Andrea Sabischs „bild- und medientheoretische Überlegungen zur Bildungstheorie“ gehen der Frage nach, was das „Mediale“ – d. h. in diesem Fall das „Bildliche“ – zu Bildungsprozessen im Sinne der Konstitution und Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen beitragen kann. Gestützt auf die Medientheorie Dieter Merschs analysiert Sabisch exemplarisch zwei Versionen des Werks 3 Sekunden von Marc-Antoine Mathieu, das sowohl als Comic wie auch als Computervideo vorliegt, und leitet daraus am Ende bildungstheoretische Konsequenzen ab, die sich als Ergänzung oder Weiterentwicklung der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse verstehen lassen.
Der folgende Kommentar bezieht sich vor allem auf diese bildungstheoretische Perspektive des Beitrags, weil hier der Schwerpunkt meiner Expertise und meiner eigenen Forschungsinteressen liegt. Die wichtigste Anregung für eine Weiterentwicklung der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse stellt die im Schlusssatz des Beitrags formulierte Aufforderung dar, „den sprachtheoretischen Legitimationen der Bildungstheorie bildtheoretische Grundierungen an die Seite zu stellen“. In der Tat spielen in der Konzeption transformatorischer Bildungsprozesse (vgl. Koller 2012) sprachtheoretische Begründungen eine zentrale Rolle. Im Zentrum dieser Begründungen steht die These, dass Welt- und Selbstverhältnisse (um deren Transformation es in Bildungsprozessen geht) in erster Linie sprachlich strukturiert bzw. – mit einem Begriff Paul Ricœurs – präfiguriert sind. Unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst, so die These, ist kein unmittelbares, sondern ein durch Sprache vermitteltes: geprägt durch den Wortschatz, die Grammatik und die Rhetorik der Sprache, die wir sprechen und die unser Denken und Handeln strukturiert. Demgegenüber lässt sich Sabischs Anregung als Aufforderung verstehen, der Bedeutung der gesprochenen oder geschriebenen Sprache für die Konstitution von Welt- und Selbstverhältnissen die Bedeutung gegenüberzustellen, die in dieser Hinsicht der „Sprache“ der Bilder, d. h. „visuelle[n] Konstellationen, Figurationen und Performanzen“ bzw. „Bildordnungen“ zukommt.
Diese Aufforderung besitzt ohne Zweifel hohe Plausibilität. Seit jeher ist unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst von den Bildern geprägt, die wir (und andere) uns von der Welt und uns selbst machen, und im Zuge der Entwicklung visueller Medien wie Film, Fernsehen, Video und Internet hat diese Prägekraft von Bildern noch einmal in dem Maße an Bedeutung gewonnen, wie die Zahl der Bilder angewachsen ist, mit denen wir täglich konfrontiert werden. Vor diesem Hintergrund kommt Bildern für (transformatorische) Bildungsprozesse eine doppelte Bedeutung zu. Auf der einen Seite können Bilder – wie Sabisch schreibt – ein „Anlass für Bildungsprozesse“ sein: dann nämlich, wenn sie mit einem „Entzug aus sprachnahen Symbolisierungsmodi“ (Pazzini) einhergehen, wenn sie uns sprachlos machen bzw. unser sprachlich präfiguriertes Welt- und Selbstverhältnis in Frage stellen. Sofern es zutrifft, dass Bilder unser Verhältnis zur Welt und uns selbst strukturieren, können Bilder aber nicht nur ein Anlass für die Veränderung dieses Verhältnisses sein, sondern stellen auch den Gegenstand oder das Medium dieses Transformationsgeschehens dar. Bilder sind also nicht nur das, was eine Transformation anstößt, bewirkt oder herbeiführt, sondern auch das, was transformiert wird: unser Bild von der Welt, von anderen und von uns selbst.
Eine Bildungsforschung, die von solchen Prämissen ausginge, müsste also versuchen, dieser doppelten Bedeutung von Bildern für Bildungsprozesse nachzugehen. Zu untersuchen wäre einerseits, welche Bilder auf welche Weise unser Welt- und Selbstverhältnis strukturieren bzw. präfigurieren. Andererseits gälte es zu analysieren, welche Bilder auf welche Weise unser Welt- und Selbstverhältnis in Frage stellen, indem sie uns die Welt oder uns selbst anders (bzw. auf eine andere Weise) zeigen, als wir beides bisher gesehen haben, und so dazu beitragen, unser bisheriges Welt- und Selbstbild zu transformieren.
Andrea Sabischs Text lässt sich als Beitrag zur letztgenannten Frage verstehen. Untersucht wird mithin, inwiefern der Comic bzw. der Film 3 Sekunden von Marc-Antoine Mathieu geeignet ist, das Welt- und Selbstbild der Betrachter*innen in Frage zu stellen. Inwiefern bieten „visuelle Konstellationen, Figurationen und Performanzen“ bzw. die „sequenziellen und topologischen Bildordnungen und Bildperformanzen“ des Werks einen Anlass, das Welt- und Selbstverhältnis der Leser- und Zuschauer*innen zu transformieren?
Eine explizite Antwort auf diese Frage bleibt der Text allerdings schuldig. Das hat meinem Eindruck nach auch damit zu tun, dass die medientheoretischen Überlegungen, die Sabisch unter Verweis auf Dieter Mersch anstellt, den Blick auf bildungstheoretische Fragen eher verstellen. Zwar erscheint die von Mersch vorgeschlagene Umstellung der Thematisierung der „Zugänge zum Medialen“ vom Medialen als einem „unhintergehbaren Apriori“ auf die konkreten medialen Praktiken und ihre Performativität durchaus aussichtsreich auch im Blick auf das Interesse an transformatorischen Bildungsprozessen – wäre doch dafür auch und gerade die Untersuchung der jeweiligen Praktiken des Umgangs mit Bildern relevant. Doch Merschs Überlegungen veranlassen Sabisch dazu, als Gegenstand ihrer Analyse ein Werk zu wählen, das in zwei verschiedenen medialen Formen vorliegt, nämlich zum einen als Comic, d. h. als Buch mit je neun Bildern pro Seite, zum andern als Film, der die gezeichneten Bilder in eine kontinuierliche Bewegung versetzt. Die vergleichende Analyse beider medialer Darstellungsformen ist wahrnehmungstheoretisch interessant und aufschlussreich – etwa im Blick auf die größeren Freiheitsgrade, die das Buch den Betrachter*innen einräumt, „die zeitliche und räumliche Organisation der Bildverknüpfung im sequenziellen Vergleich und in ihrer Verschiebung und Vergrößerung wahrzunehmen“, während der Film „das betrachtende Subjekt körperlich still[…]stellt“ und dessen Blick „durch das zentralperspektivische Zoomverfahren zwanghaft auf die Bildmitte fokussiert“.
In bildungstheoretischer Hinsicht liefert diese Analyse allerdings kaum Einsichten in Anlässe, Bedingungen und Verlaufsformen transformatorischer Bildungsprozesse, die vom Betrachten des Comics und/oder des Films ausgelöst werden (können) und über die durch den medialen Vergleich vermittelte Einsicht in die Differenz der Rezeptionsweisen von Buch und Film hinausgingen. Von den Hinweisen des Textes ausgehend lässt sich jedoch zumindest skizzieren, wie eine Bildungsforschung aussehen könnte, die durch Bilder ausgelöste transformatorische Bildungsprozesse untersucht. Interessant in dieser Hinsicht wäre weniger der Vergleich unterschiedlicher medialer Präsentationsweisen (wie Comic vs. Film) als vielmehr die Untersuchung der Frage, welche Bilder welcher medialen Form auf welche Weise etablierte Welt- und Selbstbilder in Frage stellen. Das würde allerdings nicht nur solche Bilder als Untersuchungsgegenstand erforderlich machen, die geeignet sind, etablierte Welt- und Selbstbilder zu irritieren, sondern auch ein Verfahren, das es erlaubt, jene Bilder zu ermitteln (und zu analysieren), die das Welt- und Selbstverhältnis der Betrachter*innen präfigurieren und die in transformatorischen Bildungsprozessen zum Gegenstand der Veränderung werden. Hier wäre im Blick auf eine „bildtheoretische Grundierung“ der Bildungstheorie noch weitere Entwicklungsarbeit zu leisten.
Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer.
Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.