In Schnurrs Artikel geht es um den Plural in zweifacher Ausführung, einerseits um einen vereinnahmenden, homogenisierenden Plural, einen kunstpädagogischen pluralis majestatis, andererseits um einen differenzierenden Plural als heuristisches „Kontrastmittel“ für den ersten. Plural 1 verknüpft Schnurr dabei mit einer kunstpädagogischen Systemprämisse, wonach ästhetische Prozesse genuine Bildungsprozesse markieren würden, wenn mit diesen per Definitionem eine Erfahrungs- und Erkenntnisprogression einhergehe, d.h. eine kontemplative Verrückung und Neuperspektivierung des Ich-Welt-Verhältnisses verbunden sei. Doch inwieweit deckt sich nun – so fragt der Autor weiter – das eigene kunstpädagogische, auf spezifischen Subjekthypothesen gründende (Selbst-)Verständnis ästhetischer Erfahrung mit den ästhetischen Verhaltenspraxen Jugendlicher? Diese Fragestellung diskutiert Schnurr auf der Folie von Milieumodellen einer soziologischen Lebensweltanalyse, der „U27“ Sinus-Studie (Plural 2). Das Vorhaben des Autors, durch Differenzbildung kunstpädagogische Paradigmen auf ihre eigene Milieuspezifik abzuklopfen und dem Fachdiskurs zuzuführen, ist richtig und wichtig. In der Rezeption dieses Artikels sollte insofern auch nicht nur eine wie auch immer berechtigte Kritik an den normativen Implikationen der Sinus-Studie alternativlos im Vordergrund stehen. Vielmehr sind genauer die Ingredienzien des kultursoziologischen Kontrastmittels in den Blick zu nehmen und auf ihre Verwendbarkeit im eigenen Fach zu überprüfen.
Zu diesem Zweck möchte ich nachfolgend systemisch den soziologischen Blick auf ästhetische Verhaltensweisen erläutern, um die Leistungsfähigkeit des von Schnurr verabreichten Kontrastmittels aufzuzeigen und ggf. noch zu steigern.
Als Einstieg hilft es, den vom Autor verwendeten Begriff der „lebensweltlichen Orientierungen“ definitorisch zu schärfen. Orientierungen sind in der empirischen Sozialforschung keinesfalls ausschließlich mentalistisch zu fassen, sondern im Anschluss an Schulze als „subjektiv-situative Muster“ (Schulze 1994: 82) zu begreifen. Gemeint sind nachweisbare „[…] Regelmäßigkeiten im Verhältnis von Subjekt und Situation. Menschen gelten als ‚orientiert’, sofern sie unter ähnlichen Umständen Ähnliches tun und dies für sinnvoll halten“ (Schulze 1994: 80). Sinn und Zeit sind gemäß dieser Definition insofern wesentliche Aprioris für den Aufbau von Orientierungen. Aus kunstpädagogischer Sicht fremdartig mutet dabei weniger die Sinn- als vielmehr die Zeitdimension an. Soziale Realitäten als episodische Kopplungen aus Mensch(en) und Umwelt(en) konstituieren sich überhaupt erst durch ihren iterativen Charakter. Erst Wiederholungen machen die „Substanz von Kultur“ (Schulze 2003: 352) aus. Als Experten für das Außergewöhnliche, „Neue, für bis dahin Undenkbare […] (Oevermann 1996) scheint es uns Kunstpädagogen vom eigenen Selbstverständnis schwerer zu fallen, das Normale schätzen zu lernen. Doch ohne Bestätigungsroutinen in sozialen Interaktionsprozessen können sich Lebensstile überhaupt nicht entwickeln. Dabei gilt es erkenntnistheoretisch Vorsicht walten zu lassen bei Übernahme der ggf. latent mitschwingenden Dichotomie von normal=statisch vs. neu=progressiv, die uns gefühlsmäßig beschleicht. Das absolut Neue als das „bis dahin Undenkbare“ ist erkenntnistheoretisch weder wahrnehmbar noch überhaupt beschreibbar (vgl. Zumbansen 2008: 47ff.). „Der Grad der Neuheit eines wahrgenommenen Phänomens misst sich […] einzig am Grade der Übereinstimmung und Abweichung mit bereits Bekanntem“ (Müller/ Sottong 1998: 47). Demgegenüber erweisen sich die Normalitäten des Sozialen keinesfalls als erratisch, sondern als hochdynamische Übergangszustände, weshalb es nach Schulze in der empirischen Sozialforschung auch eher um die Entwicklung von „Verlaufsdiagnose[n]“ (Schulze: 2001: 288) gehe, welche Wandlungsmuster und Transformationsroutinen von Milieus und Szenen erfassen.
Vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund verwundert es auch nicht, wenn Schulze ästhetisches Verhalten als Spezialfall lebensweltlicher Orientierung definiert. Als alltagsästhetische Episode bezeichnet er nämlich eine Handlung, „die sich erstens in einer Situation ereignet, in der mehrere Handlungsmöglichkeiten bestehen, die zweitens durch innenorientierte Sinngebung motiviert ist und die drittens [Wiederholungstendenzen aufweist]“ (Schulze 2005: 556). Ästhetisches Handeln ist demnach prinzipiell objektindifferent, jeder beliebige Gegenstand oder Sachverhalt kann dazu als Anlass oder Rohstoff dienen. Das bedingt jedoch, dass sich die betreffende Zuwendung zu einem Gegenstand/ Sachverhalt faktisch nicht als alternativlos erweist und somit das Ergebnis einer bewussten Wahlhandlung darstellt. Diese wiederum muss intrinsisch motiviert sein und als subjektiv gelungen verarbeitet werden. So weit so gut. Weisen die letztgenannten Aspekte noch Schnittmengen mit der Konzeption „ästhetischer Erfahrung“ bei Oevermann auf, so wird vermutlich auch hier wieder das an Wiederholungen und kollektive Verbreitung gekoppelte Moment der Alltäglichkeit aufstoßen. Das Außergewöhnliche hat nach Schulze als empirisches Faktum in den sozial (und soziologisch) erzeugten Wirklichkeiten keinen Platz, weil kein Gewicht. Im Verhältnis zum Kollektiv wäre das Außergewöhnliche die Exzentrikerposition, im Verhältnis zur Lebenspraxis des Einzelnen der Bereich einmaliger Erlebnisse. „Alltäglichkeit ereignet sich [dagegen] in der Sinnregion, die weder individuell noch kollektiv aus dem Rahmen fällt“ (Schulze 2005: 99).
Eine letzte Denkanregung möchte ich mit Schulze noch zu der Problematik der modellhaften Reduktion von sozialen Wirklichkeit liefern, wie sie in der Sinus-Studie angelegt ist und von Schnurr thematisiert wird. Denn unlauter ist es sicherlich ein empirisch generiertes Modell dazu zu nutzen, Individuen a posteriori zu typologisieren, aber ebenso verfehlt mutet das Bedürfnis an, die vielgestaltige Wirklichkeit gegen die komplexitätsreduzierenden Modelle der Sozialwissenschaften auszuspielen. Die Abweichung realer Ordnungstendenzen von vorgestellten idealen Ordnungsstrukturen ist nach Schulze keine methodologische Ungenauigkeit, sondern eine notwendige analytische Unschärfe, welche unabdingbar sei bei soziologischen Erhebungen, wie etwa Milieusegmentierungen (Schulze 2005: 214). Die „Kunst der Grobeinstellung“ (Schulze 2003: 206), das Ökonomiebedürfnis der wissenschaftlichen Empirie, habe sich dabei an den Gestaltgesetzen der Wahrnehmungspsychologie zu orientieren, an dem Streben nach Klarheit, Einfachheit und Prägnanz. Schnurrs „Kontrastmittel“ als Erkenntnisinstrument weist in die gleiche Richtung. Gleichwohl muss die Anerkennung von Unschärfen die numerisch exakte Quantifikation von Milieuverteilungen, wie sie in der Sinus-Studie vorgenommen werden, infrage stellen. Gleiches gilt für die Visualisierung des Datenmaterials. Dazu Schulze mit einer Kunstmetapher:
Eine Milieusegmentierung ist einem pointillistischen Gemälde vergleichbar, nicht einer Landkarte. Weil es nur breite Grenzzonen statt exakter Grenzlinien gibt, ist die Ausdehnung des Terrains nicht genau zu bemessen (Schulze 2005: 216).
Kritisch mit Milieumodellen gearbeitet werden sollte jedoch nicht nur innerhalb des kunstpädagogischen Fachdiskurses, sondern auch im Kunstunterricht selbst. Unhabhängig von der (notwendigen) Fähigkeit zur eigenen positiven Selbstverortung im Kaleidoskop der empirisch konstruierten Milieuorientierungen, offerieren derartige Modelle auch Möglichkeitsräume für Differenzerfahrungen; angebahnt über die Konfrontation mit alternativen Wertewelten, Zeitkonzepten und Distinktionsparametern, die sich auch im ästhetischen Alltagsverhalten bestimmter Kollektive widerspiegeln. Eine reflexive wie produktive Auseinandersetzung mit Produktdesigns als Aggregationen jeweils milieubezogener Konzeptionen des Wünschenswerten wäre hier bspw. denkbar (vgl. Ullrich 2006, Billmayer 2011).
Allerdings sollte auch nach Alternativen zu den Typologien der Sinus-Studie gesucht werden, wobei Modelle zu favorisieren sind, die – entsprechend dem oben angeführten Zitat – weniger zu einer diskreten Kategorisierung verführen, sondern eher unterschiedliche Nähe- und Distanzgrade zu unterschiedlichen Wertefeldern abbilden. Zu verweisen sei hier etwa auf das alltagsästhetische Orientierungssystem von Schulze (2005: 255), das nach Maßgabe einer psychophysischen Semantik ein vierseitiges Koordinatensystem ausbildet (Abb. 1). Dabei bemisst die eine Achse den Grad kognitiver Differenziertheit zwischen den Polen Komplexität und Einfachheit, die andere Achse den Grad der handlungsbezogenen Reguliertheit zwischen den Polen Spontaneität und Ordnung (s. Abb. 1). Neben diesem Modell, auf das gerade auch im Kontext von Marktforschungen noch immer zurückgegriffen wird, ist ebenso das von Karmasin funktionalisierte Group/Grid-Modell der Kulturanthropologin Mary Douglas zu nennen (Karmasin 2004a: 111), das ähnlich visualisiert werden kann (Abb. 2). Grid betrifft dabei die Freiheitsgrade eines Individuums bei der Aushandlung von Beziehungsregeln, Group dagegen das grundlegende Ausmaß an Autonomie bzw. Heteronomie, das in einer Gesellschaft gelten soll. Durch Kombination dieser Dimensionen ergeben sich hier vier verschiedene Idealtypen, verteilt auf die die vier Quadranten des Koordinatensystems.
Im Modell des Hierarchismus hat die Gemeinschaft Vorrang, die auch klare Regeln vorgibt, im Modell des Individualismus ist dies genau umgekehrt. Zu den Mischformen gehört der Egalitarismus, bei welchem die Gruppe Priorität hat, aber alle Mitglieder gleichberechtigt sein und Regeln frei Aushandeln können sollen. Die fatalistische Kultur hingegen zeichnet sich durch (unfreiwillige oder freiwillige) Selbstisolation ihrer Mitglieder aus, die jedoch nicht davon überzeugt sind, die Regeln des gesellschaftlichen Systems abweichend beeinflussen oder verändern zu können. (vgl. auch Karmasin 2004b: 387). Diese heterogenen Wertewelten führen nach Karmasin nun auch zu ganz heterogenen ästhetischen Orientierungen, die z.B. auch in ganz bestimmten Markendesigns ihren Niederschlag fänden (Karmasin 2004a: 519ff.).
Mit den vergröbernden Instrumenten der empirischen Sozialforschung werden die ebenso relevanten Mikrostrukturen und je individuellen Verarbeitungsprozesse ästhetischer Erfahrungen nicht hinreichend berücksichtigt. Jedoch gilt das Gegenteil in gleicher Weise. „Ohne die Kunst des Abkürzens, Pointierens, Glättens lassen sich wesentliche Züge des sozialen Wirklichkeit nicht erkennen“ (Schulze 2003: 91). Die Herausforderung liegt auch für unser Fach in dem gegenstandsgerechten Changieren der Betrachtungsebenen sowie einer Qualitätsprüfung der dabei jeweils zum Einsatz kommenden Objektive.
Billmayer, F. (2011): Shopping – Ein Angebot zur Entlastung der Kunstpädagogik. In: online, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb, Text im Diskurs, www.zkmb.de/index.php?id=73; Zugriff: 02.11.2011.
Karmasin, H. (2004a): Produkte als Botschaften. Frankfurt a.M.
Karmasin, H. (2004b): The Bovine Ferrari. Normierung – Mehrwert – Distinktion in Stammes- und Industriegesellschaften. In: Frank, G./ Lukas, W. (Hg.): Norm, Grenze, Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien u. Wirtschaft. Passau, S. 383-403.
Müller, M./ Sottong, H. (1998): Zwischen Sender und Empfänger. Eine Einführung in die Semiotik der Kommunikationsgesellschaft. Bielefeld.
Schnurr, A. (2011): Weltsicht im Plural. Über jugendliche Milieus und das „Wir“ in der Kunstpädagogik. In: online, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb, Text im Diskurs, www.zkmb.de/index.php?id=42; Zugriff: 02.11.2011.
Schulze, G. (1994): Gehen ohne Grund. Eine Skizze zur Kulturgeschichte des Denkens. In: Kuhlmann, A. (Hg.): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne. Frankfurt a.M., S. 79-130.
Schulze, G. (2001): Scheinkonflikte. Zu Thomas Meyers Kritik der Lebensstilforschung. In: Soziale Welt 52. H. 3, S. 283-296.
Schulze, G. (2003): Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? Wien.
Schulze, G. (2005): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M.
Ullrich, W. (2006): Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Frankfurt a.M.
Zumbansen, L. (2008): Dynamische Erlebniswelten. Ästhetische Orientierungen in phantastischen Bildschirmspielwelten. München.
Abb. 1: Schulzes Erlebnismilieus als Zielgruppenmodell bei Karmasins Motivforschung. http://www.gallup.at/kmo/images/stories/Erlebnismilieus.pdf; Zugriff: 02.11.2011.
Abb. 2: Das Group/Grid-Modell der Cultural-Theory. http://www.peopleandplace.net/media/file/87/four_rationalities.jpg?1268144827; Zugriff: 02.11.2011.