in Partner- oder Gruppenarbeit zu den so entstehenden (gemalten, gezeichneten, collagierten oder aus Ton geformten) Figuren Geschichten, aus denen sie zum Schluss das Bild eines dramatischen Augenblicks der Handlung erarbeiteten. Um eine Bilddramatik zu erzeugen, gibt es überlieferte und immer wieder variierte ästhetische Strategien. Wir untersuchten diese exemplarisch am Beispiel der Barockmalerei (Abb. 5 ) und eines Comic. Nahsicht auf die handelnden Bewegungen der Figuren im zentralperspektivischen Raum forderte die Schüler zu dramatisierten Bildimaginationen und Transformationen ihrer Figuren heraus (Abb. 6 ). So trat an die Stelle des bewusstlosen Konsums dramatischer Bilderwelten für die Schülerinnen und Schüler die Herausforderung der Anwendung und Modifizierung wirksamer Strategien in der eigenen Bildinszenierung (Abb. 7 und 8).

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Abb. 5: Caravaggio: Die Berufung des hl. Matthäus; Abb. 6: Comic

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Abb. 7: Schülerarbeit (Digitale Montage); Abb. 8: Schülerarbeit (Malerei)

Erweiterte Bildkompetenz

Dabei übten sie fortwährend Elemente künstlerischen Denkens: Die aufmerksame, einfühlsame Wahrnehmung der Figuren, ihres Ausdrucks, der Dramatik der Bildhandlungen, die kritische Reflexion von relevanten Kontexten und die eigenständige Imagination beim Entwerfen und Ausformulieren ihrer eigenen Bildwerke wie auch bei der Bildung von Vorstellungen, die durch die Betrachtung von Bildern anregt wurden. Reflexion meint im Zusammenhang künstlerischer Auseinandersetzung nicht nur das distanzierte Bedenken von bedeutsamen Zusammenhängen, wie z.B. stilgeschichtlicher und motivgeschichtlicher Aspekte und Verschiebungen, sondern ausdrücklich auch die Rückbeziehung der erkundeten Zusammenhänge auf die eigene Person. Kritische Bildrezeption wie Bildproduktion fordert den betrachtenden wie den formenden Autor dazu auf, eine Haltung zu den Dingen zu gewinnen, eine Position zu den Darstellungen und Problemstellungen zu entwickeln. Kulturgeschichtliche Bezüge sind so nicht nur Wissensaneignung und gegebenenfalls kulturelle Orientierung, sondern zugleich Motive, Impulse, die aufgegriffen werden für eigene Zwecke, Intentionen. Sie werden im Rahmen des Gestaltungsprozesses ausgewählt, beurteilt, modifiziert für eigene Aussageproduktionen.

Wie die Skizze des Beispiels „Kopf mit Geschichte“ andeutet, sind künstlerische Erzählungen interdisziplinär ausgerichtet, zumindest, wenn sie sich mit bestimmten inhaltlichen, lebensweltlichen, kulturgeschichtlichen Themen befassen. Die künstlerische Erzählung konfrontiert das Subjekt mit neuen Zusammenhängen, die es verknüpfen und transformieren muss. Sie übt so die Integration von Wissen und Gestalten, macht historisches Wissen produktiv und individuelle Gestaltung fundiert. Sie übt Elemente eines künstlerischen  Denkens wie Wahrnehmung, Reflexion und Imagination, welche zum Einsatz kommen im Gestaltungsprozess des Werkes, der als Übung der kleinen Erzählung zugleich eine Übung des Bemühens des Subjekts um Kohärenz seiner Auffassungen, Kenntnisse, Vorstellungen und Absichten ist.

Künstlerische Bildung, die auf die Bildung der Fähigkeiten zur Lebenskunst abzielt, legt ein erweitertes Verständnis von Bildkompetenz nahe. Ganz grundsätzlich verstanden, ist, was wir als Welt oder Wirklichkeit bezeichnen, ein Bild, was wir uns davon machen. Bildkompetenz, die in künstlerischer Bildung geübt wird, ist die Fähigkeit zur permanenten Formung des Selbst- und des Weltbildes des kohärenten, dynamischen Subjekts.

Literatur

Bering, Kunibert (2009): Orientierung in Kunstpädagogik und Bildkultur, in: Cornelia und Kunibert Bering: Konzeptionen der Kunstdidaktik. Dokumente eines komplexen Gefüges, Oberhausen (3. Aufl.)

Buschkühle, Carl-Peter (2005): Kopf mit Geschichte, in: Kunst + Unterricht 295/2005

Fredric Jameson (1986): Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg

Lyotard, Jean-Francois (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz, Wien

Niehoff, Rolf (2011): Bildung – Bild(er) – Bildkompetenz(en): in: Cornelia und Kunibert Bering: Konzeptionen der Kunstdidaktik. Dokumente eines komplexen Gefüges, Oberhausen (3. Aufl.)

Nietzsche, Friedrich (1994): Werke in drei Bänden, München

Schiller, Friedrich (1979): Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart

Wilhelm Schmid (1998): Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt am Main

Peter Sloterdijk (2009): Du musst Dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main

Von Carl-Peter Buschkühle

Veröffentlicht am 24. November 2014

Zitiervorschlag

Buschkühle, Carl-Peter: Bildkompetenz durch künstlerische Bildung, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2014. Quelle: https://zkmb.de/bildkompetenz-durch-kuenstlerische-bildung/; Letzter Zugriff: 13.11.2024

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