Über die utopischen Potenziale eines nicht in seiner sprachlichen Bestimmbarkeit aufgehenden Begriffs im kunstdidaktischen Feld
„Kunst wird zum Rätsel, weil sie erscheint, als hätte sie gelöst, was am Dasein Rätsel ist, während am bloß Seienden das Rätsel vergessen ward durch seine eigene überwältigende Verhärtung. … Dass aber die Kunstwerke da sind, deutet darauf, dass das Nichtseiende sein könnte. Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen.“ (Adorno 1977: 191,199)
Die aktuelle Kunstdidaktik steht vor der Herausforderung, sich im institutionellen schulischen Rahmen gegenüber einer Vielzahl an curricularen, formalen, kontextuellen, organisatorischen, institutionellen Vorgaben, Ansprüchen und Erwartungen mit einem eigenen Profil praktisch zu behaupten und sich im bildungspolitischen Diskurs theoretisch zu legitimieren und zu profilieren. Die kunstpädagogische Community im wissenschaftsorientierten Austausch zeichnet sich nicht nur durch einen anspruchsvollen inhaltlichen Diskurs aus, der das fachspezifische Denken und Handeln unter einer grundsätzlichen, weit genug aufgespannten bildungstheoretischen, dabei auch kritischen Perspektive diskutiert und im Rahmen der entsprechenden Grundlagentheorien legitimiert. Gemeinsam erscheint – über so manche inhaltliche Kontroverse hinweg – das Bemühen, je unterschiedliche Potenziale des Faches in ihrer bildungswirksamen Bedeutung argumentativ in den bildungspolitischen Diskurs einzubringen, insbesondere auch um der Randstellung im Fächerkanon der Schulen entgegenzuarbeiten. Unterstützt wird dieses Anliegen seit einigen Jahren durch regionale und bundesweite Initiativen zur kulturellen Bildung, die dabei sind, innovative Strukturen für die Mitarbeit von freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern am schulischen Lernort im Sinne kultureller Schulentwicklungsimpulse zu institutionalisieren (Braun/ Fuchs / Kelb, V. 2010; Engel 2008). So zeichnen sich beide Diskurse aktuell dadurch aus, dass sie einen systematischen Austausch zwischen Theorie und Praxis vor allem durch vermehrte Praxisforschungsprojekte kultivieren.“ (Biburger / Wenzlik 2009.). Die Frage der angemessenen bildungspolitischen Positionierung der fachlichen Ansprüche, als Aufgabe der Verknüpfung zwischen einer theoretischen und praxisbezogenen Reflexivität mit Handlungsfolgen stellt sich jedoch in ganz besonderer Weise noch auf einer anderen Ebene. Beklagt wird immer wieder, nicht nur in der Lehrerbildung der eigenen Fachdisziplin, dass es nicht wirklich gelingt, die theoretischen Erträge an den Hochschulen in eine innovative schulische Praxis zu überführen, „ … da wir wissen, dass gerade Novizen und Novizinnen typischerweise mit Imitation und Assimilation auf die ersten Praxiserfahrungen in der Schule reagieren (Amrhein 2011: Hedtke 2007). Dabei speist nicht nur in der eigenen Fachdisziplin die bekannte Problematik einer Vermittlung zwischen Theorie und Praxis „…einen anscheinend unendlichen Diskurs in der Lehrerbildung“ (Hedke 2007: 25). Um welche Art der Vermittlung kann und sollte es hierbei aber gehen, über die Gestaltung angemessener Zeiträume und organisatorischer Strukturen für die studienbegleitenden Praxisphasen hinaus? Wie und auf welcher Ebene muss diese Verknüpfung erfolgen? Im Zentrum der kunstpädagogischen Ausbildung stehen neben den kunsthistorischen, kunstwissenschaftlichen und spezifisch kunstdidaktischen Fragestellungen in besonderer Weise auch die eigene künstlerische Praxis, an den Kunsthochschulen stärker als an den Universitäten. Das heißt, als Bezugsebene für die Vermittlungspraxis muss auch auf inhaltlicher Ebene – wie in kaum einem anderen Fach – nicht nur das angeeignete Wissen, sondern auch der eigene praktische Erfahrungshintergrund dienen. Wie aber kann dieser als wichtiges Potenzial nützlich werden und wie kann dabei eine kritische (Selbst-)Reflexivität gefördert und entwickelt werden, die nicht bereits in der Hochschule Theorie und Praxis verbindungslos nebeneinander stellt, sondern systematische Verknüpfungen zwischen subjektivem Erleben und Erfahren und kunst- und bildungstheoretischen Erkenntnissen kultiviert? Wie kann darüber hinaus ein systematisches Transferdenken sowohl zwischen theorie- und praxisbezogener Reflexivität als auch zwischen Hochschule und Schule angeregt werden, das sich nicht an einer Übertragung im Maßstab 1:1 orientiert, sondern an einer kontextspezifischen, singulären, künstlerischen Antwortlogik im pädagogischen Dialog? Eine so ausgerichtete systematische Differenzierung und Konkretisierung benötigt die Entwicklung und Klärung von erfahrungsbegleitenden und zugleich bildungstheoretisch brauchbaren Begrifflichkeiten auf den verschiedenen Ebenen von schulischer, künstlerischer, wissenschaftlicher und kunstpädagogischer Praxis auch als Beitrag zu einer sinnvollen Profilbildung im Rahmen der eingeführten konsekutiven Lehrerausbildung. Im Folgenden möchten wir mit dieser Zielperspektive und auf der Grundlage einiger zentraler Gedanken aus Th. W. Adornos Ästhetischer Theorie den Begriff des Rätselcharakters vorstellen. Im Rahmen einer aktuellen Kunstpädagogik, die auch pädagogisch-didaktisches Handeln im Modus einer künstlerischen Logik entwirft (Maset 2002; Buschkühle 2007, u.a.) erscheint uns der Begriff geeignet, eine Reflexivität sowohl gegenüber der eigenen künstlerischen Erfahrung, als auch gegenüber der schulischen Lehrpraxis zu entwickeln, die zur Kultivierung einer beide Bereiche verknüpfenden Haltung im unterrichtlichen Planen, Denken und Handeln beitragen kann.Dies mag auch zu einer neuen Sicht auf das belastete Verhältnis von künstlerischem und pädagogischem Handeln beitragen. Dabei öffnet sich über den Begriff des Rätselcharakters sowohl ein Zugang zum Imaginären als auch zu einer Wahrnehmungs- und Reflexionshaltung im Modus einer ästhetischen Vernunft. Adorno charakterisiert in seiner ästhetischen Theorie sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Kunst als künstlerische Erfahrungsmodi, die sich zwar der diskursiven Erkenntnis nicht zugänglich zeigen, andererseits aber eine sich im Rätsel verbergende Spur zu einem sich der begrifflichen Logik entziehenden Wahrheitsgehalt legen. Dabei mache gerade die „Unbestimmtheitszone zwischen dem Unerreichbaren und dem Realisierten … ihr Rätsel aus.“ (Adorno 1977: 194) Die Annäherung an diesen Wahrheitsgehalt als Orientierung, sei alleine im Rahmen der Mimesis möglich, indem sie einer Erinnerungsspur folgt. „Die Erinnerungsspur der Mimesis, die jedes Kunstwerk sucht, ist stets auch Antizipation eines Zustandes jenseits der Spaltung zwischen den einzelnen und den anderen.“ (Adorno 1977: 198). Wir versuchen uns im Folgenden, einem Verständnis des Begriffs zunächst auch auf der Grundlage eigener Erfahrungsbezüge zu nähern.
Um einen Zustand des Rätselns erfahrbar zu machen, braucht es ein Rätsel, zum Beispiel eine Frage, die nicht augenblicklich gelöst werden kann, Dinge, die nicht identifiziert werden können oder Situationen, die eine eigene Ordnung durcheinander bringen und irritieren. Auf der Suche nach einem geeigneten Anlass stoße ich durch Zufall im ZEIT-Magazin auf ein Rätsel – „Mehrzweckworte auf Wanderschaft“, 6 Buchstaben senkrecht. Ich entschließe, mich im Selbstexperiment dem Rätsel zu nähern. Auf diesem Weg versuche ich nicht nur, der Lösung des Rätsels näher zu kommen, sondern den Prozess dieser Annäherung und dabei auch mich selbst im Fragen und Nicht-wissen zu beobachten und diesen Vorgang zu dokumentieren.
Mehrzweckworte auf Wanderschaft (ZEIT Magazin, Nr. 2090, Rätsel „Um die Ecke gedacht“, 6 Buchstaben senkrecht) – Selbstexperiment von Katja Böhme zur Untersuchung einer sich dem Rätselcharakter anschmiegenden Aufmerksamkeitshaltung
Was sind Mehrzweckworte? Worte, die in verschiedenen Zusammenhängen auftauchen können? Wandelbare Bedeutung? Wandernde Wörter. Wörter mit unterschiedlichem Zweck. Wanderschaft als Wanderschaft im Satzgefüge? Können an unterschiedlichen Positionen stehen. Welchen Zweck erfüllen Wörter? Semantisch, grammatisch, funktional.
Der Grad zwischen Lust und Frustration wirkt schmal. Ein Rätsel lösen – das ist ein Prozess der Erkenntnisgewinnung, der als ein bewusstes Denken vollzogen wird und spürbar ist. Einer Lösung nahe zu kommen, enthält neben der kognitiv rationalen auch eine körperliche Ebene – es liegt mir auf der Zunge, der Kopf raucht, es kribbelt in den Fingern – das Noch-Nicht-Greifbare wird zur leiblichen Erfahrung. Es wird eine physische Spannung und Aufmerksamkeit aufgebaut, die durch die Suche nach etwas ausgelöst scheint. Jedes Wissen kann relevant sein zur Lösung eines Rätsels, alles muss im großen Zusammenhang gedacht, verworfen, vernetzt werden.
Auf dem Stuhl sitzen und kippeln. Ins Leere schauen, versuchen, in ein Inneres zu sehen. Weitere Anhaltspunkte zur Lösung des Rätsels suchen und prüfen, ob die Ideen dem Rätsel standhalten. Der Kopf ist leer und doch prasseln Assoziationen und Wortfetzen ungeordnet und scheinbar zusammenhangslos auf mich ein.
Adorno beschreibt ein Denken im Rätselcharakter als einen Vorgang, der rational organisiert und doch diskontinuierlich ist und dabei immer wieder den Gegenstand neu ansetzend befragt (Wiggershaus 2006: 33). Indem eine bestimmte Denkrichtung nicht unmittelbar zur Lösung eines Rätsels führt, wird sie modifiziert oder ggf. verworfen. Der Gegenstand, die Frage wird immer wieder aus einer anderen Perspektive heraus befragt und verhandelt. Scheinbar relevante Informationen werden ständig (re)organisiert, Assoziationen neu bewertet und strukturiert. Ein Rätsel lässt grübeln und einen Zustand des Staunens entstehen. Das, was uns fremd, fern und verschieden bleibt, kann vom Staunen ins Erstaunen münden (Wiggershaus 2006: 32). Um der Spur des Rätsels zu folgen, bietet sich der Bezug zu Adornos Ausführungen über die Neue Musik an, da gerade sie dialektische Eigenschaften und paradoxe Strukturen aufweist, die als Rätselcharakter in der damit verbundenen Rezeption wiederentdeckt werden können: Mit Kalkül sei sie spontan, gleichermaßen geleitet von Instinkt und Intellekt, gekennzeichnet von Rücknahme und Überschreiten, sie betreibe reflektierte Nichtreflexion (Wiggershaus 2006: 36). Diese Paradoxien finden sich im Rätsel insofern wieder, als es eine ernsthafte Spielerei und spielerischer Ernst zugleich ist. Man glaubt, bewusst und systematisch der Lösung näher zu kommen und doch sucht man intuitiv im Pool der eigenen Erfahrungen und des eigenen Wissens, hangelt sich von vager Assoziation zu Assoziation. Das Rätsel erfordert eine ganz individuelle Logik, keine lineare, rein teleologische Rationalität. (vgl. Abb 2) Das Rätsel, verstanden als „Misston im Getriebe“ (Wiggershaus 2006: 43), führt zu einer Kommunikation des Unterschiedenen und drängt doch gleichermaßen auf Einheit. Die Antithetik wird zum Wesen des Rätsels. Das Selbstexperiment, sich in die Aufmerksamkeitshaltung des Rätselns zu begeben, verweist auf interessante Erfahrungsmomente. Der Rätselcharakter erfordert eine besondere Aufmerksamkeitshaltung, die während der Phase des Wahrnehmens und Suchens als eine innere Spannung erlebt wird. Das Staunen vorm Rätsel, auch als ein körperlich spürbares Moment, wird erhalten, solange man auf die Beschreibung des Wahrgenommen drängt, es verflüchtigt sich jedoch, sobald das zuvor Unbekannte begrifflich identifiziert und in Eindeutigkeiten erklärt wird. Das Staunen, das Suchen als aktiver Umgang mit dem Rätsel, aber auch die damit verbundene Offenheit für das, was sich zeigen könnte, droht sich buchstäblich aufzulösen. Die folgenden Schlaglichter auf den Theoriekomplex Adornos sollen als Anregung dienen, um erste Bezüge zwischen dem Rätselcharakter und kunstpädagogischem Denken und Handeln herzustellen.
(…) der Fehler des traditionellen Denkens, dass es Identität für sein Ziel hält. (Adorno 1966: 150)
In der „Dialektik der Aufklärung“ richtet sich Adorno, gemeinsam mit Max Horkheimer, gegen ein Denken des Allgemeinen (Buschkühle 2007: 116), das den Blick für das Besondere trübt und das einzelne Phänomen zugunsten von Kategorienbildungen vernachlässigt. Das Denken des Allgemeinen als abendländische Tradition des Philosophierens zeichne sich durch hohe Effizienz und unmittelbare Zielführung aus. Es zeige sich historisch eine Auseinandersetzung mit der Welt, die primär zweckorientiert sei und den Prinzipien naturwissenschaftlicher Rationalität folge. Erkenntnistheoretisch richtet sich Adorno dabei gegen idealistische und rationalistische Konzepte der Aufklärung, indem die Unterstellung einer möglichen Identität von Sache und Begriff und die kategoriale Subsumierung des Einzelnen unter das Ganze kritisiert werden. Jedes einzelne Phänomen, jede singuläre Erfahrung und Wahrnehmung werde dabei als rein subjektiv relativiert und nur als kleiner Bestandteil einer größeren, da rational bestimmbaren Ordnung bzw. eines Systems begriffen. Die Strukturierung eines so ausgerichteten Systems führe aber zu einem Denken von Oben statt vom Besonderen her (Wiggershaus 2006: 33) und stehe einer situativen Durchdringung der Welt entgegen, die auf polyperspektivischer Betrachtung, (selbst)kritischem Reflektieren und dem Auflösen von Selbstverständlichkeiten fußt. Ein Denken aber, das Widersprüchliches und im wörtlichen Sinne Unfassbares negiert, führe zu einer Verflachung und Verdünnung bestehender Zusammenhänge und Beziehungen. Während eine offene Anschauung beschreiben will, was und vor allem wie etwas sei, sagt das „Identitätsdenken (…), worunter etwas fällt, wovon es Exemplar, Repräsentant, was es also selbst nicht ist.“ (Adorno 1966: 150)
Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel (…). Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unter dem Aspekt der Sprache.
(Adorno 1977: 182)
Setzt man sich einem Rätsel aus oder begegnet es uns als Widerfahrnis, befindet man sich in einem Zustand zwischen Unsicherheit und Zielorientierung und wird sich der Grenzen des eigenen Sprachvermögens dabei schnell bewusst. Der Rätselcharakter als Impuls zu einer besonderen Wahrnehmungs-, Denk- und Sprechsituation erfordert einen ungewohnten Sprachgebrauch fernab eingeschliffener Beschreibungsmuster. Statt in festen definitorischen Zuschreibungen versteht Adorno den Erkenntniszuwachs als offenen Prozess des Suchens, des immer wieder neuen Denkens, auch des Verwerfens. Er beschreibt einen vielseitigen Wahrnehmungs- und Denkprozess, der sich ebenfalls auf sprachlicher Ebene zeige. Eine Sprache der „Konstellationen“ (Adorno 1966: 162) verweise hierbei auf die Vagheit, die Weite einzelner Inhaltsfelder. Sich dem Rätselcharakter auszusetzen und nach Erkenntnisgewinn und Versprachlichung zu streben, stelle deshalb eine immer wieder neu zu entdeckende Annäherung an wahrnehmbare Phänomene durch Wortfelder anstelle von Wortkategorien, Begriffskonstellationen anstelle von Oberbegriffen dar. Indem sich die Sprache als feste Zuschreibung auflöse, werde sie der Komplexität der Erscheinungen gerechter. Die Sprache wird und macht damit unsicher, sie hinterfragt im gleichen Moment das Beschriebene und sich selbst. Jan Müller sieht eine aktuelle Bedeutung des sprachtheoretischen Ansatzes von Adorno und Benjamin. Er zeige „… das Ungenügen einer am Kommunikationsparadigma orientierten Reflexionsform … und provoziert eine für die gegenwärtige Diskussion provozierende Blickumkehr, die Sprache nicht einfach als Medium „des Politischen“, sondern als politisches Medium begreifbar macht..“ (Müller 2011)
Sie (die Kunst) ist Anschauung eines Unanschaulichen, begriffsähnlich ohne Begriff. (Adorno, 1977: 148)
In das Spannungsfeld gesellschaftspolitischer Kritik bringt Adorno den Gedanken eines anderen Rationalitätsprinzips ein, das sinnlichen und vom Subjekt erfahrbaren Ordnungen eine allgemeine Bedeutung zuschreibt, ohne sich in einem Subjektivismus zu verlieren. Er beschreibt eine Vernunft, die sich in der selbstständigen Auseinandersetzung mit der Welt entwickle und zu einem offenen Umgang mit inneren und äußeren Erfahrungen von Fremde, Verschiedenheit und Ferne befähige (Wiggershaus 2006: 32). Vor dem Hintergrund des Gedankens eines messianischen Materialismus (ebd. 32ff.), der die Versöhnung der zerfallenen Welt nicht in einer anderen, besseren, sondern nur im Zerstörten selbst zu finden vermöge, wird deutlich, was Adorno mit einem anderen Vernunftbegriff einführt: Liegt die Wahrheit der Dinge nicht in der Identität mit ihrer begrifflichen Bestimmung, sondern in der Widerständigkeit der Dinge selbst, bedarf es einer Vernunft, die das Subjekt befähigt und ethisch dazu herausfordert, mit der materiellen Welt und mit den Anderen nicht instrumentell und domestizierend umzugehen. (Abb. 3) Das Denken des Besonderen, der Blick auf das Einzelne könne dabei nur durch einen wahrnehmenden Geist vollzogen werden, der sich immer wieder neu an der ihn umgebenden Natur abarbeitet und seine Erkenntnis nicht alleine auf abstrakten Kategorien, sondern auch auf der eigenen sinnlich-leiblichen Gegenwärtigkeit aufbaut.
Ästhetische Verhaltensweise ist die Fähigkeit, mehr an den Dingen wahrzunehmen, als sie sind; der Blick, unter dem, was ist, in Bild sich wandeln. (Adorno, 1977: 488)
Die Dialektik, die in Adornos Schriften in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder auftaucht, durchwirkt insbesondere das Kunstwerk als Hybrid zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Es präsentiert sich als Rätsel – eine Tatsache, die sich in dem gesellschaftlich-historischen Funktionswandel der Kunst begründet: War die Kunst in ihren Anfängen magisch, dann kultisch, verliert sie in der Moderne ihren auratischen Dunstkreis (Stein 2008: 4 f.; Ischinsky 2002: 36; Benjamin 1998). Mit der zunehmenden Selbstbezogenheit und ihrer Absage an praktische Nutzbarkeit im kultisch religiösen Kontext wird die Kunst buchstäblich sinnlos. In ihrer Autonomie werde sie zum Rätsel, d.h. zu einem Geflecht verschiedener Verweise ins Unbestimmte (Ischinsky 2002: 36). Die „Zwieschlächtigkeit des Bestimmten und Unbestimmten“ (Adorno 1977: 188) als Wesen des Kunstwerks widersetze sich dabei einem direkten Zugriff und einer Festschreibung durch eine außerästhetische Rationalität. Die Technik des Werks als Formgefüge sei nur die Struktur des Rätsels, die Lösung des Rätsels offenbare sich jedoch erst durch ein suchendes Denken, eine phänomenologische und mimetische Betrachtung, die die Eigenartigkeit und die Einzigartigkeit des Werks akzeptiere, produktiv nutze und zu einem „Übersteigen des Formgefüges“ führe (Ischinsky 2002: 39) Unterstellt man einem Werk stets eine Sinnhaftigkeit oder Aussageabsicht, wird diese jedoch oft auf inhaltlicher und formaler Ebene verunklärt. Das Kunstwerk wird zum Appell an den Betrachter, sich den vermeintlichen Sinn selbst zu erschließen, indem es zwischen Suggestion und Faktischem, zwischen Gegenständlichem und Abstraktem, zwischen Erkennen und Verkennen fluktuiert: „Sie haben den Wahrheitsgehalt, und sie haben ihn nicht.“ (Adorno 1977: 194) Auch im Selbstexperiment wurde deutlich: Indem das Rätsel dem Gegenüber das Selbstverständliche entzieht, produziert es einen Zustand der Fremde bzw. des sich fremd Fühlens vorm Objekt und zugleich mit sich selbst. Die Rätselhaftigkeit von Form und/oder Inhalt erzeugt ein Staunen– eine Ungewissheit, eine Offenheit am Scheitelpunkt zu Faszination oder Entsetzen, ein Noch-nicht, ein Zustand frei von Festschreibungen. Der Rätselcharakter provoziert eine innere Unbestimmtheit als besondere Aufmerksamkeitshaltung. Die Fremde ist das Wesen des Rätselcharakters und bildet sich aus dem Unfassbaren der Erfahrungen (Ischinsky 2002: 41). Der Kontakt ist in der ersten Anschauung geprägt von Plötzlichkeit und einem „Überwältigtsein vom Unbegrifflichen“ (Zimmermann 1998: 165). Staunen wird zum Ausgangspunkt ästhetischen Verhaltens als „die Fähigkeit, irgend zu erschauern“, denn „Bewusstsein ohne Schauer ist das verdinglichte“ (Adorno 1977: 490).
Während die Künstlerinnen und Künstler – folgen wir Adorno – der verlorengegangenen Rätselhaftigkeit der Welt im Kunstwerk eine singuläre Gestalt zurückgeben, gewinnen sie zugleich eine Lebendigkeit an und in sich selbst zurück. Durch die Kultivierung einer ästhetischen Aufmerksamkeitshaltung, die fluktuiert zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, kann es gelingen, sich nicht nur dem Augenscheinlichen zuzuwenden. Auch gegenüber den verborgenen Momenten der Situationen gilt es, eine (er)spürende und wahrnehmende Offenheit nach außen und nach innen zu entwickeln. Ermöglicht wird dabei der Zugang zu einer Erfahrungs- und Erkenntnisdimension, die ebenso für den Unterricht fruchtbar gemacht werden kann, indem eine offene Disposition über die Intentionalität der didaktisch-methodischen Systematiken hinaus und zugleich in ihnen selbst eine Bedeutung erhält. Vor aller fachdidaktischen Relevanz im engeren Sinn hat eine solche prinzipielle Öffnung im Umgang mit den Schüler/innen im Unterricht insbesondere dann eine zentrale Bedeutung, wenn man das Ziel verfolgt, Bildungsprozesse zu initiieren und zu begleiten, die über eine planbare Aneignung von fertigen Techniken und Wissensbeständen hinausgehen. Bildungsprozesse, in denen die Kinder und Jugendlichen die Chance erhalten sollen, sich selbst in dieser Welt verantwortungsvoll zu positionieren, müssen ihnen die Möglichkeit geben, ihr eigenes sachliches, emotionales und zugleich kritisches Welt- und Selbstverhältnis als Imaginäres und als Reales auszubilden (Engel 2010) im Rahmen einer sinnlich-leiblich-geistigen Teilhabe an den Prozessen des Unterrichts. Bildung kann so – als demokratischer Prozess verstanden – nicht ‚gemacht‘ werden, sondern sie fordert den Umgang mit dem Unbestimmten in Bezug auf die Sache und auf die Person heraus. Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten müssen die Möglichkeit haben, sich in diese Transformationsprozesse im Rahmen des Bildungsvorgangs (Koller, Marotzki, Sanders, u.a. 2007) einzufügen. Eine solche Qualität der Teilhabe aber ist nicht technologisch herstellbar, sondern sie ist gebunden an eine Bereitschaft der Lehrenden, die sinnvoll zu entwickelnde pädagogische und inhaltlich-didaktische Intentionalität im geeigneten Moment zurückzunehmen, im Sinne ihrer Ermöglichung. Sie ist dabei unabdingbar angewiesen auf soziale, zwischenmenschliche, aber auch strukturelle Stabilitäten und Verlässlichkeiten, die als Rahmung genug Sicherheiten bieten, sich auf das Wagnis offener Erfahrungsprozesse einlassen zu können. Dies fordert sodann eine besondere Art der Verständigung heraus, die sich mehr an einem gemeinsamen Sachbezug orientiert, an der Fruchtbarkeit der Vielfalt von Wahrnehmungs- und Lösungsansätzen, an einem Nach-Spüren und Nach-Denkender Phänomene. Statt vorschneller Festschreibungen bedarf es dabei eines vorsichtigeren, experimentelleren Sprachgebrauchs, der sich und den Anderen Unsicherheiten auch als Suchbewegungen gewährt. Hierbei gilt es, ein Miteinander zu kultivieren im Rahmen einer gemeinsamen Aufmerksamkeit für das Zusammenspiel von inneren und äußeren Geschehnissen (Engel 2004/2011). Gelingen kann dies nicht innerhalb eines in starren Schrittfolgen konzipierten Unterrichtsverlaufs, der daran ausgerichtet ist, die sich zeigenden Unwägbarkeiten zu unterbinden. Gerade die Differenzen der Sichtweisen können als Grundphänomene der Heterogenität inhaltlich und praktisch fruchtbar werden, im Rahmen einer Offenheit für das, was sich zeigt, als lebendiges Potenzial. Kunstpädagoginnen und Kunstpädagogen sollten als besondere Spezialistinnen und Spezialisten für die Ermöglichung von Bildungsereignissen eine Wahrnehmungssensibilität einbringen, die ganz im Dienste einer lebendigen Neugierde der Kinder und Jugendlichen steht, die sich gegenüber einer Rätselhaftigkeit der Welt und der Phänomene noch nicht verschlossen haben. Dies mag emphatisch klingen, zeigt sich aber in der prekären Wirklichkeit der heutigen Schule noch immer als eines der verlässlichsten Erfahrungsmomente, an die pädagogisch-didaktisch angeknüpft werden kann. Den lebendigen Umgang mit dieser Rätselhaftigkeit gilt es exemplarisch im Sinne einer Selbst- und Weltverantwortlichkeit zu kultivieren. Sie kann unter einem erweiterten historischen, gesellschaftlichen und interkulturellen Horizont an den Künsten jeweils neu entdeckt und interpretativ erschlossen werden. Die fachdidaktische Phantasie und Imagination von künstlerisch ausgebildeten jungen Kunstpädagogen und Kunstpädagoginnen findet hier ein hochinteressantes Betätigungsfeld, wenn es um die inhaltliche Auswahl und Konzeption erfahrungsoffener Unterrichtsituationen geht, die die Dinge als Rätsel entdecken, im Rätsel verhüllen, in unbekannte Formen transformieren, in neuen Kontexten ganz anders erscheinen lassen, im Verborgenen verschwinden lassen, dem Zugriff entziehen, im Fremden neu ergründen und vieles Andere mehr (Abb. 4). Gemeint ist eine fachdidaktische Orientierung, die den Umgang mit dem Unbekannten kultiviert und die Prozesse nicht vorschnell unter bereits festgelegte Ordnungen auch in den Beurteilungsmaßstäben subsumiert. Dabei geht es auch um den prinzipiell offenen Charakter des Denkens selbst, um den Spielraum in der Interpretation der Werke, der Bilder und der Dinge sowie um einen verbalen und nonverbalen Austausch darüber, wie jeder einzelne wahrnimmt, zweifelt, antizipiert, versteht und interpretiert. In der Begegnung mit dem Rätselcharakter öffnet sich – so verstanden – ein Möglichkeitsraum von bildungstheoretischer und zugleich bildungspraktischer Relevanz. Wenn ein solcher Umgang gelingt, werden die gewünschten Kompetenzen frei Haus mitgeliefert, nicht selten in unerwarteter Fülle und Gestalt. Eine weitgehend autonome Erfahrungsoffenheit zukünftiger Kunstpädagoginnen und Kunstpädagogen vermag sich zu einer flexiblen Grundhaltung entwickeln, die künstlerisches, kunstwissenschaftliches und kunsthistorisches Material-, Sach- und Handlungswissen in die kommunikative Praxis mit den Kindern und Jugendlichen kreativ einbringt und kontextbezogen übersetzt, ohne sich dabei an die institutionellen Vorgaben zu verlieren. Die dialektische Struktur von Kunstwerken und künstlerischen Prozessen zwischen Verrätselung und Wahrheit, zwischen Verweis und substantieller Bestimmtheit mag sich dabei zu einem Bildungspotenzial im Sinne beruflicher Professionalität transformieren. Damit dies gelingt, muss der Transfer der eigenen künstlerischen Erfahrung auf das pädagogisch-didaktische Denken und Handeln systematisch erprobt, hochschuldidaktisch kultiviert und verlässlich begleitet werden. Bereits im Studium gilt es die Kluft zwischen theoretischer Wissensaneignung und künstlerisch-praktischer sowie pädagogischer Erfahrung in eine fruchtbare Dynamik zu überführen im Rahmen innovativer und selbstreflexiver Vermittlungskulturen. Die Chance besteht, dass dadurch exemplarisch bereits im Lehren und Lernen an der Hochschule erprobt werden kann, was in neuer Form später am Schulort noch eine eigene und neue Gestalt finden muss, indem sich ein Potenzial utopischer Weltentwürfe im Hier und Jetzt zu konkretisieren lernt.
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Abbildungen:
Abb. 1: Körper, Bewegung, Interaktion – Performance im Seminar „Kunstpädagogik als Kritik“ (WS 2011/12, Prof. Dr. Engel, K. Böhme [Foto] Kunstakademie Münster)
Abb. 2: Arbeit der Studentin Theresa Papendick im Seminar „Der Rätselcharakter – eine andere Aufmerksamkeitshaltung als kunstdidaktische Orientierung“ (WS 2011/12, Prof. Dr. Engel, K. Böhme [Foto] Kunstakademie Münster)
Abb. 3: Arbeit der Schülerin Lisa Cordes, Jg. 11, (Klausur im Schuljahr 2005/2006 zum Thema: „Der verborgene Sinn eines Hühnereis“ Dr. B. Engel[Foto]Bertolt-Brecht Gesamtschule Löhne)
Abb. 4: SeminarteilnehmerInnen im Umgang mit verschiedenen Materialien im Rahmen des Seminars „Spiel und Spiel/Zeug als Gegenstand der Kindheitsforschung, der Ästhetik und der Kulturanthropologie. Kulturpädagogisch und interkulturell orientierte Annäherung“ (SS 2010, Prof. Dr. B. Engel [Foto], Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld)
Der Text ist durch ein partizipatives System der Begutachtung und Kommentierung von wissenschaftlichen Beiträgen durch die Fachcommunity („Open-Peer-Review“) gegangen, das die zkmb bis September 2019 verwendet hat. Für die Dauer von zwölf Monaten konnte der „Text im Diskurs“ von allen Personen der Fachcommunity durch öffentliche und namentlich gekennzeichnete „Reviews“ kommentiert werden. Nach Ablauf dieser Zeit hatten die Autoren/innen die Möglichkeit, ihren Artikel zu überarbeiten und dabei gegebenenfalls Hinweise der Reviews einzuarbeiten. Die endgültigen Publikationen wird hier zusammen mit den daran geknüpften Reviews veröffentlicht.