Eine gewisse Gewalt des Imaginären – Über Gerhard Richters „Betty“ (1977) | Teil 1

Ein zweiteiliger Beitrag zur Tagung: Perspektiven der Verknüpfung von Kunst, Medien und Bildung 2: Das kulturelle Imaginäre | 25./ 26.11.2011 | Wissenschaftliche Sozietät Kunst, Medien, Bildung zu Gast an der Kunsthochschule Mainz | kunst-medien-bildung.de/category/tagungen/

Der zweite, von Insa Härtel verfasste Teil des Beitrages „Eine gewisse Gewalt des Imaginären. Zu Gerhard Richters Betty“ (1977) findet sich unter hier.

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Abb. 1

Die Gewalt des Imaginären ist gewiss. „Gewiss“ wird aber auch in dieser Form eines Attributes so gebraucht, um anzudeuten, dass etwas nicht ganz genau gesagt werden kann, also nicht ganz gewiss ist. Gewiss ist nur, dass da etwas von Bedeutung ist. Appelliert ist an ein Wissen, das es noch nicht gibt.  (Abb. 1)

Das Imaginäre kann nie genau gesagt werden. Auch darin liegt die Versuchung der Gewaltsamkeit des Imaginären: Herstellung einer gemeinsamen Gewissheit. Das Imaginäre ist nur indirekt zugänglich. Soll es für andere bestimmend werden, dann braucht es Geduld, d.h. eine kulturelle Feinverteilung und Umwandlung der Gewaltsamkeit. Es ist auf alle Zugewinne und Defizite von teilweise mehrfachen Übersetzungs- und Interpretationsprozessen angewiesen, bis es den Sinnen und dem Denken der anderen zugänglich und interpretierbar wird. Einbilden und Einfühlen sind projektive Ersatzmechanismen.

Das Imaginäre macht aber auch, ohne deutlich und direkt deutbar zu werden, schon dadurch etwas gewiss, zur Gewissheit, heimlich, nicht ohne Wirksamkeit, indem das individuelle Subjekt mit seinen Phantasmen der Welt gegenübertritt. Das individuelle Subjekt wird so als Moment der „Menschheit“[1] zur imaginär gestalteten Basis von Weltzugängen. Und von außen ist es geprägt und gebildet durch die einfallenden Bilder, die ihre Wirkung tun.

Schon von daher ist es für Pädagogen in der Konjunktion von Kunst und Pädagogik wichtig zu erforschen, wie solche Phantasmen zum Vorschein kommen oder gebracht werden können und über Symbolisierung in den interindividuellen Bereich, den der Gesellung, hineinragen und dort in Abstimmung über Interpretation verändert werden können. Nicht unbedingt auf ein bestimmtes oder gewisses Ziel hin. Der Prozess und die institutionellen Bedingungen der Veränderung selbst müssen bildungstheoretisch interessieren, da eine Arretierung von Phantasmen, soviel kann man empiriegesättigt behaupten, regelmäßig zu Gewalt und Leid führen. Plakativ polar gegenübergestellt: gewaltsame Anpassung der Außenwelt auf die Kapazität der je individuellen Phantasmen oder die oft nicht wenig brutale Modellierung der individuellen körperlichen und leiblichen Basen gemäß der vorgestellten Ideale.

Das Symbolische der Interpretation wäre dann der Fuß in der Tür, bevor das Imaginäre zuschlägt. Der Zuschlag droht aus dem Realen.

Beeindruckt von Gerhard Richters „Betty“.

Wir, Insa Härtel und ich, neben den ungenannten anderen. Wir arbeiten an diesem Bild im Hintergrund unserer sonstigen Tätigkeiten schon im dritten Jahr. Dass das Bild irritierend ist, kam zur Sprache, wenn ich mich recht erinnere, als wir uns über einen Antrag Insa Härtels bei der DFG mit dem Thema „Übergriff“ unterhielten. Das Bild tauchte so für uns schon in einem Feld auf, das zumindest mit Aggressivität zu tun hat, wenn nicht mit Gewalt. Kurzgefasst:

  1. Das Bild ist eine Herausforderung. Es ist ein Blick. Darauf wird Insa Härtel noch eingehen. Es geht einen etwas an.
  2. Das Bild schaltet in besonderer Weise das Imaginäre an, Ablagerungen individueller Geschichten wie sozialer Zusammenhänge. Gesucht wird nach einer Abrundung, die die Herausforderung verstehbar oder erklärbar macht. Geduld wird erfordert, wenn man dabei in der Nähe des Sichtbaren bleiben will, also in der Nähe des Übergangs zwischen äußeren und inneren Bildern, die dann auch von anderen gesehen und gehört werden können, und dem, was sie wachrufen in der je individuellen Erfahrung. Es entsteht eine Suche, hoch gegriffen könnte man auch „Begehren“ sagen. Es springt aus dem nicht unmittelbar zu erklärenden Angemachtsein und der scheinbaren Erkennbarkeit von allem, was man für eine Erklärung wissen müsste, hervor.
  3. Es tut sich etwas auf zwischen dem Sichtbaren und dem, was sonst noch aufgerufen wird, aber nur schwer vereindeutigt werden kann. Dem ging offenbar ein ähnlicher Prozess bei Gerhard Richter voraus. Oder Betty hat Gerhard Richter so angeguckt, dass er auf ein Rätsel mit einem Bild geantwortet hat. Das wissen wir nicht. Ein wenig lässt sich das vielleicht doch klären anhand eines Gesprächs zwischen Betty und Gerhard Richter.
  4. Das Bild bietet zum Einhaken des Interesses zunächst einzig den Kontrast zwischen dem bleichen Gesicht und den sehr roten Lippen. Sonst ist da semantisch wenig zu holen. Vielleicht noch die großen Augen, die in zeitlicher Reihenfolge auf den Vater, den Künstler, den Fotografen, den Maler und dann – repräsentiert – zuletzt den Betrachter gerichtet sind. Diese Augen haben eine Geschichte, bilden ein Gesicht. Die Lippen erscheinen für das Alter des Mädchens sehr rot. Man kann vermuten, dass sie entweder am Original, im Foto oder in der Malerei gefärbt sind. Stark rote Lippen zeugen von Erregung und Erregern, gefärbte Lippen imitieren Erregung. Hat Richter nun Betty animiert? Hat Betty Richter animiert? Sind die roten Lippen das einseitige Residuum einer aufregenden Beziehung? Ist der Betrachter animiert und das von einem Kind? Jedenfalls ist da etwas Unstimmiges, nicht leicht zu Bestimmendes, nicht leicht ins Symbolische so zu Überführendes, dass es stimmt. In diesem Hin- und Herspielen zwischen unklaren Voraussetzungen des Bildes und der nicht normalen Färbung kann man nach einer ersten Erklärung suchen: Betty wird vom Mädchen zur Frau. Diese Zeitspanne ist auch bei Knaben, die zu Männern werden, eine sehr verunsichernde, eine Phase notwendig neuer Bestimmungen. Notwendige, sich unausweichlich aufdrängende Veränderungen sind nicht wenig gewaltsam gegenüber den Phantasmen, den Körperbildern, der Umgebung – auch für die beteiligten Erwachsenen.
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Abb. 2

Auch wenn man die rationale Erklärung für die roten Lippen finden kann, kann man sich damit nur einen Moment beruhigen: Die mögliche Glättung heißt: Das Kind hatte Fieber. (Abb. 2)

Der Herausgeber von „Gerhard Richter: Atlas“, Helmut Friedel, schreibt über die im Atlas enthalten Tafeln mit Fotos von Betty, dass sich „unter die Abfolge der Landschaften […] überraschend wie bedrückend die persönlichen, Richter nahen Fotos [mischen],  welche die kranke Tochter Betty 1975 zeigen (Tafel 393, 394). …  Richter scheint seine Welt mit immer gleichen Augen zu betrachten, gleich ob es sich um schöne Landschaften, hässliche Industriebauten oder eben um die kranke Tochter handelt. Seine Zuwendung zu seiner an einer fiebrigen Kinderkrankheit leidende Tochter erfolgt über das Bild;  zugleich scheint es kein Tabu für ein Motiv zu geben. Alles, auch das Private, ist darstellbar;  es schießt dem Künstler durch den Kopf, nistet sich ein und wird zur Grundlage seiner Bilder.“  (G. Richter 2006: 11)

Vom Fieber kann kein Mensch beim Betrachten des Gemäldes wissen, was nicht heißt, dass man nicht darauf kommen könnte.

  1. Der Gewinn durch die empirische Klärung „Fieber“ geht sofort wieder verloren, wenn man annimmt, dass dem Vater, Fotograf, Maler das Rot bemerkenswert war. Er fotografierte die Tochter, weil oder obwohl sie Fieber hatte.
  2.    Uns als Betrachtern kam der Einfall, dass es die Pubertät ist, die hier solche Verwirrung schafft, der Übergang vom Mädchen zur Frau. Ob das Rot nun positivistisch gesehen vom Fieber stammt, ist dabei ziemlich nebensächlich. Nur max. 1% der Betrachter weiß vom Fieber und das Bild wirkt dennoch herausfordernd. Die eigenen Erinnerungen an die Zeit der Adoleszenz greifen doppelt, an die erzwungenen und auch sehnlichst gewünschten Wandlungen.

Gespräch zwischen Betty und ihrem Vater

Für heute haben wir uns „Betty“ unter vornehmlich jeweils einem Gesichtspunkt des Projekts vorgenommen: Während Insa Härtel im zweiten Teil über Fragen von Verschließung und Irritation in der Rezeption dieses Bildes schreibt, möchte ich mich hier beschränken auf einige Aspekte aus einem Gespräch zwischen Betty und ihrem Vater über dieses Bild. Uns geht es dabei darum, die Spuren der Aggressivität der Pubertät, die zum Bild, zu neuen Bildern und Phantasmen und zur Sprache drängen, ein wenig zu explizieren. Das Bild wird zum Kristallisationspunkt und zur Bühne, auf der und von der aus am individuellen Fall von Vater und Tochter Richter und an den vielen individuellen Fällen von Betrachtern etwas Einzigartiges auf dem Weg zur Verallgemeinerung über diese schwierige „Phase“ im Leben jedes Menschen ausgesagt werden könnte. Etwas, das zugleich ins Netzwerk medialer und kultureller Bildungen (des Unbewussten, das sind auch Fehlleistungen) verweist.

Babette Richter hat Ihren Vater nach diesem Bild gefragt. Das Interview ist erschienen in einem  Buch mit dem Titel „Der Andere“[2].

Im Buch finden sich Passagen über die Einschätzung von Interviews.

Nur soviel: Babette Richter vergleicht die Rolle des Fragenden auch mit dem Versuch eines ‚therapeutischen Hineinhörens‘ oder auch einem Verhör – Sinn des Fragens sei es, „etwas in Erfahrung zu bringen, in etwas einzudringen und etwas hervorzuholen“ (B. Richter 2002: 15).

Wir möchten einige Verzweigungen andeuten, die durch den Druck des Imaginären zum Sprechen, zu Aufführungen, zu Assoziationen, zu Fehlleistungen und Uneindeutigkeiten führen. Wir schlagen vor, dies als eine Fernwirkung des Fotografierens und Malens eines spannungsgeladenen Zustandes zu nutzen.

Das Interview hat strukturelle Ähnlichkeit mit der Genese des Bildes „Betty“. Weder das Interview, noch das Bild sind ohne assoziierende imaginäre Rahmen vorstellbar, das heißt auch in seinen Momenten verstehbar. Der Zuhörende wiederum versucht desgleichen „Distanz zu wahren und nicht zu tief hineinzusehen, da die wirkliche Intimität des Anderen auch unangenehm berührt, wenn sie das Hässliche entblößt und damit das Wünschenswerte zerstört“ (ebd. 22).

Die Tochter / Betty fragt Gerhard Richter / den Vater / den Künstler. Sie spricht Jahre später aus den Bildern heraus:

Interviewtext[3]:

„In welchem Zusammenhang sind dann später[4] die beiden Betty-Portraits entstanden, das Liegende und das Abgewandte, im Grunde sind es ja drei, mit dem Verschwommenen, Unscharfen?

Die drei Motive sind nicht am gleichen Tag gemacht, aber es ist eine ähnliche Zeit. Wobei das Verschwommene auch ein Liegendes auf dem Tisch war, was ich dann hochgestellt habe und unscharf gemacht habe, da die Gesichtszüge nicht mehr stimmten.

Da war ich vielleicht zwischen 10 und 13. Wann hast du sie dann gemalt? Wann ist das Liegende entstanden?

Den auf dem Tisch liegenden Kopf habe ich gemalt, als ich nur abstrakte Bilder malte. Es gibt ein Foto, wo das Bild in der Brückenstraße im Atelier auf der Staffelei steht. Der ganze Raum ist voller abstrakter Bilder mit dieser einen Ausnahme. Das ist wie ein Luxus gewesen oder wie ein Ausgleich, ein Gegengewicht.

Und das andere ist ja auch in einem konträren Zusammenhang gemalt worden.

Ja, das war zu der Zeit der Baader-Meinhof-Serie, oder auch kurz danach, ich weiß es nicht mehr genau, wann ich es gemalt habe, das war schon mal ungeklärt geblieben. Das ist auf jeden Fall eine schöne Geschichte, dass es als Ausgleich zu den Terroristen-Bildern gemalt wurde.

Der zerbrechliche und aggressive Charakter der Bilder scheint mir aber ebenso offensichtlich. Das liegende Portrait von mir .. diese Leichenblässe … dieses Abgeschnittene … und diese Verletztheit. Aber auch das Abgewandte hat eine rätselhafte, seltsame Wendung … Gesichtslosigkeit … dieses unheimliche Nichts, in was ich schaue.

Ja, das mit dem abgewandten Kopf hat mich damals auch an Hitchcock erinnert. Das ist sicher nicht kunstgeschichtlich interessant, eher psychoanalytisch, dass ich auf den Vergleich mit dem Hitchcock-Effekt gekommen bin und dann aber froh war, dass das niemandem sonst auffiel.

Das abgewandte, weggedrehte Gesicht hat ja etwas mit Abschied, auch mit Tod zu tun. Das Nicht-Zeigen spielt dabei mit der Ungewissheit und dem Unbekannten. Der Film benutzt einen ähnlichen Effekt des Unheimlichen.

Ja sicher, aber im Film dreht Perkins doch den Stuhl mit der Mutter so, dass man sie von vorne sieht als zerfressene Leiche, als der Schrecken an sich und als des Rätsels Lösung. Ich glaube nicht, dass das Betty-Bild irgendetwas mit dieser Thematik zu tun hat.“

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In diesem Gesprächsausschnitt geht es um drei Bilder, auf denen Babette Richter zu sehen ist. (Abb. 1; Abb. 3; Abb. 4) Andere werden angespielt.

Zunächst spricht Babette von zwei Bildern, dem „Liegenden“ und dem „Abgewandten“. Dann sagt sie, es seien ja eigentlich drei[5] mit dem „Verschwommenen, Unscharfen“.

ad2c5fbefcGerhard Richter bejaht das und fügt hinzu, dass nicht alle am gleichen Tag „gemacht“ worden seien. Unklar bleibt, ob es sich dabei um die Photos, die Malereien oder beide handelt. Es sei eine „ähnliche Zeit“ gewesen. Ein Zeitbezug lässt sich zunächst nur aus der vorangegangenen Gesprächspassage herauslesen. Es war eine Zeit, in der er als Maler unmodern war, wie er sagt, und er das Bild „Ema, Akt auf der Treppe (1966)“ (Abb. 5), Bettys Mutter, sich „kaum getraut habe, jemandem zu zeigen, so unmodern war es“ (ebd. 47). Nimmt man es genau, ist hier die Rede von einem Zeitraum von 22 Jahren: 1966 entstand der Akt und 1988 Betty als sich Abwendende.

Im Imaginären geht es um andere Zeitqualitäten, es zerstört oder zumindest stört den mühsam aufgebauten linearen Ablauf. Es bleibt offen, worin Richter die Ähnlichkeit sieht. Hört man, dass es sich um eine „ähnliche Zeit“ gehandelt habe, ist man geneigt anzunehmen, dass es sich um einen begrenzten Zeitraum von zwei oder drei Jahren vielleicht handelt. Das ist aber hier offenbar nicht der Fall. Man könnte auch in einem zweiten Anlauf meinen, es handele sich um jeweils ähnliche Zeiten. Dazu wäre aber ein Plural erfordert gewesen.

Babette fragt den Vater präzisierend, ihm entgegenkommend, wann er die Bilder denn gemalt habe. Dann greift sie eines der drei Bilder heraus, „das Liegende“.

Er antwortet darauf nicht mit einer Jahreszahl, sondern mit einem Kontext in seinem Werk: „Den auf dem Tisch liegenden Kopf habe ich gemalt, als ich nur abstrakte Bilder malte.“ Er erinnert sich ferner an ein Foto, das im Atelier in der Brückenstraße aufgenommen wurde. Dies als Zeitaussage genommen, heißt nur, dass er das Bild „Liegende“ und zwar das nachher gedrehte und unscharf gemachte, 1977 gemalt hat. Und er betont, dass es ein Luxus gewesen sei, ein Ausgleich gegenüber einer anderen Arbeit, gegenüber der Arbeit an den abstrakten Bildern. Anders gesagt: Das Fotografieren der Tochter, das Malen der Tochter, das figurative Malen war ein Luxus und Ausgleich, hatte etwas von einer anderen Spannung oder einer Entspannung. So könnte man vermuten. Hat das auch mit dem Alter oder eher mit dem Fieber der Tochter zu tun?

Aber es war wohl keine ganz leichte Aufgabe, denn die Gesichtszüge stimmten dann nicht, zwischen dem Blick auf das Foto und dem Malen war das werdende Bild durch irgendetwas unstimmig geworden, so dass er von der weiteren Präzisierung abließ und es unscharf machte.
Abb.5

Das andere Bild, das Abgewandte, ist tatsächlich in einem anderen Zusammenhang elf Jahre später gemalt worden. Aber auch hier spricht Richter von Ausgleich. Hier aber nicht ein Ausgleich zu den Anstrengungen oder Zumutungen des Abstrakten, sondern zu den „Terroristen-Bildern“. Würde man dies als mathematische Verhältnisgleichung schreiben, dann ist gesprächsweise nebenbei die Abstraktion mit dem Terrorismus verglichen worden. Gerhard Richter nennt das eine schöne Geschichte. Das erzeugt beim Lesen den Eindruck, als sei das ein von anderen erfundener Zusammenhang.

Was lässt also manche Betrachter intensiv einen Zusammenhang zum Terrorismus, zu Richters Zyklus zu den in Stammheim zu Tode Gekommenen herstellen? Irgendetwas legt den Sprung zu Gewalt, Aggression, zu Tod, zu Bedrohung nahe, so dass die Assoziation fast zwingend springt.

Unter der Hand hat sich die Anzahl der besprochenen Bilder wieder auf zwei reduziert. Babette Richter spricht von dem Liegenden und dem Abgewandten, das Verschwommene ist nun ganz verschwommen. Sie spricht diesen Bildern einen zerbrechlichen und aggressiven Charakter zu. Denn sie sagt im Gegensatz dazu („aber“) auch das Abgewandte habe „eine rätselhafte seltsame Wendung“, so als habe sie dies schon von dem „Liegenden“ gesagt. Im folgenden Satz gehen die beiden Bilder ineinander über: Die Rätselhaftigkeit wird mit Gesichtslosigkeit („Abgewandte“) und „… dieses unheimliche Nichts, in was ich schaue“ (Liegende“) charakterisiert. Die Rätselhaftigkeit kann also weder durch die direkte Sicht auf das Gesicht noch durch die Abwendung des Gesichts reduziert werden. Beide Bilder haben in sich eine seltsame Wendung.

Gerhard Richter nimmt nicht das Ins-Nichts-Schauen auf, obwohl er bestätigend mit „Ja“ anschließt, sondern spricht über das nicht sichtbare Gesicht im einen oder anderen Bild. Hier findet sich wieder eine Art Kreuzung der Bilder. Er behauptet wenig einleuchtend, dass das kunstgeschichtlich sicher nicht interessant sei, eher psychoanalytisch.

Was durfte da nicht auffallen? Was wäre schlimm, wenn jemand bemerkt hätte, dass Gerhard Richter an Alfred Hitchcock gedacht hat?

Seine Tochter versucht mit ihrem dann folgenden Einwurf einen Zusammenhang herzustellen, der sich versuchweise so umschreiben ließe: Man weiß, dass es um Abschied und auch um Tod geht. Zumal ja das Abgewandte zur Zeit der „Baader-Meinhoff-Serie“ gemalt wurde. In dieser werden Köpfe und zumindest Halbprofile gezeigt. Dennoch bleibt durch den bloßen Anblick der Bilder unklar, was hier geschehen ist, was zur tödlichen Gewalt geführt haben mag, was die Gemalten bewegt haben mag.

Babette Richter vermutet vielleicht, dass das Motiv des Todes, auch des möglichen und zukünftig gewissen Todes der Tochter, Richter beim Malen bewegt haben mag. Das wäre etwas, das man nicht sehen will, das deshalb sich als unheimlich bezeichnen lässt. Das, so kann man erweitern, habe auch die Wendung vom einen zum anderen Portraitbild bewirkt: Die Liegende, die auch ins Nichts sieht, abgeschnitten und mit Leichenblässe, wird im zweiten Bild modifiziert viel beruhigender und gefälliger auch durch die Frisur und die brokatgemusterte Jacke, ebenso durch die Farbigkeit, die dezenter ist als im ersten Portrait und sich in der Tat abhebt vom Grellen der Liegenden, vom zu einer Antwort fast nötigenden Blick.

Es kann ja sein, dass Richter sich beim Fotografieren und Malen der Abgewandten vom Gesicht der Tochter abgewandt hat. Nachdem er schon einmal an den Gesichtszügen gescheitert war.

Im Gespräch fällt Richter Hitchcocks Film „Psycho“ ein, bei dem abgewandten Gesicht – und diese Wendung zeigt: so beruhigend ist auch dieses Bild nicht.

Die Tochter überhört diese Assoziation zunächst und nimmt nur das Wegdrehen auf. Richter muss aber wohl die genau umgekehrte Bewegung gemeint haben, wenn er auf den Film anspielt, nämlich das Hindrehen, bzw. das aktive Umdrehen der Mutter, die mumifiziert auf dem Stuhl sitzt. Zerfressen ist sie eigentlich nicht, eher verdorrt, jedenfalls tot.

Richter drängt sich die Vorstellung auf, dass sich die Abgewandte umdrehen könnte, umgedreht werden könnte. Diesen Moment verbindet er mit dem Schrecken über die tote Mutter. Der Zuschauer des Filmes kann zu dieser Zeit nur ahnen, was zum Tod der Mutter geführt hat.

Richter assoziiert am Platz der Tochter Normans Mutter aus Psycho. Normans Mutter war nach dessen Auskunft, harmlos, zuweilen herrschsüchtig. Jedenfalls steht sie, so legt Hitchcock nahe, im Zusammenhang mit der Schizophrenie des Sohnes, seiner unbändigen Wut, die sich in der Doppelbewegung der Identifikation mit der Mutter – er nutzt deren Kleider – und deren Ermordung zeigt. Als Ermordete konserviert er sie. Der Versuch einer Stillstellung und vielleicht auch Wiedergutmachung.

Bei Hitchcock geht es um den Zusammenhang von Leiden (Schizophrenie) und Verbrechen (Mord).

Ist es das, was Richter einfällt? Ebenso auf einmal seiner Tochter auch?

Im Film geht die Aggression vom Sohn gegen die Mutter. Thematisiert Richter eine Aggression der Tochter gegen den Vater? Und zugleich, im selben Zug, eine Aggression des Vaters / Malers gegen die Tochter / das Modell. Und zugleich der eigenen Mutter am Platz der Tochter gegen den Sohn, der als Maler ein Vater ist? Eine komplizierte Verschränkung wäre das. Darüber kann man nur mit den Plätzen spielend etwas sagen. Wissen kann man es nicht.

Bemerken kann man lediglich, dass der Herausforderung an die Betrachter eine Verwirrung im Gespräch zwischen Tochter und Vater entspricht. Es wird deutlich, dass bei dem Bild tatsächlich Gewalt, Leiden, Verbrechen thematisiert sind, auch ohne dass man einen vereindeutigenden Bezug zu Gerhard Richters RAF-Zyklus herstellt. Dabei ist diese Bezeichnung schon eine Vereinfachung. Der Titel, den Richter der Serie gab ist „18. Oktober 1977“. Er nennt einen Tag, einen einzigen Tag, den die Bilder zu fassen versuchen, bzw. mit dem Titel versucht Richter das Geschehen, das für die Bilder den Anlass gab, zu fassen.

Im Gespräch stellt Gerhard Richter kurz entschlossen den Zusammenhang zum Kriminalfilm her. Diesen, den er selber in die Welt gesetzt hat, versucht er wieder zu negieren. Das wirkt aber gegenteilig.

Die vielfältigen Aggressivitäten und Aggressionen, die Gewalt, die Richter thematisiert, werden über Bilder und Gespräche und unser Schreiben dazu umgewandelt und in verantwortbare Bezüge gestellt. Diese kommen noch nicht zum Erliegen, es bleibt wahrscheinlich niemand auf der Strecke. Babette z.B. kann den Vater um Antworten angehen.

Fußnoten

[1] im Verständnis von Kant und Humboldt etwa, wo es die Eigenheit, ein Mensch zu sein, meint.

[2] Richter, Babette: Der Andere. Interviews – Versuch einer Annäherung, Köln: Richter Verlag, 2. Aufl. 2005,

[3] Ausschnitt aus: Richter, Babette: Der Andere. Interviews – Versuch einer Annäherung, Köln: Richter Verlag, 2. Aufl. 2005, S. 47 – 49.

[4] Davor wurde über das Bild „Ema, Akt auf der Treppe (1966)“ gesprochen, dessen Ausgangspunkt die Photographie der Mutter von Babette Richter war.

[5] Zu klären ist, in wessen Besitz die beiden anderen Bilder sind.

Literatur

Richter, Babette (2005): Glauben. Gespräch mit Gerhard Richter. In: Ders. (Hg.) Der Andere.Interviews – Versuch einer Annäherung, Köln: Richter Verlag, 2. Aufl..

Richter, Gerhard (2006): Atlas, hg. von Friedel, Helmut, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König.

Abbildungen:

Abb. 1: Gerhard Richter: Betty (1977), Öl auf Leinwand, 30 cm x 40 cm. www.gerhard-richter.com/art/paintings/photo_paintings/detail.php.

Abb. 2: Gerhard Richter: Betty Richter (1978), Fotographien auf Papier, 36,7 cm x 51,7 cm. (Atlas Blatt: 394). In: Friedel, Helmut (Hg.): Gerhard Richter: Atlas. http://www.gerhard-richter.com/art/search/detail.php?11974

Abb. 3: Gerhard Richter: Betty (1977), Öl auf Leinwand, 50 cm x 40 cm. http://www.gerhard-richter.com/art/search/detail.php?6190

Abb. 4: Gerhard Richter: Betty (1988), Öl auf Leinwand, 102 cm x 72 cm. http://www.gerhard-richter.com/art/search/detail.php?7668

Abb. 5: Gerhard Richter: Ema (Akt auf einer Treppe) (1966), Öl auf Leinwand, 200 cm x 130 cm. http://www.gerhard-richter.com/art/paintings/photo_paintings/detail.php?5778

Von Karl-Josef Pazzini

Veröffentlicht am 19. Juli 2012

Zitiervorschlag

Pazzini, Karl-Josef: Eine gewisse Gewalt des Imaginären – Über Gerhard Richters „Betty“ (1977) | Teil 1, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2012. Quelle: https://zkmb.de/eine-gewisse-gewalt-des-imaginaeren-ueber-gerhard-richters-betty-1977-teil-1/; Letzter Zugriff: 20.05.2024

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