Erfahrungen wi(e)der Erwarten. Kommentar zum Beitrag von Joana Faria

Dieser Kommentar verfolgt die These, dass sich Joana Farias Text als Beitrag zum Diskurs um Behinderung und Inklusion lesen lässt. Dies möchte ich in Bezug auf Jan Weissers Diskursanalyse des (Sonder-)Schulwesens im deutschsprachigen Raum von 1950 bis 2000 und seinen Forderungen nach einer weitergehenden Praxis deutlich machen.

Weisser zeigt in Das Besondere der Erziehung (2007a) die Entwicklung des Sonder-Schulwesens und der theoretischen Konzeption von Behinderung auf. Das (Sonder-)Schulwesen habe sich in den 1950er- und 1960er-Jahren um eine Passung von Schüler*innen und Schulform bemüht. Es habe eine essentialistische Auffassung von Behinderung vorgeherrscht, welche die Behinderung als eine Schädigung von Individuen denke, diese Schädigungen kategorisiere und demgemäße Schulformen entwickelt habe (vgl. Weisser 2007a: 4ff.). Ab Mitte der 1960er-Jahre, im Zuge eines Auftretens einer neuen Fachgeneration (sowohl in der schulischen Praxis als auch in der Theoriebildung) sei die Sonderpädagogik von der „Rassenhygiene“ gesäubert worden, statt von „Kranken“ und „Geschädigten“ zu sprechen, wurde der Begriff der „behinderten“ Menschen etabliert. Auch seien erstmals diskursmächtig sozioökonomische und soziokulturelle Benachteiligungen von behinderten Menschen in den Blick gerückt worden. Verortet wurde die Behinderung jedoch weiterhin im Individuum (vgl. ebd: 10ff.). Anfang der 1970er sei der „[…] Meinung, dass Schularten bestimmten Menschenarten entsprechen“ (Möckel 1972: 156 zitiert nach Weisser 2007a: 10), eine erste Absage erteilt worden. Der Fokus habe sich von verschiedenen Schulformen auf verschiedene Fördermaßnahmen verschoben. Dies wird als „halbe Kehre“ (ebd.:11) beschrieben, da zwar eine Absage an die genannte Entsprechungslogik erteilt, diese jedoch nicht konsequent umgesetzt worden sei. Das Feld der Sonderpädagogik sei wieder näher an jenes der Pädagogik herangerückt, es bleibe aber bei einer Lücke. Diese Entwicklung sei mit der Formel „So viel Gemeinsamkeit mit Nichtbehinderten wie möglich und so viel behinderungsspezifische Hilfe wie notwendig!“ (Speck 1977: 422 zitiert nach Weisser 2007a: 11) auf den Punkt gebracht, habe gleichzeitig jedoch viel Kritik erfahren, da es sich um eine „Leerformel“ (Bleidieck 1985: 354 zitiert nach Weisser 2007a: 12) handele. Weiter wird ausgeführt, dass eben der Status als Leerformel wichtig sei, um sich von der angehäuften Diskurslast zu entledigen und somit erstmals nicht festlegen zu müssen, welchen Umfang und welchen Inhalt das Besondere in der Pädagogik habe. Dies habe einen Freiraum geschaffen (vgl. ebd.). Diesen Freiraum gelte es, immer wieder zu füllen, was jedoch nicht zu einem Abschließen des Raums führen könne und solle, sondern innerhalb dieses Raums gelte es, die jeweiligen Füllungsversuche stets aufs Neue zu untersuchen, da der Raum bestehen bleibe. Insbesondere sei an dieser Stelle auf den politischen Horizont der Versuche einer Füllung und ihrer Untersuchung verwiesen (vgl. ebd.). Versuche, diesen Freiraum um Umfang und Inhalt des Besonderen zu füllen, gab und gibt es reichlich, exemplarisch sollen an dieser Stelle zwei dargestellt werden, wobei diese als Extrempositionen gelesen werden können.

Einerseits wurde und wird weiterhin versucht, mit einem Begriff von Behinderung zu arbeiten, welcher sich aus dem internationalen Klassifikationssystem zu Krankheit und verwandten Gesundheitsproblemen (ICD-10) und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (DSM-5) stützt. Behinderung bleibt in diesem Fall eine Störung und Funktionseinschränkung im Individuum (vgl. Sturm 2013). Die Verortung einer Störung hat selbstredend Einfluss auf den Umgang mit entstehenden Schwierigkeiten und den beteiligten Personen. Die Position der Pädagog*innen verbleibt in diesem Ansatz eine, welche sich als zu Hilfe und Fürsorge verpflichtet, bezogen auf die Behinderung, versteht.

Weisser schlägt in Für eine anti-essentialistische Theorie der Behinderung eine Konzeption des Begriffs vor, welche sich auf drei Komponenten stützt.

„Erstens wird Behinderung als historischer Konflikt zwischen Fähigkeiten und Erwartung verstanden. Zweitens wird dieser Konflikt nicht als Konflikt des Individuums mit der Gesellschaft, sondern als Problem der Zugehörigkeit begriffen. Drittens wird das Problem der Zugehörigkeit nicht statisch, sondern prozessual konzipiert als politischer Prozess und Erfahrung.“ (Weisser 2007b: 237)

Die zweite und dritte Komponente dieser Definition macht Weissers Forderung nach einem politischen Horizont in der Untersuchung von Behinderung deutlich.

Für die Argumentation dieses Textes ist jedoch die erste Komponente gesondert zu betonen. Behinderung wird entgegen einer längeren Tradition nicht im Individuum oder gar in der „Schädigung“ verortet, sondern zeigt sich als Konflikt zwischen Erwartungen und Fähigkeiten. Dementsprechend kann man, Weisser folgend, nicht von „behinderten“ Menschen sprechen, sondern von Menschen mit Behinderungserfahrungen, Menschen in Situationen der Behinderung oder Ähnliches. Bemerkenswert an dieser Konzeption des Begriffs ist, dass das Entstehen der Behinderung anders verortet wird, nämlich (auch) in einem sozialen Prozess.

Genau an dieser Stelle kann Farias Lehren mit Risiken und Nachwirkungen einen theoretischen Beitrag leisten. Es werden verschiedene Schwierigkeiten von Bildungsprozessen in der Schule thematisiert, dies nicht in einer Art und Weise, welche Lösungen ermöglicht, sondern diese Schwierigkeiten als konstitutiv beschreibt. Es sei ein unmögliches Unterfangen.

Faria beschreibt in ihrem Text drei Momente, welche einen Einfluss auf das Verhältnis von Erwartungen und Fähigkeit in schulischen Situationen und damit auf die Herstellung von Behinderungsmöglichkeiten (und deren Verhinderung) haben können: Zum ersten die Feststellung, dass das Be-deuten von Signifikanten eine Leistung des Individuums ist, welche zwar auf einer gemeinsamen Arbeit fußen kann, jedoch zeitlich nicht zu begrenzen ist und einer temporal rückwärts gerichteten (Re-)Konstruktion bedarf; zweitens die Feststellung, dass ein Festhalten an scheinbar objektiven Kriterien stets nur einen Notbehelf darstellen kann; und drittens, dass, wer man gewesen sein wird, sich immer nur im Nachhinein herausstellen kann. Diese drei Momente haben gemeinsam, dass sie großen Einfluss auf die Erwartungen an Schüler*innen und Lehr- und Lernsituationen haben, beziehungsweise diese strukturieren können. Zum einen ermöglichen diese Thesen, Unterricht und die Erwartungen an diesen stärker an Bildung als an Wissens- oder Kompetenzaneignung anzulehnen, da die temporale Strukturierung nicht überindividuell oder gar kollektiv festgelegt werden kann, und es erlaubt, scheinbar objektive Kriterien in den Hintergrund treten zu lassen, beziehungsweise diese als das zu behandeln, was sie sind: ein Notbehelf. Es wird also eine Unterscheidung zwischen „Erlebnis“ und „Ergebnis“ eingeführt, welche eine objektivistische Betrachtung des Unterrichts und der entstehenden Situationen unmöglich macht (vgl. Jaeggi 1997). Des Weiteren wird, den drei ausgewählten Momenten Farias folgend, eine Reflexionsfolie geboten, welche es ermöglicht, Konflikte zwischen Erwartungen und Fähigkeiten (also Behinderungen) anders zu betrachten und zu bedeuten. Diese Möglichkeiten können sich sowohl im Einzelfall als auch strukturell auswirken.

Die genauere Beantwortung der Fragen des politischen Horizonts und eines konkreten Einbezugs in den Diskurs um (Sonder-)Schulen und den Behinderungsbegriff können hier nur genannt werden, müssen aber aufgrund der gegebenen Kürze des Beitrags weiterführend an anderer Stelle diskutiert werden.

Literatur

Jaeggi, Eva (1997): Zu heilen die zerstoßnen Herzen: die Hauptrichtungen der Psychotherapie und ihre Menschenbilder. Hamburg: Rowohlt.

Sturm, Tanja (2013): Lehrbuch Heterogenität in der Schule. München: Reinhardt.

Weisser, Jan (2007a): Das Besondere der Erziehung. Theoriepolitik in der Sonderpädagogik 1950-2000. In: Landesverband Hessen e. V. (Hrsg.): Behindertenpädagogik: Vierteljahresschrift für Behindertenpädagogik in Praxis, Forschung und Lehre und Integration Behinderter. 46. Jg., Heft 1/4. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Weisser, Jan (2007b): Für eine anti-essentialistische Theorie der Behinderung. In: Landesverband Hessen e. V. (Hrsg.): Behindertenpädagogik: Vierteljahresschrift für Behindertenpädagogik in Praxis, Forschung und Lehre und Integration Behinderter. 46. Jg., Heft 3/4. Gießen: Psychosozial-Verlag.

 

 

Janes Heuer ist nach Abgabe des Beitrages und vor Erscheinen des Buches tödlich verunglückt.

Er hat durch seine Fragen in Seminaren und schriftlich zwischen Sitzungen die, an die er sich richtete, in Gang gebracht, erst zu dem bringen können, mehr oder weniger gut, was er ihnen unterstellte zu sein. Er trat für das ein, was er auch hier schreibt:

[…], dass ein Festhalten an scheinbar objektiven Kriterien stets nur einen Notbehelf darstellen kann; und drittens, dass, wer man gewesen sein wird, sich immer nur im Nachhinein herausstellen kann.

Er hat keine Chance gehabt, sich mit einem Namen in die Geschichte einer Disziplin einzuschreiben. Dennoch wird er mit seinem Beitrag weiterleben, indem er vielen in seiner Präsenz in der Universität etwas von seiner Lebendigkeit mitgeteilt hat.

Karl-Josef Pazzini

Von Janes Heuer

Veröffentlicht am 25. November 2017

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Zitiervorschlag

Heuer, Janes: Erfahrungen wi(e)der Erwarten. Kommentar zum Beitrag von Joana Faria, in: Torsten Meyer, Andrea Sabisch, Ole Wollberg, Manuel Zahn (Hg.): Übertrag. Kunst und Pädagogik im Anschluss an Karl-Josef Pazzini, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2017. Quelle: https://zkmb.de/erfahrungen-wieder-erwarten-kommentar-zum-beitrag-von-joana-faria/; Letzter Zugriff: 04.12.2024

Review-Verfahren

Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.