Kinder brauchen Grenzen. Das ist sicher eine der meist gebrauchten Metaphern in der Erziehung. Und da ist natürlich einiges dran. Kinder und Jugendliche müssen unsere gesellschaftlichen Regeln verstehen, damit sie innerhalb des Systems erfolgreich interagieren können. Dazu ist die Akzeptanz bestimmter Regeln unabdingbar.
Das ist das Eine. Zum anderen besteht bei Kindern und Jugendlichen ein unbändiges Bedürfnis, sich auszuprobieren, Grenzen auszuloten oder auch zu überschreiten. Unsere Gesellschaft braucht diesen Mut und die Fähigkeiten, die durch selbständiges Handeln entstehen können. Zu beobachten ist seit einiger Zeit eine starke gesellschaftliche Tendenz zur völligen Pädagogisierung und Reglementierung des kindlichen und jugendlichen Alltags. Die gesellschaftliche Bedeutung der heranwachsenden Generationen hat sich in Zeiten abnehmender Kinderzahl rapide geändert und entsprechend genau wird jede Bewegung der Kinder mit Förderblick beobachtet. Ganztagsschule, Verein, Familie bestimmen den Alltag vieler Kinder. Auch in der Freizeit sind sie häufig stark unter – vornehmlich elterlicher – Kontrolle. Welche Kinder gehen heute noch alleine in den Wald, experimentieren dort mit der vorgefundenen Situation und probieren sich aus ohne Kontrolle durch Erwachsene? Stattdessen wird der erlebnispädagogisch angeleitete Kletterkurs besucht. Mit diesem Mainstream geht eine Erziehungsverunsicherung vieler Eltern einher, die nicht wissen, welche Grenzen sie ihren Kindern setzen und welche Freiheiten sie gewähren sollten. Diese Unsicherheit führt nicht selten zur Überforderung der Kinder, die Lebensentscheidungen, wie z. B. die Schulwahl, selbständig fällen sollen, obwohl ihnen der Gesamtüberblick fehlt (vgl. Pauer 2012).
Das hier kurz skizzierte gesellschaftliche Konglomerat zwischen Überorganisation einerseits und Selbstständigkeitserwartung andererseits führt bei vielen Kindern zu Verhaltensauffälligkeiten. Nicht umsonst steigen die Zahlen von hyperaktiven Kindern und Kindern mit Förderbedarf.
Im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang kommt den Bildungsinstitutionen insofern zentrale Bedeutung zu. Die Erwartungen an Schulen sind entsprechend hoch: Wissensvermittlung, Verhaltenstraining, Erziehung zur Selbstständigkeit, Demokratie und Toleranz (die Liste ließe sich noch wesentlich verlängern) – all diese Dinge sind strukturelle Anpassungsleistungen, die von den Kindern erwartet werden und nicht mit Freiräumen zu verwechseln sind.
Es mag deshalb unsinnig anmuten, die Frage nach Grenzerfahrungen und nach der Selbstentfaltung von Kindern an die Schule zu richten. Das Schulsystem1 hat grundsätzlich das Potenzial, Freiräume für die Identitätsentwicklung bereitzustellen. Allerdings werden die Möglichkeiten wenig genutzt. Viele Kritiker/innen werfen den Schulen vor, kreativitätshemmend zu arbeiten. Ist es deshalb nicht naheliegender, Lernende außerhalb der Schule Entfaltungsräume finden zu lassen? Gilt dies nicht auch besonders für den Kunstunterricht? Beispielhaft sei hier Leon Löwentraut genannt, ein 17-jähriger Schüler, der erfolgreich auf dem Kunstmarkt agiert und auch öffentliche Auftritte nicht scheut, während er im Kunstunterricht nur eine „drei“ hat, weil er „mit den Aufgaben der Lehrerin nicht klarkommt“ (Abb. 1). In den Medien wird dafür erwartungsgemäß der Kunstlehrerin der „Schwarze Peter“ zugeschoben.
Bremst demnach der Kunstunterricht die Kreativität und Selbstentfaltung unkonventioneller Jugendlicher? YouTube, Instagram, Pinterest und Facebook ermöglichen es sehr vielen Jugendlichen, ihre ästhetischen Produkte zu veröffentlichen. Es stellt sich allerdings die Frage, welche Rolle Schule und insbesondere der Kunstunterricht in Bezug auf diese Alltagskultur des selbstorganisierten öffentlichen Zeigens noch haben kann.
Um diese Frage fundiert angehen zu können, ist eine breit angelegte Inhaltsanalyse der ästhetischen Produkte von Kindern und Jugendlichen notwendig, was hier nicht geleistet werden kann. Die grundsätzliche Frage lautet allerdings: Werden durch frei zugängliche Plattformen auch die ästhetischen Handlungen und Produktionen unkonventionell und grenzüberschreitend oder reproduzieren viele Kinder und Jugendliche lediglich medial verinnerlichte visuelle Klischees?
Leon Löwentraut beispielsweise reproduziert in seiner Malerei Darstellungsschemata der klassischen Moderne des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Anlehnung an Maler wie Picasso und Matisse o. ä. ist offensichtlich. Der Erfolg auf dem Kunstmarkt ist deshalb unter anderen Kriterien zu sehen als dem des inhaltlichen Avantgardismus. Seine außerschulische kreative Aktivität allein stellt selbstverständlich noch kein relevantes Qualitätsmerkmal für ästhetische Produkte dar.2
Welche Chancen und Grenzen liegen nun im Kunstunterricht für ein Arbeiten, das die Courage zum Experimentieren positiv verstärkt und zum Ausgangspunkt für künstlerische Projekte werden kann, die Grenzerfahrungen ermöglichen und damit unkonventionelles Denken und Handeln fördern?
„Grenzerfahrung“ meint hier allerdings nicht menschliches Extremverhalten, wie es zum Beispiel von Künstler*innen wie Dieter Appelt oder Stelarc praktiziert wird. Schließlich werden persönliche Grenzen von Kindern und Jugendlichen durch subjektive Faktoren definiert und sind insofern selbstverständlich nicht mit menschlichen Extremsituationen gleichzusetzen. Wenn aber beispielsweise Schüler/innen auf einer Klassenfahrt in England plötzlich die Erfahrung machen, dass sie trotz „sehr gut“ benotetem Englisch nicht verstanden werden, so kann das für sie eine Grenzerfahrung darstellen, sodass ggf. je neue, relevante Strategien zur Verständigung entwickelt werden müssen. Durch eine Grenzerfahrung wird also eine Innovation ausgelöst, die lernstrategisch zu besonderer Motivation und alternativen Lösungen führen kann. Durch reines Abfragen und Auswendiglernen ist eine solche Qualität in Lernprozessen nicht zu entwickeln.
Bleiben wir bei dem Beispiel der Klassenfahrt nach England. Das Scheitern in der Kommunikation beschreibt eine Grenze, die in Kollision mit der Ich-Identität des Schülers geraten ist. Denn „wer Identität sagt, sagt zugleich auch immer Andersheit“ (Kaiser 2008: 48). „D. h. für Identität und Identitätsbildung ist deren limitische, d. h. Grenzen setzende Struktur ein grundlegendes Konstitutionsmerkmal. Das Gelingen von Ich-Identität und die Zuschreibung von sozialer Identität durch Zuschreibung kategorialer Bestimmungen bedeuten folglich immer die implizite oder explizite Setzung einer Grenze. Im ersteren Fall bin ich es selbst, der eine Grenze zu ziehen versucht, im anderen Fall erfolgt die Grenzziehung durch das je spezifische gesellschaftliche Umfeld; hier werden mir Grenzen gezogen. Im Zuge der Ausbildung von Ich-Identität kann die Grenzziehung relativ autonom vollzogen werden, im Modus sozialer Identität wird sie mehr oder weniger rigide erzwungen.“ (ebd.)
In der Schule haben wir es permanent mit Identitätsbildungsprozessen zu tun. Kinder und Jugendliche versuchen, mit der Einhaltung oder Überschreitung von Grenzen sich selbst zu definieren. Die Definition von Grenzen ist allerdings individuell, ebenso wie die Definition von permeablen Zonen, an denen das Individuum die Überwindung von Grenzen zulassen will. Es gibt einen Zusammenhang zwischen individuellen Grenzen, die von ganz unterschiedlichen Faktoren wie Körperlichkeit, kulturellen Hintergründen oder der Sozialisation abhängig sind und den von der Gesellschaft definierten Grenzen. Letzteres bezeichne ich mit Konventionen, wie es im Extremfall zum Beispiel die Schrift3 ist. Da ein Sozialisations- und Erziehungsprozess immer auch ein Anpassungsprozess an gesellschaftliche Konventionen ist, ist die Überwindung individueller Grenzen fast immer auch eine Überwindung verinnerlichter, gesellschaftlicher Konventionen.
Der Kunstunterricht hat das Potenzial, innovative Prozesse anzustoßen und weiterzuentwickeln. Zentrale Bezugspunkte sind in diesem Zusammenhang „Differenzerfahrung“ und „ästhetische Erfahrung“. Beide Erfahrungsstrukturen sind im Zusammenhang zu sehen.
„Differenzerfahrung vergegenwärtigt Seinsweisen und initiiert Denk- und Handlungsformen. Sie ist nicht an einem Ort, zu einer Zeit und auf der Seite eines Individuums, sondern sie benennt das Verhältnis zwischen dem Individuum und seinem Selbst oder etwas anderes. Sie ist eine spontane Bewegung der Verschiebung und Veränderung des Verfahrens. Das meint der Begriff Differenz“ (Haarmann 1995: 57). Der Begriff der Differenzerfahrung beschreibt also einen spontanen, qualitativen Umschwung innerhalb eines Erfahrungsprozesses, der häufig auch als Grenzerfahrung wahrgenommen wird. Damit wird eine qualitative Veränderung der ästhetischen Erfahrung und damit auch der künstlerischen Ausdrucksweise innerhalb eines künstlerischen Prozesses verstehbar.
Mit jedem künstlerischen Prozess, sei es in einer Performance oder während des Malens, geht also immer wieder die Erfahrung einher, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Ausdrucksmittel nicht mehr ausreichen. Neue Ausdrucksmöglichkeiten ergeben sich, die den Prozess und das Ergebnis verändern. Das Scheitern, eine Anregung von außen, aber auch das bewusste Ausloten der eigenen Grenzen sind Auslöser für Differenzerfahrungen und damit für qualitative Umschwünge innerhalb von künstlerischen Prozessen. Genau hier kann der Kunstunterricht sein Potenzial entfalten. Das Navigieren in offenen Systemen, wie künstlerische Prozesse es nun einmal sind, gibt dem Kunstunterricht eine Monopolstellung an der Schule.
Martin Seel zu Folge „sind [es] die ästhetischen Verfahren der Imagination und der Konstruktion, die eine Vergegenwärtigung der Erfahrungsinhalte vertrauter und fremder Situationen im Modus ihrer Entschlossenheit oder Bedeutsamkeit ermöglichen. Ästhetische Präsentationen stellen Komplexe eines möglichen impliziten Wissens, in dem die wirklichkeitskonstitutiven Auslegungen unseres Handelns und Daseins habituell behalten sind oder enthalten sein können, in ihrer situativen Verwiesenheit heraus“ (Seel 1985: 74). Seel formuliert hier also eine Begründung für eine bewusste Initiierung von Grenzerfahrungen als konstituierendes Element einer erfahrungsentwickelnden Handlungsorientierung. Damit kann jeder Lernprozess, unabhängig von Institution oder Alter, unter bestimmten Bedingungen ein grenzgängiger Prozess sein, durch den Erkenntnisse gewonnen werden können.
Ein solcher Erfolg ist jedoch von der Aufgabenstellung abhängig. Werden Kinder und Jugendliche immer nur mit geschlossenen Aufgaben konfrontiert, werden wesentliche Möglichkeiten des Kunstunterrichts verschenkt. Notwendig sind insofern offene künstlerische Projekte, in denen die Schüler/innen sich eigene Ziele stecken, und eigene Lernwege finden können. Ich halte es in diesem Zusammenhang allerdings für wichtig, darauf hinzuweisen, sich nicht mit dem Aspekt der „Selbstorganisation“ zu begnügen, wie das leider häufig in der pädagogischen Literatur geschieht. Grenzerfahrungen rufen häufig starke Emotionen hervor. Da Schüler/innen nicht selten zunächst eine Scheu haben, sich an die eigenen Grenzen zu wagen, geschweige denn, bewusst eigene Grenzen zu überschreiten, neigen viele dazu, sich auf „sicherem Terrain“ zu bewegen. Selbstorganisation generiert deshalb nicht automatisch unkonventionelle Handlungsweisen oder die Lust auf Grenzerfahrungen. So seltsam es klingt, es bedarf oft kuratorischer Bemühungen der Lehr- oder Begleitpersonen, um Kinder und Jugendliche zu motivieren, sich auf unkonventionelles Gebiet zu wagen. Um bewusst grenzüberschreitende Prozesse in Gang setzen zu können, muss die Lehrperson den Experimentierraum Kunstunterricht gegen das System Schule zeitweise schützen.4 Oftmals erst dann ist der Kunstunterricht der richtige Ort, um in künstlerischen Experimenten Differenzerfahrungen zu machen, sich selbst auszuprobieren und hierbei eigene Grenzen zu überwinden (Abb. 2).
Erkenntnisse kann man nicht unterrichten. Es bedarf individueller Erfahrung, um aus Wissen Erkenntnis generieren zu können. Daraus leitet sich ab, dass Erkenntnisse nur in bestimmten Lernumgebungen möglich sind, die von Individuum zu Individuum differieren. Der Kunstunterricht benötigt bewertungsfreie Räume, um ästhetische Erfahrungen grundlegend entwickeln zu können. Warum aber sind ästhetische Erfahrungen für Kinder und Jugendliche notwendig?
John Dewey definiert die Abgeschlossenheit eines Erfahrungsprozesses als „Ästhetische Erfahrung“, die einen Erkenntnis- und Erfahrungsprozess beschreibt, der als befriedigend empfunden wird, sobald er – allerdings zunächst unabhängig vom Ergebnis – abgeschlossen ist (vgl. Dewey 2008). Begreift man ferner Erfahrung als Resultat von Interaktion eines lebendigen Wesens mit sich selbst und einem bestimmten Weltaspekt, so ist diese Interaktion Teil des unmittelbaren Lebensprozesses. Eine ästhetische Erfahrung ist demnach eine ganz besondere Qualität von Lebenserfahrung, die mit immersivem Verhalten belegt ist. Derartige Lebenserfahrungen sind von entscheidender Bedeutung für die Identifikationsbildungsprozesse, die Kinder und Jugendliche durchlaufen.
Kunst hat in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. Das Kunstwerk ist nach Dewey die Vergegenwärtigung ästhetischer Erfahrung, weshalb die Auseinandersetzung mit insbesondere zeitgenössischer Kunst und das Bestreben, selbst künstlerisch aktiv zu werden, das Potenzial auf eine ästhetische Erfahrung beinhaltet. Der menschliche Drang, eine Erfahrung abzuschließen, also eine ästhetische Erfahrung zu machen, gebiert das Bedürfnis, sich mit den eigenen Grenzen auseinanderzusetzen.
Offene Unterrichtsprojekte provozieren deshalb die Suche nach neuen Wahrnehmungen, neuen Darstellungsmodi und neuen Medienanwendungen und basieren somit auf dem menschlichen Bestreben, Prozesse voranzutreiben und abzuschließen. Solche Handlungsstrukturen werden auch als „künstlerische Konsequenz“ bezeichnet. Voraussetzung für eine erkenntnisstiftende ästhetische Erfahrung ist das Vorhandensein einer ästhetischen Situation, d. h. eines örtlich, zeitlich oder personell definierten Raums, der Kindern und Jugendlichen offen steht, in dem ein „Driften“ möglich ist. Das Driften wird hier verstanden als ein mit einem vagen Ziel verbundenen, Nachdenken und Handeln, bei dem weitere Entscheidungen an vielen Wegkreuzungen und das Einschlagen neuer Richtungen möglich werden.
Autonomieerfahrungen sind Bestandteil der Differenzerfahrung. Dazu gehört auch die Erfahrung der eigenen Fähigkeit, Probleme zu lösen und Veränderungsprozesse zu organisieren. Natürlich darf sich der Kunstunterricht nicht in der Organisation von freien Projekten in Drifträumen erschöpfen, da noch viele andere Problemstellungen im Unterricht abgedeckt werden müssen. Jedoch gibt es in der Kunstpädagogik eine Tendenz, die bewusste Inszenierung von ästhetischen Erfahrungen im Kunstunterricht als bedeutungslos darzustellen und das Üben und Lernen von Verfahren als Essenz des Kunstunterrichts zu begreifen. Die Konzeption von Unterricht an Schulen muss sich einerseits an gesellschaftlichen Entwicklungen orientieren bzw. sich diesen auch gegebenenfalls diametral entgegenstellen. Wie etwa in Fällen von Einschränkung der Experimentalräume von Kindern und Jugendlichen im Zuge der Überpädagogisierung der Freizeit. Der Kunstunterricht ist einer der wenigen Räume in Institutionen, in dem strukturell ästhetische Erfahrungen angelegt sind und in dem auch alle Kinder erreicht werden können. Die hier angelegten Möglichkeiten sollten wir nutzen und nicht versuchen, sie für das Lernen als unbedeutsam abzutun.
Doch wie lassen sich in der Schule bewertungsfreie Drifträume gestalten?
Kunstunterricht sollte heute nicht mehr ohne Kooperationen mit Partner/innen aus der kulturellen Bildung gedacht werden. Durch die Kooperation mit bildenden Künstler/innen, Theatern oder Musiker/innen ergeben sich neue Möglichkeiten, offene Projekte zu organisieren. Diese Art von Projekten beinhaltet eine besondere Qualität. Erwiesenermaßen ist die Kombination zwischen freier künstlerischer Arbeit und fundierter systematischer Nacharbeit ein unschlagbares Duett, mit dem sehr große Lernerfolge erzielt werden können.5 Im Raum zu driften, zu experimentieren und auszuprobieren ist heute besonders notwendig, da die gesellschaftliche Tendenz zur vollständigen Erfassung6 des Individuums und zur Pädagogisierung des Alltags von Jugendlichen besteht. Der Kunstunterricht hat das Potenzial, dezidiert unkonventionelles Denken, individuellen Wagemut und kreative Lösungen zu fördern. Ich bin sicher, dass dies Fähigkeiten sind, die unsere Gesellschaft auf lange Sicht dringend benötigen wird.
Durch bewusst liminal angelegte Kunstprojekte werden Erkenntnismomente evoziert, die Kinder und Jugendliche auf ihre Fähigkeiten, sowie auf mögliche Einschränkungen aufmerksam machen und darin bestärken, durch Überschreitungen dieser Grate die eigenen Möglichkeitsräume zu erweitern. Das Ergebnis sind Handlungssicherheit und Kenntnis um eigene Potenziale und Limits. Denn für eigene Erfahrungen sind Kinder und Jugendliche erfahrungsgemäß aufgeschlossen. Entstehen Grenzen und Freiheiten im Erkenntnisprozess, müssen sie zudem nicht von außen oktroyiert werden. Vielmehr können durch die besondere Handlungsfreiheit im Kunstprojekt Erkenntnisse wahrscheinlicher werden, die selbstbewusste Menschen hervorbringen.
Was wollen wir mehr?
1 „scholé“ (griechisch) waren ursprünglich Orte der Muße des freien Mannes. Heute ist die Schule eine Zwangsanstalt zur Vermittlung von Qualifikationen und Bewertung des Individuums. Wenn aber alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden sollen, dann ist die Schule der Ort der Wahl.
2 Dies gilt auch für viele Produktionen in der außerschulischen kulturellen Bildung. Die veranstaltenden Organisationen agieren auf dem Markt für Weiterbildung und sind deshalb oft darauf angewiesen, den Publikumsgeschmack zu bedienen.
3 Schrift muss auf festen Konventionen beruhen, da sonst eine fehlerfreie Kommunikation nicht möglich ist.
4 Gemeint ist hier z. B. eine bewertungsfreie Zeit oder die Absicherung gegenüber der Schulleitung bzw. den Eltern.
5 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf verschiedenste Kooperationsprojekte zwischen Schule und kultureller Bildung. So wurden zum Beispiel in Bremen 2011 in einem Kombinationsprojekt zwischen Theater am Vormittag und Deutschunterricht am Nachmittag innerhalb von vier Wochen die deutschsprachlichen Fähigkeiten von jugendlichen Migrant/innen so weit entwickelt, dass ihr Kenntnisstand einem ganzen Jahr Schulunterricht entsprach. Vgl.: http://www.fb12.uni-bremen.de/fileadmin/Arbeitsgebiete/interkult/Tagung/WissPoster_MUT.pdf
6 Gemeint ist hier eine immer stärkere Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, der Erfassung von Käuferverhalten beispielsweise, die Observationen in sozialen Netzwerken und der Ausbau von bürokratischen Kontrollsystemen.
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Abb. 1: Bild von Leon Löwentraut, Online: http://www.fffyeah.com/wp-content/uploads/2015/01/Leon-l%C3%B6wentraut-bild___.jpg [22.9.2015].
Abb. 2: Das Bild entstand während des Projektes „Westfalenstory“ 2008 in Dortmund. Schülerinnen des 11. Jahrgangs inszenieren eine grenzgängige Situation durch einen Sprung aus drei Meter Höhe, Foto: Archiv des Autors.