Die Villa Vassilieff in Paris wurde im Februar 2016 eröffnet und wird von Bétonsalon – Centre d’art et de recherche kuratiert (Mélanie Bouteloup und Virginie Bobin). Das Haus ist eine Kulturstätte im Besitz der Stadt Paris. Es beherbergte bis 2013 das Musée du Montparnasse wie auch das Atelier der dem Kubismus zugerechneten Künstlerin Marie Vassilieff (1848–1957). Die erste Ausstellung in der Villa Vassilieff mit dem Titel Groupe Mobile (2016) verbindet die Eigenschaften eines Arbeits- und Lebensraums, in dem Ausstattungsgegenstände und Kunstobjekte ungezwungen nebeneinander existieren – ähnlich einem Privathaushalt, in dem mit einer nahbaren und ständig sich verändernden Sammlung unterschiedlichster Gegenstände und Medien gelebt wird, anstatt die Einzelobjekte repräsentativ auf dem Kaminsims oder über dem Sofa zu platzieren. Hier werden das Zusammenleben und der Umgang von Mensch und Ding geteilt. Es gibt regelmäßige Öffnungszeiten und Veranstaltungen, Research Fellows haben ihr Atelier in benachbarten Räumen. Die Villa wird so zu einem Ort, an dem der Austausch von Ideen, Kooperationen und Treffen in einem angebotenen, aber nicht klar definierten Rahmen stattfinden.
Groupe Mobile versammelt sechzig internationale zeitgenössische wie auch historische Künstler*innen (wie Sonia Khurana, Laura Lamiel oder Alberto Giacometti, Constantin Brâncuși usw.), Kollektive (zum Beispiel CAMP aus Mumbai), Institutionen (wie die Clark House Initiative) und Theoretiker*innen (wie Géraldine Gourbe oder Erin Gleeson). Ausgangspunkt der Ausstellung ist die Auseinandersetzung mit dem Archiv des Fotografen Marc Vaux, der zwischen den 1920er- und 1970er-Jahren Künstler*innenateliers am Montparnasse fotografierte, also die räumlichen und auch materiellen Lebens- und Arbeitsbedingungen von Künstler*innen dieser Zeit festhielt.
Im Rahmen des Ausstellungsprojekts und der assoziierten Veranstaltungen bilden seine mehr als 250.000 Glasplatten den Ausgangspunkt einer neuen Betrachtung ihrer Produktionsbedingungen und historischen Narrative.
Die Villa Vassilieff ist ein gutes Beispiel für meine Vorstellung des Kuratorischen: Um einen konkreten Ort herum, der in seinen historischen, kulturellen und disziplinären Anordnungen zum Anlass genommen wird, werden offene Bezugssysteme hergestellt, die notwendig instabil angeordnet sind und hier Objekte, Bilder, Texte, Filme, Dokumente, Erzählungen, Erinnerungen, Personen, Orte und Diskurse mit einschließen, die sich in transhistorisch, transkulturell und transdisziplinär organisierten Feldern bewegen, also von vornherein jenseits dieser Kategorien gedacht und praktiziert werden. Das Kuratorische verknüpft diese Elemente situationsbedingt und auf einer offenen Zeitschiene. Dabei sehe ich das Kuratorische nicht als Philosophie, wie es von Jean-Paul Martinon vorgeschlagen wird, sondern als kollektiven Arbeitsprozess, der sowohl auf theoretischer wie auch auf sozialer und auf materieller Ebene produziert (vgl. Martinon 2013).
Die konkrete Verfasstheit des Ortes wird damit konsultiert, aber wieder verlassen. Sie wird befragt, erweitert, kommentiert und fließt schließlich als eine aktualisierte Komponente in eine neue Situation mit ein, die historische Forschungen mit Zukunftspotenzialen korrelieren lässt.
Die Villa Vassilieff arbeitet auf einer poetischen, erzählerischen Ebene, die mit dem Literarischen verwandt ist. In diesem Zusammenhang lässt sich die essayistische Qualität des Kuratorischen hervorheben, welche eine persönliche, experimentelle, nicht an Formvorgaben gebundene Auseinandersetzung mit einem Thema betont.
Ein weiteres gelungenes Beispiel für eine essayistische Interpretation des Kuratorischen ist die Bergen Triennale 2013, kuratiert von Ekaterina Degot und David Riff. Sie bestand aus 13 verschiedenen ‚Instituten‘, die über weite Teile der Stadt Bergen verteilt waren. Die Institute waren nach den Kapitelüberschriften des 1964 erschienenen russischen Sci-Fi-Romans Monday Begins on Saturday von Arkady und Boris Strugatsky benannt, zum Beispiel Institute of Defensive Magic, Institute of Anti-Formalism, Institute of Love and the Lack Thereof oder Institute of Tropical Fascism.
Indem sie sich auf das poetisch benannte ‚Institute‘ aus der Handlung eines Romans als Plattform für Kunst und Theorie beziehen, haben Degot und Riff die Triennale auch gegen das boomende Feld der „künstlerischen Forschung“ positioniert, so wie sie in den offiziellen akademischen Institutionen in den nordischen Ländern definiert wird, wo Bürokratie und Kategorisierungen einer nicht-zielorientierten freien Forschung häufig im Wege stehen.
Für derartige Beispiele des Kuratorischen spielt das Kuratieren die Rolle einer Hintergrundfunktion, ein bei Bedarf aktiviertes Element von vielen, welche sich im Laufe des Arbeitsprozesses in ihrer Gewichtung gegeneinander verschieben. Dabei ermöglicht es das organisatorische, administrative und inhaltliche Know-how des Kuratierens, eine inhaltlich kohärente Ausstellung in ihrer physischen Umgebung zu realisieren, Artefakte zu veröffentlichen und mit begleitenden Formaten zu vermitteln.
In der Gegenüberstellung des Kuratierens und des Kuratorischen lässt sich das Kuratieren eher als ziel- und anwendungsorientiertes Handwerk oder Know-how bezeichnen, als eine Technik, während das Kuratorische dem verknüpfenden Denken und der Ergebnisoffenheit einer Wissensform entspricht und dabei seine eigene Methode performativ umsetzt.
So würden beispielsweise Fundraising und Prozesse der Administration – also Kernaufgaben des Kuratierens – im Prozess des Kuratorischen auch in ihrer Logik, der ‚Logik der Administration‘ aufgefasst – und als eine Komponente hinterfragt, mit der auch kritisch umgegangen werden kann, statt sie lediglich zu erfüllen. Auf dieser Basis ist die Entwicklung eines ‚Critical Management‘ möglich, was ich als eine der Hauptaufgaben aktueller Institutionspolitik ansehe. Was würde dies implizieren?
Ein tiefgreifendes Verständnis der Mechanismen des Managements könnte strategische Veränderungen einleiten, die beispielsweise darauf abzielen, Arbeitsbedingungen zu verbessern oder die Finanzierung aus unethischen Industrien und Geschäften ablehnen zu können, womit die Kluft überwunden werden kann zwischen dem engagierten und unter Umständen auch kritischen Programm einer Institution einerseits und ihrem oktroyierten neoliberalen, profitorientierten Management andererseits.[1]
Institutionspolitisch kann das Kuratorische auf vielen Ebenen intervenieren und wirken, wie genannt auf der administrativen und ökonomischen Ebene, aber auch, was die aktive Positionierung der Institution innerhalb eines bestimmten Diskurses betrifft.
Ein gutes Beispiel hierfür, das auch die Potenziale der Institution der Biennale beleuchtet, ist Okwui Enwezors documenta 11 von 2002, wo zum ersten Mal überzeugend und in großem Maßstab ein postkolonialer Diskurs in eine kuratorische Sprache übersetzt wurde. Aktuelle Ansätze zu einer Dekolonisierung der Sammlung, wie sie sich in zahlreichen Museen finden lassen – nicht nur in ethnografischen, sondern in Museen jedweder Ausrichtung –, profitieren von den Lösungsvorschlägen der documenta 11, die Abbildung und Reproduktion historischer Konstellationen von kolonial geprägten Machtgefällen zu überwinden.
Als Voraussetzung, sich in diese Richtung zu bewegen, müssen sich eine gewisse Flexibilität, Offenheit und auch informelle Strukturen angeeignet werden, so wie sie im Format der Biennale und in unabhängigen Projekten mehr als in sogenannten ‚stabilen Institutionen‘ angelegt sind. Diese informellen Strukturen können als unabhängige Kommunikationskanäle zur ‚Außenwelt‘ genutzt werden, um gesellschaftliche und realpolitische Kontexte zu aktivieren und dort zu intervenieren.
Dadurch, dass das Kuratorische zunehmend informelle Strukturen annimmt, mäandert es in die sozialen, ökonomischen und politischen Bereiche globalisierter Realitäten, die an ihren Rändern ebenfalls informell organisiert sind.
Das Projekt Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Unwissen, die von Hannah Hurtzig organisierte Massenveranstaltung, hier zum Thema ‚Geld‘, dealt in organisierten Treffen mit Expert*innenwissen zu bestimmten Themen und hat bereits in unterschiedlichen Besetzungen und mit unterschiedlichen Kooperationspartner*innen an mehr als 15 Orten weltweit stattgefunden. Ein Schwarzmarkt ist eine informelle Ökonomie und weist Strukturen auf, wie sie auch im Kuratieren im globalen Kontext zu finden sind, wo mit Wissen, Beziehungen, Theorien, ‚Tipps‘ und Gelegenheiten gedealt wird. Ein Schwarzmarkt entsteht an den Rändern der offiziellen Ökonomien, die selbst informelle Strukturen aufweisen, teilweise ist er in diesen Zonen mit ihnen verwoben. Der Schwarzmarkt unterhält ganze Berufsgruppen, bringt eigene Waren und Produkte hervor und schafft eigene Realitäten. Vielerorts verselbstständigt er sich zu einem die gouvernementalen Strukturen und Hierarchien außer Kraft setzenden Platzhalter.
Die für mich zurzeit drängendsten Ansätze des Kuratorischen beschäftigen sich genau damit, durch diese informell strukturierten Zonen in Bereiche vorzudringen, in denen sich Ausläufer gouvernementaler Strukturen finden. Hierbei liegt mein besonderes Interesse auch darin zu untersuchen, wie das Kuratorische in diesen Zonen gesellschaftlich wirksam werden kann. Ein gutes Beispiel ist Eyal Weizmans Forscher*innengruppe Forensic Architecture, die eine analytische Methode anwendet, die der Rekonstruktion von Gewalt dient und untersucht, wie diese sich in räumliche Umgebungen eingeschrieben hat. Also beispielsweise zerstörte Häuser nach Bombeneinschlägen. Dabei werden die Einsturzwinkel der Wände, der Sonnenstand auf Fotos oder die Größe der Einschlaglöcher und Schmauchspuren an der Ruine untersucht, um den Zeitpunkt eines Einschlags sowie die verwendete Munition zu bestimmen – und auch, wie viele Menschen sich zu der Zeit in dem Gebäude befunden haben. Die in verschiedenen Medien festgehaltenen und diskutierten Rechercheergebnisse fließen in Ausstellungen wie etwa im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin als Teil des Anthropozän-Projekts in Vorträge, Konferenzen und Publikationen ein. Sie werden aber auch juristisch eingesetzt: als Beweise vor Gericht, beispielsweise um (israelische) Militäraktionen und ihre Effekte in Gaza zu belegen. Forensic Architecture ist ein gutes Beispiel für einen transdisziplinären Ansatz, der Architektur von vornherein als inklusive, nichtkategorische Methode denkt und praktiziert.
Auch der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau hat mit seinem International Institute of Political Murder in vielen seiner Projekte Verschränkungen politischer Räume mit Räumen und Formaten des kulturellen Feldes hervorgerufen. So hat er für Die Moskauer Prozesse (2014) zwei Prozesse zur Zensur ‚rebellischer‘ Künstler recherchiert – zum einen denjenigen gegen die Kuratoren der religionskritischen Ausstellung Achtung, Religion! [2] in Moskau im Jahr 2003, die von orthodoxen Nationalist*innen zerstört wurde, und zum anderen den Prozess gegen Pussy Riot. Für seine Reenactments dieser Prozesse hat er Akteur*innen aus dem realen politischen Leben zusammengeführt: professionelle Anwälte, einen Verfassungsrichter, Zeugen, Kurator*innen, ein Pussy Riot-Mitglied und Expert*innen aller politischen Couleurs. Als Ort wählte er provokativ das Sacharow-Zentrum, wo damals die religionskritische Ausstellung stattgefunden hatte. Raus Inszenierung wurde auch prompt von Kosaken gestört, die den nachempfundenen Gerichtssaal stürmten, was als Beleg für die Reichweite und gesellschaftliche Wirksamkeit des Projekts gelesen werden kann.
Die Geschworenen konnten nun, nach Anhörung der Argumente, unabhängig von der tatsächlichen damaligen Entscheidung der Gerichte, die zum Beispiel zwei Mitglieder von Pussy Riot zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilten, eine neue Entscheidung treffen, welche dann auch anders ausfiel: Die Angeklagten wurden freigesprochen.
Genau diese Potenziale der Annäherung des kulturellen Feldes an andere konfliktreiche gesellschaftliche Realitäten innerhalb ihres Entstehungsprozesses auszuloten, also an den informellen Rändern des kulturellen Feldes zu forschen und zu agieren, ist meiner Auffassung nach eine zentrale Aufgabe für kuratorische Aktivität heute.
Natürlich gibt es auch kritische Beispiele. Das Kuratorische ist „nicht per se gut“, wie die Künstlerin Sarah Pierce feststellt (Pierce 2013: 98). Als ein Beispiel möchte ich die 7. Berlin Biennale von 2012, kuratiert von Artur Żmijewski, anführen, für die Occupy ihre Zelte in den Kunst-Werken aufgestellt haben, was ein repräsentationspolitisches Desaster darstellte. Unter anderem hat ein an Runen erinnerndes Grafikdesign (nicht die gelungenste Arbeit des Bureau Mario Lombardo) zu einem insgesamt recht unklaren Umgang mit der deutschen Geschichte in dieser Biennale beigetragen.
Welche Rolle spielt nun die Vermittlung im Konzept des Kuratorischen? Zunächst sehe ich in der Vermittlung eine dem Kuratorischen intrinsische Logik, die Vermittlung zwischen einer Vielzahl verschiedener Elemente und Aspekte (Bilder, Texte, Objekte, Informationen, Foundation in London gegründet. Danach fand sie an der Tensta konsthall in Stockholm statt, in Hamburg-Wilhelmsburg und an anderen Orten. Tensta, als Beispiel, ist ein Stadtteil in Stockholm, dessen Bebauung einem spätmodernistischen Schema der späten 1960er-Jahre folgt. 90% der 20.000 Einwohner*innen haben einen Migrationshintergrund. In der Selbstbeschreibung der Silent University heißt es: “The University recruits asylum seekers, refugees and immigrants with a professional background in their countries of origin, which, due to systematical social exclusion and processes of discrimination, are unable to put their knowledge to professional use in the countries which they currently live in. [Als Beispiel kann hier die Apothekerin aus Syrien angeführt werden, die in Deutschland als Raumpflegerin arbeitet, Anm. der Autorin.] Through the Silent University, careers that have been muted are included and reassigned. Taking the form of an academic program, classes, lectures, libraries, seminars, a website and student-cards are created. […] The long-term goal is that these project-based collaborations will create lasting commitments, as the Silent University aims to be more than a project.” (Broschüre zur Silent University 2013).
Menschen, Orte, Diskurse, Institutionen …). Boris Buden führt den Begriff der Übersetzung an, den ich hier sehr passend finde (vgl. Buden 2012). Die Übersetzung produziert ein Nachleben, eine Zukunft desjenigen Gegenstandes, der übersetzt wird. Und es gibt immer eine*n Empfänger*in, jemanden, für den etwas übersetzt wird.
Die Vermittlung des Kuratorischen bedeutet für mich, einen öffentlichen Diskurs um einen Gegenstand, um ein Thema zu produzieren. In diesem Prozess kann die Übersetzung eine hilfreiche Strategie sein, denn die Mechanismen des Kuratorischen beziehen auch Teilnehmer* innen eines Publikums in ihr offenes Bezugssystem mit ein. Ein anschauliches Beispiel ist es, wenn Milo Rau die Geschworenen, die aus Teilen des Publikums bestehen, den Prozess schlussendlich entscheiden lässt.
Hier stellt sich das Kuratorische in die Verantwortung einer großen Aufgabe, die sich nicht weniger vornimmt, als an systemischen Veränderungen der Gesellschaft teilzunehmen, in denen wir uns gerade befinden und die vielerorts zurzeit in eine Richtung laufen, die einen Gegenwind nötig erscheinen lässt.
Wenn man systemische Veränderung nachhaltig angehen will, liegt es nahe, sich der Zuständlichkeit und den Bedürfnissen von Ausbildungsinstitutionen und pädagogischen Infrastrukturen zu widmen. Deswegen verwundert es nicht, dass sich Künstler*innen und Kurator*innen vermehrt mit der Arbeit mit institutionalisierten Vermittlungsmodellen auseinandersetzen, also Schulen oder Universitäten, und alternative Modelle dieser Institutionen erforschen.
In einem direkten Bezug zur Situation Geflüchteter in westlichen Gesellschaften wurde 2012 die Silent University des Künstlers Ahmed Öğüt als eine Plattform zum Wissensaustausch für Flüchtlinge und Asylsuchende in Zusammenarbeit mit der Tate Modern und der Delfina. Indem die Interessen und Bedürfnisse von Immigranten, Geflüchteten und Asylsuchenden im Zentrum stehen, kann die Position, die die Silent University einnimmt, in Bezug zu aktuellen Entwicklungen der Situation von Geflüchteten und Asylsuchenden in der EU gesehen werden, die Grenzsicherungen und Frontex-Regelungen ebenso einschließt wie die Tatsache, dass seit 2011 Studierende aus Nicht-EU-Ländern Registrierungs- und Studiengebühren an Universitäten in Schweden und anderen europäischen Länder zahlen müssen, wodurch dort ein Zwei-Klassen-System unter den Studierenden entsteht. In Deutschland ist das noch anders; in Schweden sind es zurzeit mehr als 10.000 Euro pro Jahr, die Studierende aus Nicht-EU-Ländern zahlen müssen.
Der Name ‚Silent‘ University kann als Kommentar zu dem Kommunikationszwang im zeitgenössischen Arbeitsumfeld betrachtet werden, während er die Notwendigkeit thematisiert, zuzuhören und auch nonverbale Kommunikation zu führen, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht. Das Ziel der Silent University ist es, die Idee der Stille als Passivität herauszufordern, wie Paolo Freire es in seinem wegweisenden Buch Pädagogik der Unterdrückten analysiert hat (Freire 1998), und das Potenzial der Stille durch Performance, Schreiben und Gedankenarbeit in der Gruppe herauszufordern. Diese Unternehmungen versuchen, das systemische Scheitern und den Verlust von Wissen und Fähigkeiten, der im Prozess, Asylsuchende zum Schweigen zu bringen, erfahren wurde, sichtbar zu machen. Über ein Jahr lang kam Ahmet Öğüt regelmäßig nach Stockholm, um die Leute zu treffen, mit denen er dort zusammenarbeitete – eine Gruppe von Dozent*innen und Berater*innen wie auch Partnerorganisationen wie zum Beispiel den ABF, eine Fortbildungsorganisation für Arbeiter*innen. In der Tensta konsthall wurde ein ‚Resource Room‘ installiert, ein offenes Archiv mit Publikationen, Filmen, Essays und anderen Materialien von Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen und Community-Organisationen. Der Ressourcenraum dient als Plattform, wo die Themen und Anliegen der Silent University geteilt werden können, die da wären: Stille, alternative Plattformen zum Lernen, alternative Ökonomien und Migration.
Idealerweise ist das Projekt längerfristig und von seinen Teilnehmer*innen zunehmend selbstorganisiert gedacht, nicht als ein typisches zeitlich begrenztes Projekt, das nur im Rahmen einer Ausstellung stattfindet. Während die Teilnahme für Zuhörer*innen frei ist, werden alle vortragenden Teilnehmer*innen bezahlt, wodurch es zu einem freiwilligen Projekt wird, in dem die Teilnehmer*innen ihr Wissen und ihre pädagogischen Fähigkeiten professionalisieren können.
Ein weiteres Beispiel ist die 2013 von den Kurator*innen und Produzent*innen Anna Colin, Laurence Taylor und Sam Thorne gegründete Open School East im Londoner Stadtteil Hackney (seit 2017 befindet sich die Schule in Margate). Die Schule, die frei von Studiengebühren ist (was in England wichtig ist, wo Studierende häufig mit bis zu 30.000 Euro Schulden aus der Uni kommen), bietet nicht nur ein Gegenmodell zur existierenden institutionalisierten Kunstausbildung, sondern zielt auch auf größere politische Problematiken ab: Migrationspolitik, Bürokratie und Management, Klassendistinktion und Ungleichheit im Bildungssystem.[3] Stattdessen bietet sie freien und offenen Zugang zu einer Ausbildung, zeitlich begrenzt auf ein Jahr, was ihren Modellcharakter noch unterstreicht.
Die Schule stellt ihren Teilnehmer*innen 13 Ateliers für ein akademisches Jahr zur Verfügung sowie freie Betreuung durch internationale Künstler*innen, Autor*innen, Theoretiker*innen und Kurator*innen wie Catherine Wood (Tate Modern) oder Maria Lind (Direktorin der Tensta konsthall) sowie Künstler*innen wie Pablo Bronstein oder Ed Atkins. Die Nachfrage nach Plätzen ist hoch, und statt Studiengebühren zu zahlen, stiften die Teilnehmer*innen einen Tag pro Monat für öffentliche Aktivitäten in der Schule, die bis 2017 in der Rose Lipman Library in Hackney lag, oder an einem anderen Ort in Hackney, einem von Londons sozial schwächeren Stadtteilen. Ein Teil des spezifischen Profils der OSE ist, dass sie den Austausch von Wissen und Fähigkeiten zwischen den Künstler*innen und lokalen Bewohner*innen und Community-Organisationen fördert. „Die individuelle Praxis der Teilnehmenden könnte ein Community-Projekt werden“, sagt Anna Colin, „oder sie geben Kurse für die lokalen Anwohner, zum Beispiel im Tanzen oder im Möbeldesign.“ (Colin auf der Website der OSE, übers. v.d. Autorin). In gewissem Sinne bekommt das Projekt dadurch eine ortsspezifische wie auch eine communitybasierte Komponente.
Das alte Bibliotheksgebäude soll in Zukunft ein Kreativcenter für die lokalen Communitys werden, nachdem es mit der OSE in eine freie Schule umgewandelt wurde. Hier ließe sich natürlich die Kritik anbringen, dass das Projekt der OSE mit geringen Mitteln als Übergangsphase lanciert wurde, um es der Stadt zu erleichtern, dass ihr Community-Zentrum später auch von den Bewohner*innen dort angenommen wird. Auch mit dieser Schattenseite jedoch funktionieren die OSE wie auch die Silent University als Modelle, die in kleinem und lokalem Maßstab, aber international bekannt und vernetzt, anzeigen, was in größerem Maßstab und auf transnationaler Ebene unternommen werden muss.
Tatsächlich gibt es Versuche, in größeren, bereits existierenden Kunstinstitutionen in diese Richtung zu arbeiten. Manuel Borja-Villel, Direktor des Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid, ist beispielsweise daran interessiert, seine öffentliche Institution in einen kommunalen Raum zu transformieren, der für Besucher*innen wie auch Mitarbeiter*innen ein „shared being/geteiltes Dasein“ (Blanchot 2010) ermöglichen soll und vom Museum in Formen der Vermittlung realisiert werden kann. Maurice Blanchot meint mit dem „geteiltes Dasein“, dass Teilen über ein einfaches Zusammensein hinausgeht und vielmehr eine bleibenden Zuständlichkeit erzeugt. Borja-Villel erwähnt als Beispiele dieser Vermittlungsarbeit, dass in einem Netzwerk mit anderen Institutionen die Sammlung gemeinsam genutzt werden kann oder ein „universelles Archiv“ errichtet wird (Borja-Villel 2010). Das Reina Sofía ist mit sechs internationalen großen Institutionen korrespondierender politischer Orientierung (etwa dem Van Abbemuseum, Eindhoven, der Moderna galerija, Ljubljana, oder dem SALT, Istanbul) in dem Netzwerk L’Internationale organisiert, das eine gemeinsame Agenda gegen die Ökonomisierung und Bürokratisierung des Ausstellungsbetriebs konstituiert und in gemeinschaftlich organisierten Veranstaltungen und Publikationen verwandte Themen und deren historische Kontexte diskutiert. So heißt es denn auch in der Selbstdarstellung: „Innerhalb eines non-hierarchischen und dezentralisierten Internationalismus schlägt L’Internationale einen Raum für Kunst vor, der auf den Werten der ‚Différance‘ und des horizontalen Austauschs zwischen einer Konstellation von Kulturagenten basiert, die lokal verankert und global verbunden sind.“
Diese Hinwendung des Kuratorischen zu einer gewollten aktiven Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen lässt sich schon seit den gesellschaftlich einschneidenden Ereignissen der Finanzkrise 2008 und der Occupy-Bewegung vor allem in Bereichen der performativen Künste und des Festivalformats verstärkt beobachten. Als Reaktion auf die aktuelle Zunahme rechtspopulistischer Regierungen ist diese Tendenz noch stärker zu beobachten. Es stellt sich nun die Aufgabe, diese Interessen und Orientierungen kritisch zu überprüfen und in der Praxis methodologische Erweiterungen zu erarbeiten.
[1] Austeritätspolitik ist auch Teil einer neoliberalen Wirtschaftslogik.
[2] Kuratiert von Arutjun Sulumjan in Zusammenarbeit mit dem Sacharow-Zentrum
[3] Die alle seit Inkrafttreten des Bologna-Akkords noch verstärkt wurden.
Blanchot, Maurice (2010): Zitat nach Borja-Villel ohne Quellenangabe. In: Borja-Villel 2010, 283.
Borja-Villel, Manuel (2010): Nicht betitelter Beitrag zu der Artikelserie The Museum Revisited der Zeitschrift Artforum. In: Artforum Summer 2010, S. 282–283.
Broschüre der Silent University in Zusammenarbeit mit der Tensta konsthall, Stockholm: Silent University – Tensta Reader #1 27–Oct–2013.
Buden, Boris (2012): Towards the Heterosphere: Curator as Translator. In: Lind, Maria (Hrsg.): Performing the Curatorial. Berlin: Sternberg Press. S. 23–46.
Freire, Paolo (1998): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Hamburg: Rowohlt.
Martinon, Jean-Paul (2013) (Hrsg.): The Curatorial. A Philosophy of Curating. London: Bloomsbury.
Pierce, Sarah (2013): The Simple Operator. In: Martinon 2013, S. 97–104. Originalzitat: „The curatorial is qualitative; it is not inherently ‚good‘.“ Übersetzt von der Autorin.
Programm des Zusammenschlusses L’Internationale: https://www.internationaleonline.org/
Website der Open School East: https://openschooleast.org/
Abb. 1: Groupe Mobile, Villa Vassilieff, Paris, 2016. Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Martine Mollo, Jean Bhownagary and Hélène Adant. Foto: © Aurélien Mole. Mit freundlicher Genehmigung von Bétonsalon – centre d’art et de recherche.
Abb. 2: Forensic Architecture, Forensis, Ausstellungsansicht des HKW, Berlin, 2014. Foto: © Laura Fiorio/HKW. Mit freundlicher Genehmigung des HKW.