Bildungen des Ungewussten oder: How to do Anmut

Während meines Vortrags, auf dem dieser Text aufbaut, lief zwischenzeitig im Hintergrund für die Zuhörer*innen sichtbar (aber ohne Ton) eine Zusammenstellungen kurzer Sequenzen aus dem Dokumentarfilm Gerhard Richter Painting1. Die Kompilation reihte diverse Szenen aneinander, in denen Gerhard Richter im Film großformatige Ölgemälde mit Spachteln sowie großen Rakeln bearbeitet. Im Anschluss an den Vortrag ließ Karl-Josef Pazzini mich wissen, die Filmausschnitte hätten ihn an die Stichworte „Anmut und Grazie“ erinnert, an den Dornauszieher2 in der Adaption in Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater (Kleist 1964). Diese Assoziation möchte ich aufgreifen und zum Anlass nehmen, Zusammenhänge zwischen künstlerischer Bildung und verkörpertem Wissen aufzuzeigen. Daran anknüpfend werde ich den Versuch unternehmen, den scheinbaren Widerspruch von singulärer Anmut und systematischer Wiederholung in ästhetischen Praktiken aufzulösen oder zumindest in eine weniger widersprüchliche Relation zu setzen. Anmut, so möchte ich zeigen, lässt sich als Indiz für das Wirken impliziten Wissens in ästhetischen Praktiken verstehen. Dabei bediene ich mich der Figur der Bildungen des Ungewussten (anspielend auf Freuds Bildungen des Unbewussten3) nicht nur, um das hier relevante Wissensregister anders zu konturieren, sondern auch, weil der Begriff der Bildungen in meinem Fokus in einem übertragenen Sinne gebraucht wird, der vom Freud’schen Terminus abzugrenzen ist.

 

Bildend wirksam

„Die Bildungen des Unbewussten“, so schreibt Pazzini in Bildung vor Bildern, „sind dasjenige an Bildern, was bildend wirksam werden kann. Bildungen des Unbewussten sind Abkömmlinge jenes Unbeschreiblichen, das sich über den Rand des Unvorstellbaren so gerade eben ins Imaginäre und Symbolisierbare hat vorarbeiten können: in Form von Fehlleistungen, Träumen, Symptomen“ (Pazzini 2015: 33). In der Kunst-Rezeption konfligiert die Neigung, das scheinbar Offensichtliche in imaginäre Wissensformationen einzuordnen, mit dem, was darin an symbolischen Inhalten erfahrbar wird. Ist das aus diesem Konflikt entstehende Befremden weder zu groß noch zu klein, besteht eine Chance auf Bildung. So ungefähr hat es Karl-Josef Pazzini u. a. am Beispiel Shirin Neshats aufgezeigt (ebd.: 209ff.). In dem Abschnitt über Symbolisches Wissen formuliert er ferner: „Kunst hat eher die Darstellung des Auftauchens und der Existenz dieses Wissens zum Gegenstand sowie die Möglichkeiten von dessen Darstellung (medialer Aspekt) als gleichzeitiger Produktion von Wissensbeständen und Regeln des Umgangs (Gesetze) mit dem Wissen“ (ebd.: 214). An jenem Auftauchen sind sowohl Künstler als auch Betrachter beteiligt, indem jeder künstlerischen Arbeit ein Spektrum möglicher Erfahrungen immanent ist, welche in ihrer Singularität weder vorhergesehen noch intendiert werden können. „Symbolisches Wissen“, so Pazzini, „ist ein dem Subjekt unbekanntes und unbewusstes Wissen, es verdankt sich dem Eingetauchtsein des Subjektes in ein symbolisches Universum. Und das ist es, was sich wie eine Bildung des Unbewussten an den Rändern der künstlerischen Arbeit zu artikulieren versucht […]“ (ebd.: 212). Das betrifft Produzenten und Rezipienten insofern als beide jenen Artikulationen ausgesetzt sein können und insofern als Rezeption immer auch produktive Momente impliziert.

In meinem Beitrag möchte ich den Prozess der Herstellung künstlerischer Arbeiten fokussieren, der sich von der Rezeption insbesondere darin unterscheidet, dass ihm ästhetische Praktiken im engeren Sinne künstlerischer Produktionsprozesse zugrunde liegen. Solche Praktiken sind als materiale und körperliche Darstellungsverfahren in ihren Ausprägungen und Funktionsweisen unmittelbar von symbolischem Wissen berührt, wenn nicht wesentlich beeinflusst. Dennoch ist hier, so meine These, auch ein anderes Wissensregister bildend wirksam, zumindest im engeren Sinne von gestalterisch, bildgebend. Gemeint ist ein verkörpertes Wissen über das performative Zusammenspiel von Handeln und Wahrnehmen innerhalb der spezifischen Medialität jeweiliger ästhetischer Praktiken. Begrifflich möchte ich an Michael Polanyis Konzeptualisierung eines stillen oder schweigenden Wissens (tacit knowing4) anknüpfen (vgl. Polanyi 2009). Der Vorteil, den der Begriff des tacit knowing in produktions-ästhetischer Perspektive bietet, liegt in seiner Fokussierung auf das jeweils handlungs- (und wahrnehmungs-)spezifische knowing-how (Ryle 1949: 16-20) oder, wie es bei Schön (1983: 49ff.) heißt, knowing-in-action, das wiederum die Spezifik konkreter ästhetischer Praktiken auszeichnet. Tacit knowing ist Wissen über und zugleich konstitutiv für die Medialitäten solcher Praktiken und deshalb wesentlich an der Bildung im Sinne der Entstehung, der Sichtbarwerdung künstlerischer Arbeiten beteiligt.

 

Schweigendes und Symbolisches

Hinsichtlich der Referenzen auf die Psychoanalyse liegt es nahe, das schweigende Wissen mit dem Register des Symbolischen zu vergleichen. Wenn auch eine präzise Unterscheidung schwierig scheint, hilft die begriffliche Alternative das hier thematisierte Bedeutungsspektrum wenigstens etwas einzugrenzen. So ließe sich skizzieren, dass sich (an Bildern bildend wirksames) symbolisches Wissen eher auf inhaltliche Bereiche bezieht, auf solche des Thematischen, des Sujets, vielleicht auch auf konzeptuelle, während tacit knowing als praxisbezogenes Erfahrungswissen eher auf handwerklich-technischer, medialer Ebene und in den entsprechenden Handlungs- und Wahrnehmungsprozessen eine Rolle spielt. Ich nehme an, dass beide Wissensregister einander beeinflussen, teilweise untrennbar sind, dass es jedenfalls fließende Übergänge gibt. Denn praktisches künstlerisches Arbeiten ist nie rein materiell, sondern immer auch verflochten mit Inhalten gedanklicher oder mentaler Ebenen, die bis ins Symbolische reichen. Ein Beispiel dafür liefert Daniel Richter, der in einem Interview im Süddeutsche Zeitung Magazin erzählt, beim Malen denke er an Menschen, an denen er hänge. Und an Sachen, die er gelesen habe. „Als Student“, so schildert Richter weiter, „habe ich beim Malen an Über-Ich-Instanzen gedacht. Das waren natürlich die Lehrerfiguren und meine Vorbilder in der Malerei.“ (Richter 2015) Nun wäre an Daniel Richters frühen Arbeiten zu zeigen, inwiefern stilles Wissen um „rein“ produktionsästhetische Prozesse nicht völlig frei und unabhängig von Symbolisierungen gedacht werden kann – sofern sich das zeigen ließe.

 

Implizites Wissen als Nicht-Wissen

Als ich einmal mit Karl-Josef Pazzini darüber sprach, zu implizitem Wissen arbeiten zu wollen, wies er mich darauf hin, dass zu differenzieren sei zwischen implizit, unbewusst und „ungewusst“. Erst kürzlich schickte er mir einen Link zu einer Episode der Online-Serie From Sketch5, in der die Dramaturgin Hannah Hurtzig das Konzept des Schwarzmarktes für nützliches Wissen und Nicht-Wissen6 erläutert. Dabei spricht sie über Nicht-Wissen „als etwas, was man noch nicht weiß oder wieder vergessen hat. Man könnte sagen, auch etwas, was man weiß auf eine nicht sagbare Weise. Man kann auch sagen: Wir leben von nicht bewusst gewordenen Erinnerungen.“7 In dieser skizzenhaften Darstellung klingen mehrere Kategorien und Charakteristika impliziten Wissens an, die Georg Hans Neuweg unterscheidet. Wissen „auf eine nicht sagbare Weise“ lässt sich mit tacit knowing fassen, das Neuweg unter der Überschrift „Unbewusste Verhaltenssteuerung und Intuition“ (Neuweg 1999: 12) als nur eine unter mehreren Bedeutungen herausstellt, die unter dem Label Implizites Wissen kursieren. Eine weitere Bedeutungsebene ist die des impliziten Gedächtnisses, von dem gesprochen wird, „wenn Lernerfahrungen aus der Vergangenheit funktional wirksam werden, […] ohne jedoch bewußt erinnert zu werden oder überhaupt erinnert werden zu können“ (ebd.: 14). Hier werden noch einmal die fließenden Übergänge zu den Registern der Psychoanalyse deutlich. Sowohl unbewusste Verhaltenssteuerung als auch das implizite Gedächtnis schneiden das Symbolische. Auch Hurtzigs Formulierung der „nicht bewusst gewordenen Erinnerungen“ betrifft symbolisches und schweigendes Wissen gleichermaßen. So wie wir von diesen unbewussten Erinnerungen „leben“, so leben ästhetische Praktiken (auch) vom impliziten Gedächtnis. Auf der medialen und damit auch körperlichen Ebene wirkt tacit knowing als Triebfeder für die Initiation und Fortführung gestalterischer Prozesse. Die mediale Erfahrungsebene ist eine wesentliche Bedingung für die Möglichkeit künstlerischer Symbolisierungen und mit ihnen eng verflochten. Die Kategorien „implizit“ und „unbewusst“ sind damit zumindest grob in ein Verhältnis gesetzt (und dabei eher aufgeweicht als präzise nuanciert worden).

Was aber kann „ungewusstes“ Wissen sein? Nimmt man es buchstäblich, wäre darunter, wie Hurtzig beschreibt, das zu verstehen, was man noch nicht oder nicht mehr weiß. Ich plädiere dafür, darunter auch das zu fassen, was als nicht-formalisierbares8 Wissen aktiv wird, ohne dass es ein Wissen von diesem Wissen gäbe. Es würde auch nicht gebraucht, um handlungsfähig zu sein. Das englische tacit knowing liefert im Unterschied zum deutschen stillen Wissen die Bedeutung von können gleich mit. Könnerschaft und Expertise basieren auf solchem „Nicht-Wissen“9. Im Unterschied zum Lernen von Fakten oder intentional anwendbarer Daten bedeutet die Ausprägung einer Könnerschaft im künstlerischen Arbeiten nicht eine Anreicherung von Wissensbeständen bis zu einem bestimmten messbaren Mindestlevel. Wie in den Bereichen des vermeintlich gefestigten imaginären und des unbewussten symbolischen Wissens sehe ich auch tacit knowing wesentlich durch permanente Um- und Überschreibungen gekennzeichnet. Erfahrungen und Reize, die ein aktuell wirksames Wissen einem permanenten Wandel aussetzen, werden ihrerseits verzögert in fortlaufenden oder späteren Darstellungsprozessen wirksam, unberechenbar, irgendwo zwischen einer fast unmittelbaren Zukunft und einer ferneren. In Anlehnung an Hurtzig könnte man von einem Noch-nicht-Wissen sprechen, das die zeitliche Struktur eines Wissens beschreibt, das sich als solches erst im Prozess seiner Darstellung formiert. „Ungewusst“ lässt sich so auch auslegen als das in einem früheren Status (vor der Präsentation) nicht Wissbare (nicht einmal unbewusst). Ein in unbewussten Erfahrungen angelegtes potenzielles Wissen kann sich als solches erst nachträglich herausstellen und zwar dann, wenn diese Erfahrungen praktisch relevant geworden sein werden. Das zunächst Ungewusste wird dann als solches bereits bildend10 wirksam gewesen sein.

 

Zum Beispiel Malerei – Gerhard Richter Painting

Der Anschauung halber und weil ich darüber am ehesten auch aus eigener Erfahrung schreiben kann, möchte ich meine Ausführungen über tacit knowing kurz am Beispiel der Malerei verdeutlichen.11 Ich nehme folgendes an: Ein Maler macht im Malprozess Beobachtungen und Erfahrungen mit der Performativität des Materials im Zusammenspiel mit motorischen Abläufen. In einer Verschachtelung aus haptischen, visuellen, mentalen Reizen reihen und überlagern sich auf Mikroebene ästhetische Erfahrungen zu einer Art ErfahrungsStream als Teil einer wechselseitigen Fortschreibung zwischen Handeln und Wahrnehmung der Effekte des Handelns. Auf dieses permanente Feedback antwortet12 der Maler, trifft Entscheidungen, lässt sich verleiten, verändert, verfeinert oder verwirft ein konkretes Vorgehen z. B. im Farbauftrag, in der Wahl, der Mischung der Farben, ihrer Komposition, in der Handhabung des Pinsels oder anderen Werkzeugs und so weiter. Solcherlei Antworten füttern den weiteren Malprozess, liefern den Stoff, die nötigen Varianten für wiederum neue Erfahrungen. In dieser Feed-forward-Feed-back-Schleife (vgl. Iser 2002: 254) wird Wissen wachgerufen, angewandt, erweitert oder modifiziert, angeeignet, abgelegt oder ersetzt. Das umfasst sicherlich auch bewusste Wissensinhalte. Meine These ist aber, dass es sich hier großenteils um implizites Wissen handelt, über das der Maler nicht (voll umfänglich) intentional verfügt.

Das lässt sich am Beispiel Gerhard Richters im Dokumentarfilm Gerhard Richter Painting von Corinna Beltz (2009) ausführen. In den Ausschnitten, die ich während meines Vortrages gezeigt habe, ist Richter bei der Arbeit an einigen seiner vielzähligen Abstrakten Bilder13 zu sehen. In den kurzen Sequenzen14sehen wir Richter jeweils beim Auftrag einer neuen Farbschicht bzw. bei der Verwischung der zuletzt aufgetragenen Farbschichten auf den großformatigen Leinwänden mithilfe entsprechend großformatiger Rakeln (vgl. Abb. 1). In einigen Abschnitten trägt Richter außerdem Farbe mit einem großen Spachtel ab. Dieses Vorgehen folgt auf immer gleiche Arbeitsschritte: Mit großen Pinseln werden recht flächige Grundierungen angelegt, die zunächst u. a. mit kleineren Rakeln immer wieder verwischt und übermalt werden. Für großflächige Farbaufträge mit den Rakeln wird zunächst Ölfarbe in Mengen, die einen pastosen Stil versprechen, direkt auf das Werkzeug aufgetragen. Der Druck, der auf das Werkzeug ausgeübt, und der Winkel, in dem es zur Leinwand gehalten wird, sind die wichtigsten Parameter, die Richter beim Farbauftrag unmittelbar beeinflussen kann. Dabei verlangen die großen Formate der Gemälde vollen Körpereinsatz15. Die Bewegungen reichen von der Streckung bis in die Beuge. Bis zu fünf kleine Schritte macht Richter entlang eines Gemäldes, während er einen Spachtel darüber zieht. Mal mit Leichtigkeit, mal unter sichtbar größerem Kraftaufwand treibt der Maler seine Werkzeuge über die Leinwand.

Diese Arbeitsschritte mit ihren Bewegungsabläufen, darin enthaltenen Entscheidungen und Toleranzen sind (sowohl einzeln als auch im Arrangement) aus Erfahrungen etlicher Wiederholungen mit beabsichtigten und unbeabsichtigten Variationen zu Routinen erwachsen.16 Diese Routinen sind allerdings nicht fest eingefahren und unveränderlich, sondern konstitutiv offen.

In Anlehnung an Sybille Krämer (2002) gesprochen, verdanken sie ihre Offenheit immer neuen Erfahrungen mit der spezifischen Performativität des Mediums, die sich im jeweiligen Zusammenspiel von Farbe, Leinwand, Pinsel, Rakel oder Spachtel artikuliert. Aus der Wiederholung und Anreicherung solcher Erfahrungen speist sich ein implizites Wissen über mediale und prozedurale Eigenschaften einzelner Malhandlungen und -urteile, die Richter im Interview nicht in Worte zu fassen vermag17, denen er aber gerade deshalb nachgeht: In einem früheren Interview, das im Film gezeigt wird, erklärt Richter: „Im Übrigen interessiert mich – und das betrifft das Malen, das Was und Wie – überhaupt nur das, was ich nicht kapiere. Und so geht mir’s auch mit jedem Bild. Ich finde die Bilder schlecht, die ich begreifen kann.“18 Jenes, was Richter interessiert, könnte, bezogen auf die handwerklich-technische Ebene der Bildproduktion, all das einschließen, was sich einer bewusst intendierbaren Reproduktion entzieht. Richter setzt in den Abstrakten Bildern auf z. T. nur sehr eingeschränkt kontrollierbare Zufallstechniken. Grazie und Anmut stecken hier in der Unnachahmlichkeit einzelner Momente des Malprozesses, in den rhythmischen, immer ähnlichen, aber nie gleichen Bewegungen, zumindest in manchen. (Gibt es dafür Kriterien?) Vielleicht sehen wir auch das sehnsüchtige Bestreben nach der (Wieder-)Herstellung jenes einzigartigen genialen Moments, das einmal gewesen war.

Abb. 1: Filmstills aus ‚Gerhard Richter Painting‘

Anmut und Grazie – Der Dornauszieher

In der Erzählung Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater (Kleist 1964) gelingt diese Reproduktion nicht. In der Haupterzählung schwärmt ein Tänzer von den Vorzügen der Marionetten gegenüber den menschlichen Tänzern. Die Puppen seien „antigrav“, unwissend über die Trägheit der Materie (ebd.: 8). Als größten Gegner von Anmut und Grazie19 nennt er die menschliche „Ziererei“, die erscheine, „wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung“ (ebd.). Zu einem späteren Zeitpunkt des Dialogs erwidert Kleists Ich-Erzähler, dass er „gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet“ (ebd.: 9) und berichtet von der Begegnung mit einem jungen Mann: Nach einem Bad habe sich dieser, so die Erzählung in der Erzählung, als er seinen Fuß auf einen Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, beim Blick in den Spiegel an die Statue eines Jünglings erinnert, „der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht“ (ebd.). Der Dornauszieher20 (vgl. Abb. 2) scheint als eine Art Standardreferenz für das gelungene Festhalten einer natürlich anmutigen Haltung oder Bewegung zu gelten. Auch der Erzähler gibt an, die Ähnlichkeit mit der Statue entdeckt zu haben, die der junge Mann und er erst kürzlich gemeinsam gesehen hätten. Von dieser Ähnlichkeit narzisstisch verzückt und um sie dem Älteren nochmals vorzuführen, versucht der Junge vergeblich, seine Bewegung zu wiederholen, „hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen […]“ (ebd.: 10). Infolge dieser Erfahrung wird dem „jungen Menschen“ sogar eine „unbegreifliche Veränderung“ attestiert: „Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen […]“ (ebd.). Jene Freiheit scheint eine wesentliche dieser kaum zu bestimmenden Qualitäten von Anmut und Grazie zu sein. Auch Schiller schreibt, Grazie sei „immer nur die Schönheit der durch Freiheit bewegten Gestalt […]“ (Schiller 1949: 19) – frei von Zwang, Willkür, Reflexion. Grazie lässt sich mit Schiller verstehen als verkörperte Empfindung: „Der Anteil nun, den der Empfindungszustand der Person an einer willkürlichen Bewegung hat, ist das Unwillkürliche an derselben, und er ist auch das, worin man die Grazie zu suchen hat.“ (ebd.: 22)

Abb. 2: Kapitolinischer Dornauszieher

Wiederholung, Reflexion, Irritation

Kleists Erzählung postuliert eine prinzipielle Nicht-Wiederholbarkeit der anmutigen Bewegung, die – gewollt und mit der Absicht einer bestimmten Wirkung – zur missratenen Pose verkommt. Dabei scheint vor allem die Reflexion im Dienste einer bewussten Bestrebung alles Anmutige auszuschließen. Was bedeutet das beispielsweise für die Rolle der Anmut in der abstrakten Malerei Gerhard Richters? Technisch gesehen folgt mit seinen Gemälden im Film eine Wiederholung auf die andere. Obendrein behaupte ich, dass die Vielzahl an Wiederholungen reflexive Prozesse evoziert, wenn sie, wie im Beispiel der Malerei, immer wieder in Darstellungen gerinnt. Es gibt nicht die ideale Wiederholung. Die zeitliche Verschiebung und die zunehmende Routine (verändertes implizites Wissen) führen zu einer reflektierbaren Differenz zwischen einer Wiederholung und ihren Vorgängern. Richters malerische Praxis unterscheidet sich von den Wiederholungen und Reflexionen des jungen Mannes vor dem Spiegel allerdings darin, dass Wiederholungen mit teils willkürlichen, teils unwillkürlichen Varianten Voraussetzung für das Fortschreiten der Praktik sind. Die Ausführung und -prägung einer ästhetischen Praktik verfolgt ästhetische Ansprüche, die nur performativ formiert werden können (vgl. Sabisch 2007: 233). Tacit knowing als Essenz der spezifischen Bewegungen in ästhetischen Praktiken kann nur über Wiederholungen angeeignet werden, die damit im Dienste von Übung und Experiment eine Grundlage bilden für die Möglichkeit von Anmut und Grazie im künstlerischen Arbeiten.

Die Bewegungen des Jünglings vor dem Spiegel verfolgen hingegen nicht die ästhetischen Ansprüche einer künstlerischen Praxis, sondern eine Aufführung nach dem Vorbild einer Erinnerung. Es muss also unterschieden werden zwischen der Wiederholung als unmöglichem Versuch der idealen Reproduktion einer vergangenen Bewegung mit zumindest unbewussten Anteilen (s. Schiller) und der Wiederholung um der Wiederholung willen als Prinzip künstlerischen Arbeitens. Davon ausgehend, dass sich ästhetische Praktiken grundsätzlich als responsive Prozesse charakterisieren lassen, liegt der Unterschied auch im Anlass und der damit verbundenen Struktur einer Wiederholungsfolge. Während die wiederholten Bewegungen des Jünglings durch den äußeren Blick gesteuert sind und jedes Mal am gleichen Punkt ansetzen, um sich immer an demselben imaginierten, festen Ziel zu messen, ist die Wiederholung der malereispezifischen Bewegungsabläufe durch ein Begehren angetrieben.21 Es speist sich (und kann nie gesättigt werden) aus den im Malprozess immer wieder sich (minimal) neu konfigurierenden medialen Bedingungen und Erfahrungsmöglichkeiten, die zu einem kontinuierlichen Antworten verleiten. Diese Antworten können nie abschließen, sind nie richtig oder falsch.

Wenn wir Grazie und Anmut im Sinne Schillers als körperlichen Ausdruck innerlicher Regungen verstehen, ist Anmut nicht lediglich eine für schön befundene körperliche Äußerung, sondern, so ließe sich übertragen, Anzeichen motorischer Übersetzungen impliziten Wissens. Diese Übersetzungen können gestört werden und zwar, so legt Kleists Erzählung nahe, durch bewusstes Hinterfragen von tacit knowing. In diesem Sinne stört, wenn auch indirekt, das filmische Setting des Richter-Dokumentarfilms das künstlerische Arbeiten andauernd. Der Film will zeigen, wie Richter arbeitet. Der Maler weiß das und wirft in Begleitung des Kamerateams plötzlich selbst einen anderen, anders fragenden Blick auf seine Malerei – den der Kamera. In einer Szene des Films bricht Richter den Malprozess ab und gibt preis: „Im Moment seh’ ich das so aussichtslos an, dass ich das hier kann, mit dem Malen unter Beobachtung. Das ist – so mit das Schlimmste, was es gibt.“22 In recht drastischen Worten bildet sich hier eine starke Irritation des gewohnten Malprozesses durch die Filmsituation ab. Zu viel Reflexion stört den Work-Flow, der nichts Anderes ist, als das von Unwillkürlichkeit durchsetzte Wechselspiel von Medium, Handeln und Wahrnehmen.

Rausch

Kleinste Irritationen verträgt der Fortgang einer ästhetischen Praktik. Sie sind ihm sogar zuträglich, wie ich anhand der produktiven minimalen Differenz der Wiederholungen gezeigt habe. Gegen zu große Irritationen, die es im schlimmsten Falle lähmen könnten, gilt es das Arbeiten zu schützen (wenngleich auch eine ausgemachte Krise produktive Wirkungen nach sich ziehen kann, vgl. z. B. Koller 2012; Pazzini 2010). An dieser Stelle möchte ich abschließend noch einmal auf Hannah Hurtzig zurückkommen, die in besagter Sendung nach dem „Rausch“ fragt, „in dem Aneignung [von Wissen, OW] möglich ist“. Er könne auf dem Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen nur dann erreicht werden, wenn man sich darauf verlassen könne, dass alle Teilnehmer „die Mittel, die Techniken und die Weisen des Nicht-Wissens anwenden – und zwar unverblümt. Und die Weisen des Nicht-Wissens sind Wiederholung, Glauben […].“23 Die Begriffe stehen bei Hurtzig zwar in einem anderen Kontext als dem des künstlerischen Arbeitens, nichtsdestoweniger erscheint es reizvoll, ihr Verhältnis zu übertragen: Dann diente im Beispiel der Malerei die permanente Wiederholung als unwillkürliche Strategie des impliziten Wissens zur Herstellung eines Rauschzustandes, der gegen Irritationen der gefährlichen Art schützt, die mitunter schädliche Reflexion im Arbeitsprozess hemmt und im besten Falle schwerelos macht, wie die anmutigen Marionetten.

 

Anmerkungen

[1] Belz, Corinna: Gerhard Richter Painting, Deutschland 2011, 101 min. Auf DVD erschienen in Berlin: Piffl, 09.03.2012.

[2] Vielfach ausgeführtes antikes Motiv insbesondere der Bildhauerei. Ein nackter Jüngling legt seinen linken Fuß über das rechte Knie und zieht darüber gebeugt einen (unsichtbaren) Dorn aus der Fußsohle.

[3] Vgl. z. B. Freud, Sigmund (1940): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. In: Freud, Anna et al. (Hrsg.): GW VI. London: Imago Publishing; oder: Lacan, Jacques (2006 [1957-1958]): Das Seminar, Buch V: Die Bildungen des Unbewussten. Berlin: Turia+Kant .

[4] Der englische Begriff sowie seine deutschen Übersetzungen tragen der charakteristischen Eigenschaft der Nichtverbalisierbarkeit oder zumindest der Unmöglichkeit einer vollständigen oder angemessenen Artikulation impliziten Wissens Rechnung (vgl. Neuweg 1999: 16, 22).

[5] „Für die Webserie ‚From Sketch‘ begleitet die Berliner Zentrale Intelligenz Agentur zusammen mit dem Partner ‚Interview-Magazine‘ spannende Protagonisten aus der Kreativszene bei ihrer Arbeit und bittet sie, ihr Projekt, ihr Werk oder ihr Geschäftsmodell in einer simplen Grafik zu skizzieren und im Interview zu erläutern. Bisher nahmen teil: Ingo Niermann, Tonia Welter, Rafael Horzon, Régine Debatty, Hannah Hurtzig, Ronen Kadushin und Erik Spiekermann“, http://creative.arte.tv/de/node/86441 [13.09.2016], ausgestrahlt auf Arte Creative 2011.

[6] „Der SCHWARZMARKT versteht sich als interdisziplinäre Recherche über das Lernen und Verlernen, das Wissen und Nicht-Wissen. Mit dem SCHWARZMARKT installiert die Mobile Akademie einen temporären Schau- und Produktionsraum, in dem erzählerische Formate der Wissensvermittlung ausprobiert und präsentiert werden.“, http:// www.mobileacademy-berlin.com/deutsch/2005/schwarzm.html [13.09.2016].

[7] Hurtzig (2011) in: From Sketch. Arte Creative, TC 00:01:08:00.

[8] Unter dem Merkmal der Nicht-Formalisierbarkeit führt Neuweg intelligentes Können auf, das „nicht nur aus psychologischen Gründen, sondern ‚seinem Wesen nach‘ in berichtbaren Regeln nicht angemessen abgebildet werden kann“ (ebd.: 17).

[9] Vgl. z. B. ebd.: 13; Schön 1983: 49, 276; Dreyfus/Dreyfus 1986: 55.

[10] Zumindest im o. g. Sinne.

[11] Einige Sätze aus diesem Absatz erscheinen teilweise in abweichenden Formulierungen auch in: Wollberg, Ole (2017): Knoten in der Timeline. Zur Zeitlichkeit bildnerischer Praktiken. In: Bracker, Jacobus/Jegodzinski, Tim (Hrsg.): Bilder. Zeitzeichen und Zeitphänomene. Onlinepublikation in: Visual Past. A Journal for the Study of Past Visual Cultures, Vol. 4.1, (in Vorbereitung).

[12] Im Sinne Waldenfels’ Konzeptualisierung der Erfahrung aus Pathos und Response.

[13] Viele von Richters Gemälden dieser Art tragen den Titel „Abstraktes Bild“.

[14] Es handelt sich um einen Zusammenschnitt aus Teilen von Sequenzen, deren zeitliche Reihenfolge im Vergleich zum Film teilweise verändert wurde.

[15] Die Seitenmaße der im Film bearbeiteten Gemälde bewegen sich überwiegend zwischen ungefähr zwei und drei Metern.

[16] In Abb. 1 wird andeutungsweise anschaulich, inwieweit von Wiederholungen die Rede sein kann.

[17] In einem Interview im Dokumentarfilm (Belz 2011) findet Richter beispielsweise keine Worte, um Kriterien zu beschreiben für das Urteil „Jetzt ist es ’n Bild“ (TC 00:54:12:00 bis 00:56:33:00). Vgl. dazu auch TC 00:09:19:00. Man könnte Richter als einem der prominentesten und erfolgreichsten (u. a.) gestischen Maler eine habitualisierte Mystifizierung des Malprozesses im Dienste einer ebenso habitualisierten Selbstinszenierung als Malergenie unterstellen. Aber vielleicht wäre ja gerade dieser Habitus ein Indiz dafür, dass (insbesondere gestische) Malerei auf implizites Wissen angewiesen ist, über das zu sprechen per se an seine Grenzen stößt.

[18] G. Richter in: Belz 2011, TC 00:09:46:12.

[19] Beide scheint Kleist weitgehend synonym zu verwenden.

[20] Siehe Anmerkung 2.

[21] Vielen Dank an Andrea Sabisch für den Hinweis.

[22] Richter in: Belz 2011, TC 00:46:19:10.

[23] Hurtzig (2011) in: Arte Creative. From Sketch, TC 00:07:16:00.

 

Literatur

Belz, Corinna (2011): Gerhard Richter Painting. Deutschland 2011, 101 min. Auf DVD erschienen in Berlin: Piffl, 09.03.2012.

Dreyfus, Hubert L./Dreyfus, Stuart E. (1986): Mind over Machine. The Power of Human Intuition and Expertise in the Era oft he Computer. New York: The Free Press.

Hurtzig, Hannah (2011) in: Arte Creative 2011: From Sketch, zitiert nach dem durch die Mobile Academy hochgeladenen Clip von 2013, 9 min. Online: https://www.youtube.com/ watch?v=x5Q65QFx22M [13.09.2016].

Iser, Wolfgang (2002): Mimesis und Performanz. In: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 243-261.

Kleist, Heinrich von (1964): Über das Marionettentheater. In: Grassi, Ernesto (Hrsg.): Über das Marionettentheater Zur Poetik. Ersch. i. d. Reihe: Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft. Deutsche Literatur, Bd. 14. Reinbek: Rowohlt, S. 5-12, zuerst in: Berliner Abendblätter 12.-15. 12.1810.

Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer.

Krämer, Sybille (2002): Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 323-346.

Neuweg, Georg Hans (1999): Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr- und lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis. Münster: Waxmann.

Pazzini, Karl-Josef (2010): Überschreitung des Individuums durch Lehre. Notizen zur Übertragung. In: Ders./Schuller, Marianne/Wimmer, Michael (Hrsg.): Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten. Bielefeld: Transcript, S. 309-327.

Pazzini, Karl-Josef (2015): Bildung vor Bildern. Kunst – Pädagogik – Psychoanalyse. Bielefeld: Transcript.

Polanyi, Michael (2009 [1966]): The Tacit Dimension. Chicago: University of Chicago Press edition (mit neuem Vorwort von Amartya Sen).

Richter, Daniel (2015) in: Michaelsen, Sven: Interview mit Daniel Richter: „Wenn es nach mir ginge, würden sich die Bilder selber malen“. In: Süddeutsche Zeitung Magazin. Heft 37/2015. Online: http://szmagazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/43547/2/1 [13.09.2016].

Ryle, Gilbert (1949): The Concept of Mind. London u. a.: Hutchinson.

Sabisch, Andrea (2007): Inszenierung der Suche. Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung. Bielefeld: Transcript.

Schiller, Friedrich (1949 [1793]): Über Anmut und Würde. Hamburg: Verlag Öffentliches Leben, zuerst in: Neue Thalia.

Schön, Donald A. (1983): The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action. New York: Basic Books.

 

Abbildungen

Abb. 1: Stills aus Gerhard Richter Painting (Belz 2011), Stills: Ole Wollberg.

Abb. 2: Kapitolinischer Dornauszieher, 1. Jahrhundert v. Chr., Bronze, 73 cm, Konservatorenpalast Rom. Foto: Jean-Pol Grandmont, 2011. Veröffentlicht in Wikipedia. Online: https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a9/0_Spinaro_-_Palazzo_dei_Conservatori%2C_Musei_Capitolini_%282%29.JPG [06.02.2017].

 

Von Ole Wollberg

Veröffentlicht am 14. September 2020

Zitiervorschlag

Wollberg, Ole: Bildungen des Ungewussten oder: How to do Anmut, in: Torsten Meyer, Andrea Sabisch, Ole Wollberg, Manuel Zahn (Hg.): Übertrag. Kunst und Pädagogik im Anschluss an Karl-Josef Pazzini, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2020. Quelle: https://zkmb.de/bildungen-des-ungewussten-oder-how-to-do-anmut/; Letzter Zugriff: 29.03.2024