Ein zweiteiliger Beitrag zur Tagung: Perspektiven der Verknüpfung von Kunst, Medien und Bildung 2: Das kulturelle Imaginäre | 25./ 26.11.2011 | Wissenschaftliche Sozietät Kunst, Medien, Bildung zu Gast an der Kunsthochschule Mainz | kunst-medien-bildung.de/category/tagungen/
Der erste, von Karl-Josef Pazzini verfasste Teil des Beitrages „Eine gewisse Gewalt des Imaginären. Zu Gerhard Richters Betty“ (1977) findet sich unter hier.
An dieser Stelle soll es nun um ein erstaunliches Wechselspiel von Irritation und Verschließung bzw. Zuspitzung und Entschärfung gehen, wie es sich in der Rezeption dieses Bildes einstellt und daher, so wäre zu vermuten, auch angesichts seiner Beschaffenheit. Eine „gewisse Gewalt des Imaginären“ ist dann im Spiel als ‚Gewaltsamkeit‘ der Deutung des Bildes, des Bildes selbst… und es stellt sich die Frage, was einen hier möglicherweise anspringt, beschworen wird, gebannt werden soll.
Ausgangspunkt soll der Documenta-Katalogbeitrag der Kunst- und Filmwissenschaftlerin Kaja Silverman sein. Nachdem sie eine Verbindung von Betty-Bildern mit solchen von Gudrun Ensslin hergestellt hat, schreibt Silverman weiter über die Liegende:
„Betty (425/4) stellt eine Verbindung zu einem weiteren Mitglied der RAF her, Ulrike Meinhof, abermals durch ein ‚gefundenes Bild‘ – ein offizieller Head-Shot von Meinhofs Leichnam, der auf einer flachen Oberfläche liegt. Der Stern veröffentlichte diese Fotografie über zwei Seiten und machte Meinhofs einsames Hängen so zur öffentlichen Exekution; die Teilung in der Mitte der Fotografie trennte den Kopf von ihrem Körper, ähnlich dem scharfen Schnitt einer Guillotine. Wie auch die Fotografie von Meinhofs Leichnam stellt Betty (425/4) eine Nahaufnahme von Kopf und Schultern dar. Sie liegt auf einer flachen Oberfläche, horizontal; der Körper tritt von links in den Rahmen; sie sieht aus wie eine Erwachsene, nicht wie ein Schulmädchen. Die Oberfläche, auf der Betty liegt, verwandelt Richter in einen Schlachterblock, und er umreißt alles auf dem Gemälde mit der Schärfe einer Axt. Gleichzeitig stattet er seine Tochter mit einer Fähigkeit aus, die Meinhof nicht mehr besitzt: zurückzublicken. Da es nicht möglich ist, ihrem Blick zu begegnen, können wir kaum dem Impuls widerstehen, unser eigenes Genick der Guillotine preiszugeben und unseren Kopf nach rechts zu drehen. Geben wir dem Impuls nach, ist Meinhof nicht länger eine fremde ‚Andere‘, sondern sie wird zu dem, was Betty für ihren Vater darstellt: Fleisch unseres ontologischen Fleisches.“(Silverman 2007: 104)
Diese Schilderung schlägt den Lesenden wahrhaftig vor den Kopf. Doch lohnt es sich, den Blick nicht ab-, sich vielmehr zum Text hinzuwenden – um auf diese Weise möglichst mehr über die durch das Bild in Gang gesetzte Dynamik zu erfahren.
Eine gewisse Gewalt des Imaginären findet sich zunächst in den Aussage-Inhalten: Hier wird das Betty-Bild recht unvermittelt der kampfunfähigen RAF-Terroristin assoziiert. Immerhin in der Bildgeschichte erscheint Betty mit der RAF verwickelt: Richter produziert Betty (425/4) einerseits im Jahr des Deutschen Herbstes 1977 und greift andererseits besagtes Meinhof-Bild für seinen vielbeachteten Zyklus „18.Oktober 1977“ (1988) wieder auf (667/1-3).[1]
Formal verbinden sich nach Silverman Betty und jener Head-Shot der toten Meinhof im Profil durch horizontale Oberflächenlage bzw. Naheinstellung. Scheinen im Falle Meinhofs Körper und Kopf durch Strangulationsmale bzw. das veröffentlichte Zweiseitenarrangement bereits getrennt, so droht Betty die Abschlachtung anscheinend erst noch.[2] Zugleich haben sich scharfe Schnitte durch Machart und Bildausschnitt offenbar auch hier bereits vollzogen: Die „Schärfe einer Axt“, von der Silverman spricht, funktioniert in diesem vergleichsweise wenig unscharfen Richter-Bild wie eine verschärfte Verdichtung des Eindrucks potentieller Gewalt.
So gesehen, ließe sich der hergestellte Zusammenhang aus der spektakulären Terrorismus- Verschlingung auch wieder lösen, ließen sich Schärfe und Schlachterblock in differente Bedeutungsrichtungen ‚ent-dichten‘. Hier ein Versuch: Eine Interpretation, die Betty einem gewaltsamen Tod assoziiert, geht nicht auf in der Bezugnahme auf die RAF und die damit verbundenen historisch politischen Fragen im engeren Sinn, welche auch das mögliche Zusammenwirken von Wünschen, Hoffnungen oder Widerstreit mit geltenden symbolischen Ordnungen betreffen. In jener Überlagerung von Tochter und drohender Exekution, die Silverman anbietet, wäre auch nicht nur etwaig das Motiv einer Kindstötung impliziert[3] – wie es z.B. im biblischen Motiv der ‚Opferung Isaaks‘ eine Rolle spielt: als, von heute aus betrachtet, eine Grausamkeit, die sich dort genau in eine symbolische Form überführt – und dabei eine untergründig obszöne Seite des ‚paternalen Willens‘ berührt.
Wenn so eine moderierte Gewalttat am dargestellten Sujet im Spiel zu sein scheint, dann kann das darüber hinaus auch heißen, dass sich in der Schärfe der Axt der Bildproduktionsprozess selbst reflektiert, den Betty zu sehen gibt. Denn der Akt der Repräsentation fordert sozusagen „Opfer“ (Bronfen 1994: 109f.) wie das Bild den Körper schon immer mortifiziert. Mit Barthes an der Photographie exemplifiziert, wird „das Subjekt zum Objekt gemacht und sogar, wenn man so sagen kann, zum Museumsobjekt“ (Barthes 1989: 21) – nicht zuletzt als Bild einer immer schon verlorenen Zeit.[4] Was, bezogen auf das Sujet Betty, genau die immer schon verlorene Zeit der Kindheit, des kindlichen Körpers betrifft – der dann durch Silverman mit der abgelaufenen Zeit des toten Körpers verkoppelt erscheint. So wie der Übergang, hier vom Kind zur Frau, kulturell eine Art ‚Tod‘ impliziert (vgl. Bronfen 1994: 287f. u.a. mit Bezug auf Turner), so wird bei der Überführung des Körpers in ein Bild quasi eine Objektwerdung oder „im kleinen das Ereignis des Todes“ (Barthes 1989: 22) erfahren.
Und wenn bei Richter das ‚eigene‘ Kind im Übergang verfremdend erstarrt und durchaus ‚leichenblass‘ im Bild erscheint, so scheinen durch die ‚Überführung‘ des Fotos in ein Gemälde die Gewalten ins Bild wiederholt ausgereizt. Denn wie dem geschossenen Foto, so ist auch dem Gemälde ein terminaler Moment zu eigen: Mit dem Pinselstrich bringt sich eine Geste auf die Leinwand, und so vermag „jede auf einem Bild dargestellte Handlung“ als „theatralische“ oder auch „als Schlachtszene“ erscheinen (Lacan 1987: 121f.)[5] (welche Silverman allzu direkt im Schlachterblock fixiert). Dabei kommt das gemalte Bild bei Richter nicht einfach als Reproduktion daher, setzt das Foto vielmehr um in Raum und Zeit. Und überlagert das gemalte vermeintliche ‚Original‘ hier als vergleichsweise de-authentifizierenden ‚Doppelgänger‘ oder Gegenbild das Foto, so legt sich in Silvermans Überlagerung auf Betty das Bild eines Leichnams – welcher das Bild eben ‚in sich‘ schon ist bzw. er „ist sein eigenes Bild“ (Blanchot 2007: 29):
Nach Blanchot könnte es sein, „dass die Befremdlichkeit des Leichnams auch die des Bildes ist“ (ebd. 27); „eine Qualität der ‚Fremdheit‘“ (Bronfen 1994: 154), wie aus einer Art ähnlicher Verdopplung. – Ein Bild einer Leiche wiederum kann die Sinne schwinden lassen; doch mit dem Bild einer Leiche wird die fremdartige, destabilisierende Präsenz toter Körper (vgl. ebd. 331f.) schnell auch wieder kulturell ‚übersetzt‘. Eine de- und restabilisierende repräsentationale Wendung scheint sich nicht nur mit der Veröffentlichung des Fotos der toten Ulrike Meinhof im Stern 1976 zu vollziehen. Sie vollzieht sich auch durch Silvermans Interpretation Bettys als Figur des Terrors, die so besehen ein unheimlich bedrohliches Moment des Bildes aufgreift, es jedoch in die identifizierbare Gestalt der toten Meinhof ‚übersetzt‘, welche dann wie ein Leichen-Schatten hinter Betty zu lauern scheint.[6] Dieser, wie man sagen könnte, gewisse ‚Terror der Interpretation‘ heftet sich an eben dieses Bild Betty, in dem die der Bildgebung inhärente Gewalt und Leichenhaftigkeit scharf mit ausgestellt erscheint, die Übersetzungen explizit, Bild eines Bildes.
Was Silvermans Katalogtext verdeutlicht: Es geht um die Suche des Blicks. Die Autorin betont die Fähigkeit Bettys – in Differenz zur Meinhof –, aus dem Bild heraus zurückzublicken. Womit der Blick hier im dargestellten Auge verortet wird. Auf die Auseinandersetzung Silvermans mit Blicktheorie an anderer Stelle können wir hier nicht weiter eingehen (vgl. etwa Silverman 1996). Dort geht es ihr u.a. darum, mit einem „Konzept der Liebe“ ein als hierarchisch strukturiert vorgestelltes „Blickregime zu durchkreuzen“ (Peters 2010: 68).[7] Mit lacanscher Theorie jedoch wäre der Blick weniger ein Regime denn ein „überschüssiges Objekt in der Welt“ (Copjec 2009: 82): Die Dinge blicken einen an, der Blick ist immer im Bild, auch wenn niemand aus diesem ‚blickt‘, als das, was „sich dem Zugriff des Auges entzieht“ (Žižek 1993: 165). ‚Zurückblicken‘ kann so auch das Bild der Meinhof: Man denkt, sie sieht uns nicht, während sie uns „in einem bestimmten Sinn […] tatsächlich anblickt, angeht“.[8] Es ist ein Blick hinterlegt, der nicht beschwichtigend fragen lässt, was das Bild uns will. Bilderproduktionen wären umgekehrt als versuchte Antworten auf genau den ‚fremden‘ (auch: unheilvollen)[9] Blick lesbar. Sie haben in diesem Sinne eine pazifizierende, blick-deponierende Wirkung.[10]
Die Bindung des Blicks an das Vorhandensein eines Augenpaars wäre womöglich ein entsprechend pazifizierendes Bild-Deutungs-Resultat.[11] Ein ungewisser Anderer hingegen deutet sich bei Silverman an, wenn auf Bettys Fähigkeit zurückzublicken, direkt die Unmöglichkeit folgt, diesem Blick zu begegnen.[12] Was wiederum zu dem Impuls führen soll, „unser eigenes Genick der Guillotine preiszugeben und unseren Kopf nach rechts zu drehen“ (Silverman 2007, s.o.). Deutlich wird: Das Bild bewegt. Hält man der annähernden Versuchung nicht stand, so macht die Bedrohung bei Betty demnach nicht halt, greift auf den Betrachtenden über.
Diesseits der fixierenden Guillotine-Vorstellung könnte das wiederum heißen: Der sich entziehende Blick des Bildes zieht den Betrachtenden in dieses hinein und auf seiner Suche scheint die betrachtende Distanz für ein gefährliches Preisgegebensein auf den Kopf gestellt.[13] Die Sehnsucht, etwas sehen zu wollen, das eine Antwort gibt, und eine Hinwendung zu eigener Verletzlichkeit scheinen dann potentiell zusammenzufallen; wodurch diese Hin-Neigung auch die Chance ist, etwas zu empfangen – es muss ja, in einer Formulierung Pazzinis, nicht gleich das Fallbeil sein.
Bei Silverman hieß es: „Geben wir dem Impuls nach, ist Meinhof nicht länger eine fremde ‚Andere‘, sondern sie wird zu dem, was Betty für ihren Vater darstellt: Fleisch unseres ontologischen Fleisches“ (Silverman 2007, s.o.). Meinhof wird quasi zur Verwandtschaft oder, in Reihe: Betty in der Lage wie Meinhof wie dann der Betrachtende wie schließlich Richter als Vater? Als könne es doch noch eine wechselseitige Begegnung geben – oder ein geteiltes Sein aus Fleisch und Blut?
2009 hat Silverman das Buch „Flesh of My Flesh“ veröffentlicht,[14] das auch ein Richter-Kapitel enthält. Dort argumentiert sie im Prinzip mit der Analogie als einer Art Ähnlichkeit, die nicht in einem Denken in Gegensätzen, Widersprüchen, Identitäten und Rivalitäten aufgeht.[15] Durch analoge Bezüge werde ein anderer Zugang, auch in der eigenen Beteiligung, möglich.[16] Dass Richter u.a. seine Tochter in Meinhofs Lage versetzte, erlaube es ihm allererst, die Schrecklichkeit des Geschehenen zu erfassen (insgesamt Silverman 2009: 195). Und mit dem Schlachter- oder Hackblock offenbare er auch die Ähnlichkeiten, die ihn mit Meinhofs Scharfrichtern (!) verbinden (vgl. ebd.). So besehen gäbe wohl auch der Betrachtende nicht nur den Kopf der Guillotine, sondern auch eigene Zerstörungspotentiale preis. – Darüber hinaus findet sich die Analogie, die Silverman in Richters Sujet (zwischen deutscher Geschichte und familiären Beziehungen) findet, auch in der Machart wieder, insofern die Fotografie für sie genau eine Analogie und Richters Fotogemälde eine analoge Verknüpfung eben von Foto und Gemälde ist,[17] weder einfach gleich, noch völlig anders. Man könnte sagen: Ein Übergang ist im Spiel.
Ausgangspunkt hier war die Schärfe des Bildes bzw. das Schneidende der silvermanschen Betrachtungsweise – gebannt in benennbare Figuren kehrt der beunruhigende Schreck des Bildes in Form ‚gewaltiger‘ Deutungen wieder. Denn Fragezeichen sind entstanden bei den vereindeutigenden RAF-Bezügen, die, diesseits der geschichtlichen Einbettung, potentiell Züge gerade einer Abwehr des Bedrohlichen in sich tragen – wenn man dieses versuchsweise fasst als ein nicht zu begegnendes Ausgeliefert- und Hingezogensein durch dieses Bild, das sich kaum auf sicherer Distanz halten lässt. Die imaginierten Platzwechsel geben darauf wieder deutliche Hinweise, sie nehmen den vor dem Bild mit in das Geschehen hinein: Wie Richter im Interview (s. Teil I) die Abgewandte (663/5) imaginär umdreht, so dreht der Betrachtende der Liegenden (425/4) nach Silverman potentiell seinen Kopf – und beide Male scheint einen etwas Tödliches ‚anzufallen‘. Vielleicht lässt sich sagen, dass im Falle der liegenden Betty ein Ausgesetzsein gleichsam ‚ins Auge springt‘, während es im Falle der Abgewandten zunächst „niemandem sonst“ auffallen muss, wie es im Interview heißt (s.o.). Gerade indem die liegende Betty in Nahaufnahme fast schon auf den Betrachtenden ‚zurutscht‘, kann die letztendliche Preisgabe kaum das ‚ganz andere‘ bleiben, wird vielmehr in Spannung gehalten. Ihre imaginäre Bannung geht in diesem Bild nicht auf.[18]
Silvermans Katalogtext greift das auf – und wendet es fast konkretistisch: in der Fixierung der Gewalt an den Terror, des Blicks an das Auge, des Zustands des Betrachtenden an die Guillotine. Die im Vergleich ‚verdünnte‘ Form ihres Buches wiederum wirkt wieder ent-schärfend[19] – dies betrifft auch die Gewaltförmigkeit der Bildhaftigkeit, die Silverman nun gleichsam als Arbeit der Analogie begreift. Und kann genau die Bewegung von der Schärfe einer Axt (s.o.) hin zu Verwandtschaft und Verbundenheit[20] – oder eben: zu einer nicht polarisierenden Übergängigkeit – als eine Aussage zum Bild der Betty gelten, das in zugespitzter Form einen nicht abgesicherten Übergang zeigt?
Was im Katalogtext ebenso auffällt, das ist, dass die sexuelle Dimension des Bildes – wie übrigens auch im Tochter-Vater-Interview – einigermaßen unter den Tisch fällt. In Silvermans Deutung scheint es, als überlagerte der nahe gelegte terroristische Bezug auch die fragliche Erotik des Betty-Bildes (425/4), ‚opfere‘ mit Gewalt deren diesbezüglich irritierenden Gehalt.[21] Auch möglicherweise naheliegende Konsequenzen ihres relationalen Ansatzes für Fragen eines darin wirksamen Sexuellen zieht Silverman bei aller Liebe[22] hier mindestens explizit nicht.[23] Selbst der mögliche Hinweis in der Katalogbeschreibung – Betty sehe aus „wie eine Erwachsene, nicht wie ein Schulmädchen“ (Silverman 2007: s.o.) –, ist mit Lektüre des Buches auf erstaunliche Weise wieder in den Meinhof-Kontext gestellt, wenn es heißt, dass u.a. das leuchtende Rot der Lippenfarbe den Altersunterschied vermindere.[24]
Andere Rezeptionen des Betty-Bildes deuten den sexuellen Aspekt teilweise an. Wenn darin z.T. die Rede ist von Lolita bzw. Kindfrau (oder auch von Sexualisierung),[25] dann ließe sich indes sagen: Gerade die – häufig klischierte kulturell-imaginäre – Vorstellung einer ‘ursprünglich‘-reinen, sexuell verführerisch-sündhaften, dabei naiv absichts- und ahnungslosen Kindfrau ohne Scham und Begreifen (vgl. Bramberger 2000: 251ff.), trifft Richters Betty-Bild nicht. Einen Unterschied macht einmal mehr die Übergängigkeit: Denn in Differenz zur Kindfrau, die sozusagen „keine Geschichte“ hat (Lolita ist „nicht entwicklungsfähig“) (ebd. 149), deutet Betty auf ein ‚Subjekt‘ und eine Passage, auch in der – im ersten Teil bereits angedeutete – in Szene gesetzten Beziehung zum Vater. Gerade weil das Bild Betty ein Einhalten, ein erschrockenes Stocken produziert, brechen allzu glatte Zuschreibungen ein. Tod, Blick, Sexualität: Das be- und verrückende Bild Betty öffnet einen fiktiven Durchgang zu den unerfindlich ‚letzten Dingen‘ – und in seiner Lektüre, unsere nicht ausgenommen, zeigt sich am Ende vielleicht, wie das Feld des Sexuellen in der Beziehung zum Kind, das im Begriff scheint, zur Frau zu werden, im Sprechen derzeit fast noch misslicher ‚einzubinden‘ scheint als das einer tödlichen Gewaltsamkeit.
[1] Während der Produktionszeit des Zyklus entstand im Rahmen einer Unterbrechung zudem das Betty-Bild von 1988 (663/5).
[2] Anders wiederum als bei der abgewandten Betty (1988), die zumindest im Psycho-Mutter-Vergleich quasi schon erledigt ist (s. Teil I).
[3] Zu Thema und Wirkung des Kindsopfers vgl. Bergmann 1992.
[4] Oder wiederum auch: „Bild, das den Tod hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will“ (Barthes 1989: 103).
[5] „[A]ls theatralische Szene […], wie sie notwendig ist für die Geste“, heißt es weiterhin (Lacan 1987: 122).
[6] Nach Blanchot unterhält der Leichnam zu der „Welt, in der er erscheint, nur noch die Beziehungen eines Bildes, dunkle Möglichkeit, allzeit hinter der lebendigen Form gegenwärtiger Schatten, und der jetzt, weit davon entfernt, sich von dieser Form zu trennen, sie ganz in Schatten umwandelt“ (2007: 29).
[7]Nach Silverman ist der Blick u.a. „the ‚unapprehensible‘ […] agency through which we are socially ratified or negated as spectacle” (Silverman 1996: 133). Sie stellt den Blick gewissermaßen erst „als vereinheitlichende oder regulative Kategorie der Erfahrung dar, und dann historisiert sie ihn […]“ (Copjec 2009: 81). Einem Blick ausgesetzt zu sein, bedeutet dann, „dass wir uns selbst durch einen ‚kulturellen Schirm‘ begreifen, der als vereinheitlichender Rahmen oder als kognitive Bedingung der Erfahrung wirkt“ (ebd.). – Der Blick wird hier eher zum Blickregime. Vgl. dazu auch Silverman 1997 bzw. die dortige A.d.Ü. (Natascha Noack und Roger M. Buergel): Hinsichtlich der Übersetzung komme mit dem ‚Regime‘ sowohl „das von Silverman so betonte historische bzw. veränderliche Moment des ‚gaze‘“ zur Geltung wie „im weiteren auch dessen strukturelle Dimension“ (ebd. 62).
[8] Zu der in der Sonne schwimmenden Sardinen-Büchse: Lacan 1987 (101f.).
[9] „Es ist […] überraschend, daß es nirgends auch nur die Spur eines guten Blicks, eines Auges, das Segen bringt, gibt“ (Lacan 1987: 122f.). Es „kann abwehrende Wirkung haben, aber jedenfalls ist es nicht heilbringend, es bringt Unheil“ (ebd.: 126).
[10] Der Maler „gibt etwas, das eine Augenweide sein soll, er lädt aber den, dem er sein Bild vorsetzt, ein, seinen Blick in diesem zu deponieren, wie man Waffen deponiert. Dies eben macht die pazifizierende, apollinische Wirkung der Malerei aus. Etwas ist nicht so sehr dem Blick, sondern dem Auge gegeben, etwas, bei dem der Blick drangegeben, niedergelegt wird“ (Lacan 1987: 107f.).
[11] Und ist umgekehrt nicht jedes Bild, wie Betty sichtbar macht, auch eine Enttäuschung genau dieses Unternehmens, welche allererst zum Begehren führt, es weiterführt?
[12] Zur verfehlten Blickbegegnung bzgl. Lacan/Sartre vgl. Copjec 2009: 82.
[13]Vgl. dazu: „Stern encouraged its readers to relate to death in the mode of a spectator by publishing this photograph [Meinhof] on 16 June 1976” (Silverman 2007: 104; diese Passage fehlt in der deutschen Übersetzung).
[14]Flesh of my flesh, bezogen auf das „what Adam says to Eve when she is presented to him for the first time by God” (Silverman 2010: 182).
[15] „An analogy is a relationship of greater or lesser similarity between two or more ontologically equal terms – a corresponding with, rather than a corresponding to” (Silverman 2010: 179).
[16]Vgl. Auch im Folgenden: „In the first of his Betty paintings, Richter finally begins the laborious process of reorienting himself affectively to the death of the Other, situating himself within the analogy of finitude, and assuming his position within German history. In this photo picture, he puts his daughter in Meinhof’s place, which allows him for the first time to register the terribleness of what happened to her. As a result, what now horrifies is not Meinhof herself, but the violence to which she was subjected. By placing his daughter’s head on a chopping block, Richter also exposes the similarities linking him to Meinhof’s executioners” (Silverman 2009: 195).
[17]Analogie sei die Basis von Richters Arbeit „ever since he painted his first photo pictures. He has used it to connect photography to painting, figuration to abstraction, art to the world, the past to the present, and what is knowable to what is unknowable“ (Silverman 2009: 13). Zur Photographie als Analogie: Silverman 2010: 182f.
[18]Vgl. „the laborious process of reorienting himself affectively to the death of the Other”, den Richter nach Silverman im ersten Betty-Bild u.a. beginnt (2009: 195, vgl. Anm. 16).
[19] Liegt in der Analogie, die die immer auch verschließende Zuspitzung des Katalogtextes umgeht, also auch ein Moment der Entschärfung bzw. bringt sie die Unschärfe neu ins Spiel?
[20] „Verbundenheit und Verwandtschaft – den Anderen als Fleisch des eigenen Fleisches zu erkennen – rücken in und die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit niemals aus dem Blick“ (mit Bezug auf Silverman: Peters 2010: 69).
[21] Eine hierin vielleicht parallele Bewegung klingt in faz-net recht direkt an: Ließe die „Lolitahaftigkeit dieses Kinderporträts“ vielleicht „an gewisse Gemälde von Balthus denken“, so wisse man aber, „dass das Bild kurz nach dem 18. Oktober 1977 entstanden ist, also im Eindruck des so genannten Deutschen Herbstes, und unter dieser Prämisse wird aus dem Liegen automatisch ein Posieren, welches die Fotos von den Toten aus Stammheim nachvollzieht, die Richter elf Jahre später malen wird“ (Peter Richter 2007).
[22] „Like so much of Silverman’s recent work, Flesh of My Flesh is about love” (Baker 2010: 177).
[23] Es geht Silverman durchaus um (Hetero-)Relationalität im Sinne einer „Anerkennung des Anderen und der Andersheit“ (Peters 2010: 69) oder auch um sexual resemblance, deren Abwehr quasi mit der ‚männlicher‘ Mortalität einhergeht (vgl. Silverman 2010: 181).
[24] Der Künstler „diminishes the age gap between the two women by changing the girlish orange of Betty’s lips and T-shirt to a bright red and sharpening her features“ (Silverman 2009: 194).
[25] Vgl. etwa in der z.T. eher verneinten Form bei Peter Richter (vgl. Anm. 21). – In einem Interview mit Roger Buergel und Ruth Noack in der Süddeutschen 2007 ist bezüglich des besagten Betty-Bildes die Rede von „Kind-Frau-Status“ bzw. davon, dass Richter „das Motiv zuerst fotografiert und dann die Vorlage sexualisiert“ habe (http://www.sueddeutsche.de/kultur/documenta-wenn-die-documenta-fertig-ist-ist-sie-tot-1.615367, zuletzt gesehen 5.4.2012).
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