Szene eins:
Eine Frau geht auf die Straße. Sie verlässt das Haus. Sie bringt Kinder zur Schule. Sie geht zu ihrem Arbeitsplatz. Das ist ihr Alltag.
Szene zwei:
Eine Frau geht auf die Straße. Es ist Abend. Sie wird belästigt. Sie muss sich zur Wehr setzen. Der öffentliche Rat, der ihr unaufgefordert erteilt wird, lautet, sie solle doch die Straßenseite wechseln, wenn sie betrunkene Männer auf sich zukommen sieht.
Szene drei:
Eine Frau geht auf die Straße. Die Straße ist ihr Arbeitsort. Hier findet sie ihre Kunden.
Szene vier:
Eine Frau geht auf die Straße. Sie verlässt das Haus. Sie ist auf dem Weg zu einem Protestmarsch. Sie kämpft für die Rechte von Frauen.
In jeder dieser vier Szenen erfahren wir, dass eine Frau auf die Straße gegangen ist. In jeder dieser vier Szenen bedeutet dies etwas anderes.
Sich in Bewegung setzen. Das Haus verlassen. Aufbrechen. Weitergehen. Je nachdem, wie ein Text, in dem diese Sätze vorkommen, fortgesetzt wird, können diese Sätze höchst Unterschiedliches berichten. Diese Mehrdeutigkeit des Auf-die-Straße-Gehens, diesen engen Zusammenhang zwischen der Dimension des Alltäglichen und der Dimension des Politischen – es könnte ja dieselbe Frau sein, die zur Arbeit geht und die zur Versammlung geht – betrachte ich als Einladung, mehr noch als Aufforderung, die Aufmerksamkeit auf das Wissen und das Gehen zu lenken. Lässt sich von einem Wissen des Gehens sprechen? Wie lässt sich das Wissen des Gehens in Schritte der Forschung übersetzen? Welchen Auftrag für die Forschung erteilt uns der Akt des Auf-die-Straße-Gehens, der die Verhältnisse zwischen dem Alltag und der Politik auf der Ebene der Sprache in ein so enges sprachliches Verhältnis rückt? Wie könnte sich das Gehen mit dem Wissen über die Stadt verbinden? Was würden wir erfahren, was würden wir lernen, was würden wir wissen, wenn wir dem Gehen zuhören könnten, wenn wir die Schritte in Worte verwandeln könnten, um uns in die Geschichte der Körper, die sich in einer Stadt bewegen, die eine Stadt bewegen, hineinzuversetzen? Wenn wir, wie ich es hier betreibe, die Anleitung des Wörtlich-Nehmens der in den Worten gespeicherten Mehrdeutigkeit als Auftrag für die Forschung, im Speziellen als Auftrag für feministische Stadtforschung ernst nehmen, dann führt uns das Gehen zu den Ereignissen zwischen Alltag und Politik, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Eine weitere sprachliche Wendung, die in diesem Zusammenhang von Interesse ist, ist der Gang der Geschichte. Wieder geht es mir um die epistemische Dimension des Wörtlichen dieser Wendung. Wessen Schritte zählen? Wessen Schritte werden zur Kenntnis genommen, registriert, aufgezeichnet, berichtet? An wessen Schritte erinnern wir uns? Wer wurde daran gehindert, Schritte zu setzen? Wer setzt die Schritte, die dann zählen, wenn der Gang der Geschichte erzählt wird? Wer setzt die Schritte, die dann zählen, wenn sich etwas daran verändern soll, wie der Gang der Geschichte erzählt wird? Wer setzt die Schritte, die den Gang der Geschichte verändern werden?
So lauteten Fragen, die mir durch den Kopf gingen, als ich mich Anfang der 2000er-Jahre durch die Stadt, in der ich lebe, bewegte. An der Oberfläche erzählte mir Wien kaum etwas über Frauen, die sich vor mir durch die Stadt bewegt hatten. Wie es ihnen ergangen war, darüber herrschte in der öffentlichen Erinnerungskultur der Straßen, der Plätze, der Fassaden, der Monumente Schweigen. Wahrscheinlich fiel es in der Stadt nicht einmal besonders ins Auge, dass die Frauen, die in ihr gewohnt, gelebt, gearbeitet, geforscht, gefeiert, protestiert oder Politik gemacht haben, nicht präsent waren. So war es in europäischen Städten. Der öffentliche Raum sprach die Anerkennung durch Benennung in Form von Männernamen aus, die zu Straßennamen geworden sind. Wenn ich durch diese Männerstraßen ging, wenn ich mich durch diese an die von Männern bestimmten Ereignisse erinnernden Straßen bewegte, die den Gang der Geschichte aufzuzeigen schienen, dann war ich von gemischten Gefühlen erfüllt. Trauer, Ärger, Neugierde. Ich war traurig, weil es so selbstverständlich schien, dass die Straßen der Stadt von den Namen von Männern erfüllt sind. Ich war ärgerlich, weil es so selbstverständlich schien, dass die Straßen der Stadt von den Namen von Männern erfüllt sind. Ich war neugierig, wie es wäre, wenn es anders wäre. Wie würde es sich anfühlen, durch eine Stadt zu gehen, in der ich an vielen Orten, an denen ich vorübergehe, wüsste, welche Frauen hier den Gang der Geschichte bestimmt haben. Ich wollte ihren Schritten nachgehen. Ich wollte Schritte setzen, um ihre Schritte mit der Gegenwart zu verbinden. Ich wollte der Geschichte der Stadt anders nachgehen können. Wörtlich. Mehrdeutig.
Unsere Wege verbinden uns mit der Stadt, in der wir leben. Wir orientieren uns entlang dieser Wege. Die feministische Philosophin Sara Ahmed hat in ihrem Buch Queer Phenomenology (2006) in wunderbar erhellender Weise über Orientierungen geschrieben. Als ich 2004 anfing, an dem Projekt Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien zu arbeiten, war ihr Buch noch nicht erschienen. Orientierungen beschäftigten mich damals sehr. Was hatte es mit der offensichtlichen Abwesenheit von Frauen in den Plänen der Stadt, die uns orientieren, auf sich? Warum waren sie vergessen worden, als die Straßennamen vergeben wurden? Warum war es niemandem aufgefallen? Ahmed denkt darüber nach, wie Orientierungen uns etwas nahelegen, wie sie uns etwas als erreichbar erscheinen lassen. Die Namen der Straßen lassen die Frauen in der Geschichte der Stadt als unerreichbar erscheinen. Das ist die freundliche Interpretation. Die Namen der Straßen legen nahe, dass es Frauen in der Geschichte der Stadt nicht gegeben hat. Das ist die realistische bis pessimistische Einschätzung der Orientierung, die durch die Stadtpläne, in denen die Namen von Straßen, Gassen, Plätzen eingezeichnet sind, nahegelegt wird.
Stadtpläne gelten als nützlich. Sie machen es möglich, dass wir von hier nach dort gelangen, ohne uns zu verirren. Die Pläne der Umgebung haben wir in unserem Körper gespeichert. Es gibt Wege, die können wir im Schlaf gehen. Es gibt Wege, deren Abfolge von Straßen wir auswendig aufsagen können. Das sind die Orientierungen, die die Pläne der Stadt uns mit auf den Weg geben. Diese Orientierungen sind Teil jenes Systems, das Patriarchat genannt wird. Das Patriarchat ist eine Ideologie, die Räume, Körper und Geschichtsmächtigkeit so zueinander orientiert, dass das politische, soziale, ökonomische und kulturelle System von Männern dominiert wird. So betrachtet, sagt der Stadtplan die Wahrheit. Wenn wir uns vorstellen, dass jemand einen kleinen gefalteten Stadtplan von Wien aus der Tasche zieht und sagt, dass dieser Plan einen Ausdruck des Patriarchats darstellt, dann würde diese Person wahrscheinlich bei vielen auf Unverständnis stoßen. Aber der Plan lügt nicht. Der Plan ist ein Ausdruck der Machtverhältnisse, die die Stadt orientiert haben, die den Gang der Geschichte bestimmt haben, die darüber entschieden haben, wessen Schritte zählen und wessen Schritte nicht zählen, wessen Schritten nachgegangen wird und wessen Schritten keine Bedeutung beigemessen wird.
Wie lässt sich feministisch Stadtforschung kuratieren? Es ging mir in diesem Projekt nicht um das Kuratieren von feministischer Stadtforschung, wiewohl dies einen noch weitgehend unaufgearbeiteten und daher wesentlich zu leistenden Beitrag für die Geschichte und Theorie der Stadtforschung darstellt, sondern um das feministische Kuratieren von Stadtforschung. Vom Gehen ausgehend wurden die Zugänge entwickelt. Das Gehen sollte das Material erzeugen für eine Ausstellung. Mit welcher Institution, mit welchen historischen Materialien diese Ausstellung arbeiten würde, das stand zu Beginn des Projekts nicht fest, das sollte im Prozess entwickelt werden.
Das Gehen hat in der Stadtforschung, aber auch in anderen Forschungsdisziplinen, wie beispielsweise der Soziologie und der Anthropologie, seine methodischen Spuren hinterlassen (vgl. Lindner 2004): Gehen ist Teil der Methodengeschichte dieser Disziplinen. Als eine der Schlüsselszenen des forschenden Gehens wird in der Literatur Friedrich Engels und seine Untersuchung von Manchester angeführt: „And the method he used to achieve that encompassing vision was to go for a walk around Manchester with his eyes peeled“ (Donald 1999: 35). Engels untersuchte empirisch die Verräumlichung der sozialen Verhältnisse unter den Bedingungen der industrialisierten Stadt. Sein Verdienst liegt darin, dass er die Verteilungen von Stadtraum und im Stadtraum mit den herrschenden Produktionsbedingungen, dem entstehenden System von Fabriken und den Lebensverhältnissen der arbeitenden Klasse zusammenbrachte. Durch Beobachtung. Zusammengefasst hat Engels seine auf „sozialem und semiotischem Mapping“ (Donald 1999: 35) beruhende Analyse in Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Diese Untersuchung wurde im Jahr 1845 erstmals auf Deutsch publiziert, 1887 folgte dann die Veröffentlichung auf Englisch. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass Engels auf Hilfe für seine Forschungstätigkeit angewiesen war. Er verließ sich auf die Kenntnis derjenigen, die um die Lage Bescheid wussten, die ihn führen konnten, die ihm die Zugänge eröffneten in jene Teile der Stadt, in die er als Repräsentant der besitzenden Klasse, als aus Deutschland, aus Wuppertal stammender Textilfabrikbesitzersohn nicht so ohne Weiteres hätte gehen können. Die beiden Pionierinnen der Methode des Gehens, mit denen Engels mitgehen durfte, hießen Mary Burns und Lydia Burns.
Mitzugehen, Frauen entlang eines ihrer Alltagswege in der Stadt zu begleiten, war für die konzeptuelle Entwicklung meines methodischen Zugangs ausschlaggebend. Allerdings ging ich von der Annahme aus, dass diejenigen, die ich entlang ihrer Wege begleiten würde, mir nicht die Augen würden öffnen können für die Frauenstadtgeschichte, die sich genau entlang ihres Weges ereignet hatte. Vielmehr ging ich davon aus, dass sie mir davon berichten würden, wie sie die Stadt wahrnehmen, was entlang ihres Weges für sie wesentlich ist, welche subjektiven Erfahrungen, Gefühle und Erinnerungen sie mit ihrem Weg verbinden, in Kürze, wie sie mit ihrem Weg verbunden sind. Ich lud zwanzig Frauen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher beruflicher Felder, die jüngste in der Schule, die älteste nicht mehr berufstätig, ein. Dies war lange vor der Zeit von Google Maps. Die Teilnehmenden hatten ihre Wege im Kopf. Die meisten von ihnen hätten ihre Wege im Schlaf gehen können. Viele von ihnen berichteten, dass das gemeinsame Gehen ihr Augenmerk auf ihren Weg nochmals geschärft hätte, dass ihnen Dinge wieder eingefallen seien, die sie schon lange vergessen hätten, dass ihnen Dinge aufgefallen seien, die sie gar nie richtig wahrgenommen hätten, da sie so selbstverständlich seien. Von all den Forschungsgesprächen entlang der Wege fertigte ich Transkripte an; diese wurden von den Teilnehmenden gelesen, ergänzt, korrigiert, freigegeben. Diese zwanzig Wege und die Stadtwahrnehmungen bildeten das Gerüst der Gegenwart, von dem aus ich in die Vergangenheit aufzubrechen vorhatte. Die Erzählungen dieser Wege waren Ausgangspunkt und Basis für das Buch Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien, das im Jahr 2008 erschienen ist.
Vier Jahre lang, zwischen 2004 und 2008, habe ich mein Leben als stadtforschende Kuratorin mit diesen Wegen verbracht. Mein Ziel war eine Beweisführung durch historische Recherche. Ich wollte darstellen, dass sich Frauenstadtgeschichte überall forschend aufspüren lässt, dass Stadtgeschichte mit Fokus auf das Leben, das Arbeiten, das Studieren, das Protestieren, das Politikmachen von Frauen entlang aller Wege zu finden ist. Die Teilnehmerinnen hatten ihre Zweifel. Keine einzige von ihnen war optimistisch, dass sich entlang ihres Weges etwas zu Frauenstadtgeschichte würde finden lassen. Der Zweifel galt vielleicht weniger der Abwesenheit von Frauen, die ihren Weg in der Vergangenheit gekreuzt haben und die sie hätten treffen können, von denen sie hätten wissen können, weil sie Nachbarinnen waren, weil sie sie bei der Arbeit gesehen hatten, bei einer Kundgebung neben ihnen gegangen waren, bei einem Arbeiterinnenleseabend neben ihnen gesessen hatten, sie bei einer Ausstellungseröffnung gesehen hatten oder bei einem selbstorganisierten Klavierkonzert von Frauen. Der Zweifel galt vor allem der Möglichkeit, Frauen gleichermaßen in der Geschichte und an spezifischen Orten der Stadt lokalisieren zu können. Alle Teilnehmerinnen gingen davon aus, dass sich genau entlang ihres Weges nichts würde finden lassen. Womit diese Annahme zu tun haben mag? Ich habe nicht nachgefragt. Ich habe Vermutungen. Die Frauen könnten angenommen haben, dass ihr Weg, weil er so alltäglich ist, weil er zutiefst mit ihrem Alltag verbunden ist, nichts mit der Geschichte, verstanden als die hegemoniale Erzählung von Ereignissen, die stattgefunden haben, aufgezeichnet worden sind und als historisch relevant gelten, zu tun habe. Die Frauen könnten gedacht haben, dass sie als unwissend erscheinen würden, wenn sie nicht Bescheid wüssten über zumindest einige wenige historische Frauen, von denen sie entlang ihres Weges Kenntnis haben könnten. Es könnte aber auch viel allgemeiner die Annahme sein, dass Frauen Geschichte gemacht haben, dass diese aber immer anderswo ist, dass sich diese nicht mit heutigen Lebenserfahrungen im Hier und im Jetzt verbindet.
Das Anderswo der Geschichte von Frauen ist ihr Problem. Anderswo liegt an einem Ort außerhalb der Geschichte, erscheint daher auf keinem Plan der Stadt. ‚Anderswo‘ ist eine Kategorie, mit der sich ein spezifisches, zu problematisierendes Verständnis von Frauengeschichte fassen lässt. Frauengeschichte als Hinzufügung zur bestehenden Geschichte, als Einschreibung in die bestehende Geschichte. Mir ging es darum, deutlich zu machen, dass Frauen auf allen Ebenen von Arbeit, von Bildung, von Politik, von kultureller und intellektueller Produktion Stadt gemacht hatten. Die Stadt, die wir heute kennen, wäre nie so geworden, hätte es diese Frauen, ihre Energie, ihren politischen Willen, ihre Arbeit, nicht gegeben. Frauen sind Produzentinnen von Stadt, Subjekte historischer urbaner Handlungsmacht. Dies war mein Forschungsansatz. Wie würden sich diese Subjekte finden lassen? Wie würde ich ihre Lebenswege mit den zwanzig Wegen der heutigen Stadtbewohnerinnen in Verbindung bringen? Dieser selbsterteilte Forschungsauftrag führte dazu, dass ich vier Jahre lang mit den Wegen der zwanzig Frauen und mit der Suche nach historischen Frauenfiguren verbrachte. Solch eine Forschung ist nie geradlinig. Sie muss sich auf das Finden verlassen. Tagebücher, Memoiren, Biografien, literarische Zeugnisse, Ausstellungskataloge, Nachlässe, Zeitungsartikel, Archive, Stadtführer, Datenbanken wie Ariadne, das frauen- und genderspezifische Wissensportal der Österreichischen Nationalbibliothek, lieferten das Quellenmaterial für das Nachgehen. Jede Adresse, die mit einem der Wege, den ich mitgegangen war, übereinstimmte, eine Bestätigung des Ansatzes. Sylvia Mattl-Wurm, die damalige Direktorin der Wienbibliothek im Rathaus, zeigte Interesse an dem Vorhaben. Mein Konzept bestand darin, den 700 historischen Frauenfiguren, die ich entlang der aktuellen Wege in der Stadt lokalisiert hatte, nun in den Sammlungen der Wienbibliothek nachzugehen, um herauszufinden, welche Spuren die Produktion der Frauen in einer der Sammlungen am Standort Wien hinterlassen hat. Gemeinsam mit den jeweiligen Sammlungsleiter*innen der Wienbibliothek wurden die Recherchestrategien besprochen. Ähnlich wie bei den Frauen, deren Alltagswege ich mitgegangen war, gab es Zweifel am Nachgehen. Sammlungsleiter*innen und Mitarbeiter*innen betonten, dass es sich bei der Wienbibliothek im Rathaus um keine frauenspezifische Sammlung handle, dass wahrscheinlich nicht viel zu finden sei. Das Gegenteil war der Fall. Mit den aufgefundenen und lokalisierten Büchern, Plakaten, Briefen, Manuskripten, Notenhandschriften, Zeitungsartikeln, Fotografien hätten sich für mehrere Jahre Ausstellungen aus verschiedenen Perspektiven kuratieren lassen. Was Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien damit deutlich machte, ist, dass die Produktion von Frauen nicht aus dem Sammeln ausgeschlossen gewesen war, jedoch aus dem Bewusstsein der Sammlung verschwunden war. Dies ist ebenso verstörend wie die verschwundenen Frauen auf den Plänen der Städte. Sie waren da. Sie sind nicht mehr da. Sie waren Teil der Geschichte. Sie sind nicht Teil der Geschichte.
Eine andere Topographie von Wien hält die methodischen Zugänge im Titel fest. Tópos (griechisch = Ort) und gráphein (griechisch = schreiben) werden neu zueinander konstelliert. Orte, an denen Frauen Geschichte gemacht haben, können nachgelesen werden. Orten, an denen Frauen die Stadt produziert haben, kann nachgegangen werden.
Im Jahr 2008 wurde die Ausstellung Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien in der Wienbibliothek im Rathaus eröffnet und war dann für die Dauer von fast einem Jahr dort zu sehen. In der Wienbibliothek zeigte eine Karte an der langen Wand des schmalen Ausstellungskabinetts in verschiedenen Farben die aktuellen Wege der Frauen in der Stadt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ausstellungskabinetts kamen Vitrinen aus dem Bestand der Bibliothek zum Einsatz. Dieser ressourcenschonende Ansatz, der darauf verzichtete, neue Displays zu bauen, zeigte Bücher, Briefe, Manuskripte, Noten, Tagebücher, Stammbücher, Gästebücher, Zeichnungen, Fotografien, Zeitungsartikel und Plakate. Die dazugehörigen Beschriftungen und Erläuterungen waren auf Karten gedruckt, deren Farbton, in einer schwächeren Schattierung, mit der Farbe des jeweiligen gegenwärtigen Wegs korrespondierte. Ein umfangreiches Vermittlungs- und Rahmenprogramm begleitete die Ausstellung. Die Veranstaltungs- und Diskussionsreihe mit Frauen, die heute Stadt produzieren – Aktivistinnen, Politikerinnen, Künstlerinnen, Musikerinnen, Forscherinnen –, wurde aufgezeichnet. Diese Gespräche zu Fragen, wie im Jahr 2008 die Produktions- und Arbeitsbedingungen von Frauen in Wien sind, wurden auf meine Anregung hin in die Sammlung der Wienbibliothek aufgenommen. Die Mädchenschule für islamische Berufe arbeitete mit der Ausstellung und ihrer Methode. Die Schülerinnen baten ihre Mütter, die aus verschiedensten Ländern nach Wien migriert waren, mit ihnen ihren ersten Weg in Wien nachzugehen.
Wenn ich heute, im Jahr 2020, mit einem neuen feministischen kuratorischen Stadtforschungsprojekt beginnen würde, dann würde ich wieder von Verbindungen ausgehen. 2004 hatte mich interessiert, wie sich zwischen gegenwärtigen Alltagsbewegungen, historischen Forschungen und der Arbeit mit einer Sammlung Stadtforschung feministisch kuratieren lässt. Heute interessiert mich, wie sich die Zusammenhänge zwischen den neuen Frauenbewegungen, die weltweit auf die Straße gehen – insbesondere ‚Ni una menos‘ in Argentinien, der globale Frauenstreik, Kämpfe um das Recht auf Abtreibung in Polen, der Women’s March in den USA –, als Bewegungen auf der Straße und als Bewegungen im digitalen Raum beforschen lassen. Mit einzelnen Akteur*innen würde ich – werde ich – die Wege der Märsche, der Demonstrationen nachgehen und diese verbinden mit der digitalen Präsenz der neuen Hashtag-Feminismen. Mitgehen und Nachgehen sind die Methoden, die nicht nur einem Buch zu den Erfahrungen einzelner an diesen Märschen beteiligter Akteur*innen zugrunde liegen sollen, sondern mit deren Hilfe auch eine Sammlung aufgebaut werden soll, die Eingang in Museen finden könnte, um so Teil des kollektiven städtischen Gedächtnisses zu werden und zum transnationalen Archiv des Geschichtsbewusstseins der neuen Frauenbewegungen, der neuen Feminismen des 21. Jahrhunderts beizutragen. So wird es weitergehen mit dem feministischen Kuratieren von Stadtforschung.
Ahmed, Sara (2006): Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others. Durham and London: Duke University Press.
Donald, James (1999): Imagining the Modern City. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Krasny, Elke (2008): Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien. Wien: Metro Verlag.
Lindner, Rolf (2004): Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt am Main: Campus Verlag.