Flow und Imaginative Bildung: Wesentliche Bildungsphänomene in Prozessen des Kunstunterrichts

Zum Status Quo

Eine verstärkte tägliche Rezeption digitaler Bilder, z. B. in sozialen Netzwerken, ist in den letzten Jahren bei vielen Menschen vermehrt in den Alltag getreten (vgl. Bleckmann/Lankau 2019: 10 f., vgl. Büsching 2019: 69 f., vgl. MpFS 2019: 12 f.). Dies hat sich durch die COVID-19-Pandemie zusätzlich verstärkt. 

Digitale Bilder haben zwar teilweise einen starken Wirkungsgehalt, der aufgrund ihres massenhaften Vorkommens jedoch relativiert wird. Während des Durchscrollens auf digitalen Plattformen vollziehen sich rasche Wechsel vom ersten zu den nachfolgenden Bildern. Die Geschwindigkeit und Masse der Rezeption kann eine kritisch-reflexive Verarbeitung der eingesehenen Bilder stark beeinträchtigen. Überdies reduziert das digitale Überangebot von Bildern potenziell die Schöpfung eigenständig generierter innerer Vorstellungsbilder (vgl. de Smit 2005: 22, vgl. Sowa 2012 e: 62). Nicht selten werden jene Bilder spezifisch beispielweise für Manipulation, subliminale Wertsetzungen oder Kaufwünsche verwendet. Berechnend eingesetzte Bilder vermischen sich mit authentischen inneren Bildern, sind imstande, die Vorstellungskraft zu durchdringen, zu verändern und somit Verhaltensweisen in Personen hervorzubringen, die nicht ihrem Selbst entsprechen. Heutzutage – insbesondere zu Zeiten von Isolation und Medialisierung durch die Pandemie – besteht demnach besonderer Bedarf, sich mit inneren Bildern auseinanderzusetzen.  

Es ist infrage zu stellen, inwiefern interne, eigens hervorgebrachte Imaginationen prinzipiell Beachtung finden. Ihre Reflexion ist äußerst erstrebenswert, da innere Bilder das menschliche Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen (siehe Roth 2013, Beaty et al. 2015, Hüther 2015). Der Kunstunterricht bietet beispielsweise einen geeigneten Rahmen für jene Reflexion der Imagination, da er ohnehin bereits vielfach physische Bilder thematisiert. Zudem werden hierbei Schüler*innen erreicht, die bereits in jungen Jahren die Fähigkeit entfalten können, ein Bewusstsein für ihre Vorstellungskraft und deren Reflexion zu entwickeln.  

Forschungsfrage 

Es ist herauszustellen, welches Potenzial imaginativ ausgerichtete Bildung in einer kunstpädagogischen Vermittlungssituation aufweist. Zudem steht die Forschungsfrage im Mittelpunkt, wie Schüler*innen ihre Imagination innerhalb kunstpädagogischer Projekte erleben und reflektieren. In diesem Zusammenhang wird der Begriff Imaginative Bildung im Rahmen eines neuen Ansatzes für den (Kunst-)Unterricht vorgeschlagen, der die Imagination innerhalb von Lernprozessen reflexiv fokussiert. Ihm liegt ein Bildungsbegriff des autonomen, handlungsorientierten Lernens zugrunde. Imaginative Bildung  begreift Bildung durch innere Bilder sowie Kunst und strebt an, die Vorstellungskraft voll auszuschöpfen. Dieser Ansatz geht über die bisher weit verbreitete bildzentrierte Denkweise – die sich in Arbeiten zu dem Thema Imagination, wenn auch auf den weiten Bildbegriff abzielend, vorrangig in der Praxis mit Zeichnungen auseinandersetzt – hinaus, indem er alle Formen von künstlerischen Verfahrensweisen für die Bildung der Imagination umfasst (nicht nur bildliche, sondern beispielsweise auch performative) und zudem einen vertiefenden Kunstbezug fordert. 

Es ist anzunehmen, dass ein Zusammenhang zwischen inneren Erscheinungen und dem Erleben von Flow besteht. Wenn Menschen in einen Flow geraten, befinden sie sich in einem Zustand höchster Konzentration. Diese Vertiefung beinhaltet das restlose Aufgehen in einer bestimmten Tätigkeit, wodurch ein regelrechter Schaffensrausch ausgelöst wird (vgl. Csíkszentmihályi 2017: 73 ff.). Flow ist ein emotional positiv aufgeladener, produktiver und potenziell schöpferischer Zustand, der sich u. a. in Situationen des Lernens ereignen kann. Flow treibt das Selbstvertrauen in die Entwicklung von Fähigkeiten voran, sodass sich persönliches Wachstum vollziehen kann. Somit ermöglicht Flow überdies vorantreibende Beiträge für das Umfeld von Personen. Imagination kann dazu verhelfen, in den „Flow State of Mind“ zu geraten, da sie die Visualisierung der Flow-Hauptkomponenten2 vor dem inneren Auge sowie eine Transformation von Handlungsimaginationen und eine Ermöglichung von Veräußerungen bietet. Die synaptische Aktivität während des Erlebens von Flow führt wiederum zu einer veränderten Wahrnehmung, die neue Vorstellungen hervorbringen kann. 

Bisher wurde das Flow-Erleben im Feld der Psychologie umfassend behandelt, im Kontext der Kunstpädagogik wurde es hingegen nur selten und flüchtig angerissen (vgl. Schulz 2006: 117 ff., vgl. Schweighart-Wiesner 2014: 78 f. u. a.). An dieser Stelle ergibt sich eine Forschungslücke, die zu füllen versucht wird. Untersucht wird hierbei die Verbindung zwischen Imagination, Flow und handlungsorientiertem Lernen. 

Die Relevanz und Aktualität der Thematik ergibt sich daraus, dass den Lernenden in der Schule viel theoretisches Wissen vermittelt wird und im Schulalltag ein ständiges Streben nach vermeintlich wissenschaftlich bewiesener „Wirklichkeit“ herrscht. Auf Grundlage der aktuellen Kompetenzorientierung im Bildungssystem werden überwiegend starke Schwarz-Weiß-Differenzierungen zwischen korrekt und inkorrekt vorgenommen. Dazwischen bleibt allerdings eine missachtete Leerstelle: Das Individuum als holistisches Wesen mit vielfältigen Stärken. Unter diesem Blickwinkel sollen zwei wesentliche Faktoren von Bildung Berücksichtigung finden: das Imaginative und der autonome Schaffensfluss in Form von Flow. Im Fokus steht hierbei die Untersuchung der hypothetisch reziproken Bedingungen für die Entwicklung und Reflexion der Imagination und des vertieften Arbeitsflusses von Schüler*innen.  

Zielsetzung und Methodik

Intention ist es, auf Basis themenrelevanter theoretischer Grundlagen aus den Disziplinen Pädagogik, Philosophie, Psychologie sowie Neurophysiologie daran anschließende Praxisprojekte hinsichtlich Imaginativer Bildung und der Flow-Erfahrung zu durchdringen. 

Es gilt zu ermitteln, unter welchen Voraussetzungen Schüler*innen in ein Flow-Erleben geraten, auf welche Weise sie es erleben sowie reflektieren und wie sich daraus prinzipiell Bedingungen für den Unterricht ableiten lassen, die einen solchen Zustand fördern. Dieser Zustand ist gewiss nicht erzwingbar, allerdings können spezifische Umstände ihn tendenziell begünstigen. Ziel ist es, folgende Kernfragen zu beantworten: 

  • Welches Potenzial weist die Imaginative Bildung in schulischen Vermittlungssituationen auf?  
  • Wie erleben und reflektieren Schüler*innen ihre Imagination im Rahmen der Unterrichtsprojekte (Zeichnungen und Performances (Abb. 3 u. 5) in unterschiedlichen Sozialformen zu Pseudowissenschafts- und Zukunftsthemen)? 
  • Wie beschreiben einige Schüler*innen ihr Flow-Erleben innerhalb der Unterrichtsprojekte?  
  • Unter welchen Bedingungen kann ein Flow-Erleben im Unterricht eintreten und gefördert werden? 

Um jene Fragen beantworten zu können, wurden zwei kunstpädagogische Projekte jeweils in den Klassenstufen 4, 6 und 8 durchgeführt, wobei das zweite Projekt zur besseren Vergleichbarkeit strukturell an das erste angelehnt war. Die Projektthemen lauteten „Pseudo-Wissenschaftler*innen“ und „Zurück in die Zukunft“. Diese boten Freiraum für die Entfaltung von Flow und Imagination im Rahmen von freien Assoziationen zu zufällig verteilten Begriffen mittels Écritures automatiques (in Einzelarbeit, Abb. 2), Zeichnungen (in Einzel-/Partnerarbeit, Abb. 1 u. 4) und Performances (in Kleingruppen, Abb. 3 u. 5). Daraufhin folgten Reflexionen zum Unterrichtsgeschehen und Künstler*innenbezüge (Boltanskis Pseudo-Wissenschaften in Projekt I und die Ausstellung Post Human sowie Huyghes Uumwelt in Projekt II).  

Im Anschluss wurden Fragebögen mit themenbezogenen Fragen seitens der Schüler*innen ausgefüllt, um erste Tendenzen zum Erleben von Flow und zur Imagination feststellen zu können, auf Basis derer auch die Vernetzung von Flow und Imagination hervorgehen konnte.    

Daran anknüpfend wurden ausgewählte bildhermeneutische Analysen getätigt und die entsprechenden Schüler*innen interviewt, wodurch sich eine Methodentriangulation ergab. Zur Dokumentation kamen ethnografische Foto-/Videografie und Audioaufnahmen zum Einsatz. 

Gesellschaftliche Relevanz   

Flow und Imagination – zwei derart wesentliche Aspekte des Lernens und Lebens – müssen dringend fusioniert diskutiert werden. Warum sich nicht damit auseinandersetzen, wie neueste Technologien unsere inneren Bilder unterwandern? Warum nicht den Zusammenhang zwischen dem Imaginieren und dem Erleben von Flow untersuchen? Warum Pädagogik nicht vom Flow aus denken?  

Es wird ein Beitrag für den Fachdiskurs der Pädagogik sowie für angrenzende Disziplinen wie die Philosophie, Psychologie oder Kunst- und Bildwissenschaft geliefert. Zudem wird eine Neuvernetzung der Erkenntnisse zur Vorstellungskraft in der Idee der Imaginativen Bildung hervorgebracht, ergänzt um die Verbindung mit dem Erleben von Flow als reflexive Praxis. Es bietet eine Perspektive auf Vorstellungskraft und Flow, die erstmals deren Resonanz auf vielfachen Ebenen diskutiert – inner- und außerhalb des Kunstunterrichts. 

Die Thematik lässt sich der pädagogischen Imaginationsforschung gleichermaßen zuordnen wie der psychologisch ausgerichteten Flow-Forschung. Insbesondere die Schnittstellen von Vorstellungskraft und Flow-Erleben sind für aktuelle Forschungsdebatten – auch außerhalb der Kunstpädagogik – bedeutsam. 

Worin liegt die gesellschaftliche Bedeutung? Bereits Adorno kritisierte den Verlust der autonomen Eigenheiten der Kunst bzw. Musik im Speziellen (vgl. Adorno/Horkheimer 2003 [1944]: 166 f.). Jener Verlust der Autonomie lässt sich partiell auch auf das Erleben von Flow und Imagination hinsichtlich eines Dauerflusses von Informationen und einer daraus resultierenden Überreizung übertragen. Ein Beispiel hierfür ist die Rezeption von Informationsfluten in Diskrepanz zu eigener Muße und schöpferischer Kraft im Sinne der Flow-Erfahrung.  

Wie bei Adorno im Hinblick auf den Konsum von Musik problematisiert, so dient heute das Internet zunehmend dem Schein sowie der Unterhaltung der Massen. Tatsächlich verleitet es nahezu zur Unmündigkeit und Unfreiheit des Denkens, denn Informationen werden schnell abgerufen und mindestens genauso rasch wieder vergessen. Imaginationsstrukturen vollziehen sich daraufhin nach einem verflachten Prinzip der Massenrezeption, ohne dabei noch viel Eigenes zu kreieren. In gewissem Maße ist der Mensch bereits gefangen, und dies auf die Weise, dass er seine Unfreiheit gar nicht als solche begreift, sondern sie eher enthusiastisch entgegennimmt. Er hintergeht sich selbst und ist sich dessen nur wenig bis gar nicht bewusst. 

Vornehmlich in Bezug auf Flow-Erlebnisse ist v. a. diese Art der Passivität zu betonen, die den Menschen in seiner (von ihm nicht realisierten oder verdrängten) misslichen Lage verharren lässt. Auf Grundlage jenes Erstarrens in Widerstandslosigkeit, mit einer Einstellung des unkritischen Gebrauchs des Vorgeschlagenen, nimmt der Mensch sich selbst die Gelegenheit, wahre Freiheit zu erlangen. Es bleibt allerdings fraglich, inwieweit dieser Zustand auf das eigentliche Unvermögen der Massen zurückzuführen ist oder inwieweit dieser Zustand durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, z. B. Kulturindustrie und monopolistische Mächte forciert wird. Steht der Mensch sich selbst im Weg? Verhindert er es, Flow und Imaginative Bildung zu erfahren? 

Dadurch, dass lediglich der äußere Schein von Werken in den Vordergrund gerückt wird, wie Adorno konstatiert, büßen diese ihren Wahrheitsgehalt ein, da ihr Inneres und Ganzes aus dem Blickfeld gerät. Ebenjenes Innere wird hier wieder hervorzuheben versucht, indem die Einbildungskraft sowie die Flow-Erfahrung, idealerweise auch in Kombination, wieder vermehrt ins Bewusstsein geraten. 

Die Funktionen und Zusammenhänge der Mediennutzung sollten im Hinblick auf die Imaginationsentwicklung für einen selbstbestimmten und kritischen Gebrauch mitbedacht werden, damit die Nutzer*innen auch die Bedeutung der Prägung ihrer inneren Erscheinungen durch die Medien für ihre gesellschaftliche Teilhabe sowie ihr persönliches Leben zu reflektieren lernen. Die Aufgabe von Lehrpersonen ist es demnach u. a., die Heranwachsenden auf ihrem Weg zu sozial handlungsfähigen Individuen zu unterstützen, die ihre Identitätsbildung und die Entstehung persönlicher Lebensentwürfe hinsichtlich medialer Einflüsse auf ihre Imagination und ihr Erleben von Flow kritisch überdenken. Schließlich sollen nicht Computer-Algorithmen ihr Handeln bestimmen, sondern sie selbst.  

Zentrale Thesen

Eine Hypothese lautet, dass Personen innere Bilder oder Erscheinungen im Geiste durchlaufen, während sie Flow erleben. Man könnte dies auch als einen Imaginations-Flow bezeichnen. So kann der Flow-Zustand vermutlich die Imagination anregen. Die Imagination verhilft wiederum dazu, in den Flow State of Mind zu geraten, indem sie für ihn wesentliche Hauptkomponenten vor dem inneren Auge visualisiert und in Handlungsimaginationen für eine z. B. ästhetisch-künstlerische Praxis transformiert. 

Eine weitere Annahme ist, dass die Schüler*innen hinsichtlich ihrer Vorstellungen zur Zukunft womöglich auch durch Digitalisierung und Techno-Sozialisierung geprägt sind (siehe Kamper 1986, Maset 2013, Precht 2018). Es bleibt anzunehmen, dass ein (nahezu täglicher) Konsum digitaler Bilder, z. B. auf sozialen Netzwerken, das eigenständige Hervorbringen von Imaginationen dahingehend reduziert, dass die Einbildungskraft eher rezeptiv-verarbeitend Anwendung findet, anstatt produktiv-erarbeitend aktiv zu sein (Abb. 1, 2 u. 4).  

Ergebnisse

Wesentliche Eigenschaften für eine Kunstpädagogik hinsichtlich Imaginativer Bildung und dem Erleben von Flow werden aus den Erkenntnissen der durchgeführten Unterrichtsprojekte abgeleitet.    

In Bezug auf Imaginative Bildung

Die Fähigkeit zur Imagination ist eine neurophysiologische Gegebenheit aller Menschen, auf der, je nach individuellen Wahrnehmungen und Erfahrungen, die Bildung neuronaler Vernetzungsebenen im Gehirn beruht.   

Die Betrachtung von Wahrnehmung und Imagination bzw. Fantasie in Relation lässt leiblich-sinnliche sowie imaginative Wechselwirkungsstrukturen erkennen, bei denen die Omnipräsenz der Einbildungskraft deutlich wird. 

 

Medrow-Grahl: „Fällt dir eine Situation ein, in der du deiner Vorstellung freien Lauf lässt?“ 

Schülerin 2 (Kl. 6): „Ich zeichne zum Beispiel, wenn irgendwas in meinem Kopf vorschwebt, das jetzt irgendwie mit Fantasie zum Beispiel zu tun hat und ich will’s halt wahrnehmen und wissen, wie sieht’s jetzt aus?“ 

 

Wie genau wird die Imagination fokussiert? Mittels direkt adressierter Auseinandersetzung mit der Fantasie und deren Reflexion, erleben und verstehen Schüler*innen, wie sie sich bildet. Sie wird innerhalb jener Prozesse weiter gefördert, ausgeschöpft und reflektiert.  

Ausgehend von einem Imaginationsbegriff, der die Vorstellungskraft als ein oszillierendes, transzendental Zeit und Raum durchdringendes Phänomen begreift (siehe Fauser 2014 u. a.), das sich bei allen Menschen ereignet, sind auf Grundlage der Theorie und Praxis nachfolgende Merkmale für Kunstunterricht im Sinne einer imaginativ ausgerichteten Bildung auszumachen:  

  • Imaginative Bildung basiert auf neurophysiologisch bedingten Grundgegebenheiten der Vorstellungskraft aller Menschen.  
  • Imaginative Bildung fördert das allen Menschen inhärente schöpferische Imaginationspotenzial.
  • Imaginative Bildung verstärkt eine reflektierte Haltung gegenüber inneren Erscheinungen (z. B. hinsichtlich des eigenen soziokulturellen Hintergrunds inklusive der Prägung durch mediensoziologische Einflüsse).
  • Imaginative Bildung berücksichtigt aktuelle Entwicklungen zeitgenössischer Ereignisse in Kunst, Politik, Gesellschaft etc.
  • Imaginative Bildung greift auf die vielfältigen Möglichkeiten künstlerischer Verfahrensweisen, Medien und Materialien zurück. 
  • Imaginative Bildung stärkt empathische und kooperative Denkprozesse. 
  • Imaginative Bildung bietet Raum für Unlearning-Prozesse, um Innovationen hervorbringen zu können.
  • Imaginative Bildung ermöglicht das Erleben von Flow.

Bildung, ob im schulischen Raum oder außerhalb, bedarf unabdingbar der Imaginativen Bildung. Darüber hinaus benötigt das Bildungssystem im Allgemeinen ebenso die Berücksichtigung der Imaginativen Bildung, nicht „lediglich“ im Zusammenhang mit z. B. künstlerisch-ästhetischer Praxis. 

In Bezug auf das Erleben von Flow

Wie muss Kunstunterricht beschaffen sein, damit ein Flow-Zustand für besonders viele Schüler*innen (leichter) ermöglicht wird und von ihnen reflektiert werden kann? Die Aspekte 2–5 sind inhaltlich den Hauptkomponenten des Erlebens von Flow nach Csíkszentmihályi (vgl. 2017: 87–102) entlehnt. Zentrale Charakteristika von Bildung im Hinblick auf das Erleben von Flow sind:  

  • Rahmenplanung von Projekten oder Kunstunterricht ohne starke zeitliche Einschränkungen für die Möglichkeit der vertiefenden Produktivität innerhalb autonomer Arbeitsprozesse 
  • offene, individuell angepasste Aufgabenformate bzw. Erfahrungsmöglichkeiten, denen sich die Schüler*innen gewachsen fühlen
  • Schaffung eines ruhigen Raums für Konzentrationsfähigkeit, ggf. mit entsprechenden Ritualen
  • autonome Bearbeitung von Fragestellungen seitens der Schüler*innen, innerhalb derer sie sich unmittelbar deutliche Rückmeldung hinsichtlich ihrer selbst gesteckten Ziele geben
  • Kontrolle über die Tätigkeit durch die Schüler*innen durch Passung von Herausforderung und Fähigkeit
  • Bereitstellung einer Vielzahl von individuellen Flow-Zugängen
  • Überwindung möglicher anfänglicher Hemmungen oder Startschwierigkeiten
  • Neuheit und Unvorhersehbarkeit in der Praxis ermöglicht erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration
  • Möglichkeiten zur zirkulären Selbstreflexion, auch im Hinblick auf die Imagination 
  • Flow-Erfahrung sowie Fortschreiten per se ist wichtiger als die Resultate

Eine Person kann sich, unabhängig von äußeren Umständen, erfüllt fühlen, indem sie die Inhalte ihres Bewusstseins ändert. Dies kann geschehen, indem sie in den Flow-Zustand gerät oder imaginiert und somit den Fokus auf das Innen lenkt. Ein dritter möglicher Weg ist der Imaginations-Flow, bei dem die Person im Rahmen ihres Imaginierens in einen Flow gerät. Die absolute Immersion in eine Aktivität oder eine Vorstellung bzw. die Vorstellungsaktivität lässt die Person in diesem Moment alles andere ausblenden. Je stärker die Herausforderung wächst und sich die entsprechenden Fähigkeiten erarbeitet werden, umso erfüllender der Flow-Zustand.  

Was die These der Imaginationsregression und den Zusammenhang mit dem Imaginations-Flow untermalt, ist, dass Tätigkeiten, in denen weder Fähigkeiten gefordert werden noch Herausforderungen warten, wie beispielsweise beim Schauen von TV oder dem Durchscrollen bei sozialen Netzwerken, zu Apathie führen können (vgl. Csíkszentmihályi 1985: 324 f.). Es ist davon auszugehen, dass eine stark ausgeprägte Techno-Sozialisation, beispielsweise hinsichtlich einer häufigen Rezeption von externen Bilder- und Informationsfluten, innere, aktive Konstruktionen von Vorstellungsbildern hemmt. Dem muss in künftigen Bildungssituationen dringend kritisch-reflexiv begegnet werden, ohne dabei auch die Vorteile von Neuen Medien im Rahmen von Bildung aus dem Blick zu verlieren.            

Je nach Persönlichkeit ist das Erleben von Flow in allen erdenklichen Situationen möglich. Die Kanäle, in denen es sich ereignen kann, sind so vielfältig wie die Individuen selbst. Schüler*innen erleben Flow und Imaginationsphänomene bereits häufig z. B. beim konzentrierten Lernen und während herausfordernder Freizeitaktivitäten. Im Alltag können sie in diversen Situationen auftreten.   

Auf Basis der im Anschluss an die Projekte geführten Interviews mit Schüler*innen lassen sich bedeutsame Aspekte von Kunstunterricht für Flow und umgekehrt herleiten: Die Schüler*innen fordern Zwanglosigkeit im Unterricht, ohne Druck und frei von Unterbrechungen. Die Schüler*innen plädieren für eine ruhige und entspannte Lernatmosphäre, zu der sowohl die Lehrperson als auch sie selbst beitragen können. 

Medrow-Grahl: „Wie müssten Kunstlehrer*innen unterrichten, damit ein vertieftes, konzentriertes Arbeiten möglich wird?“

Schüler 1 (Kl. 4): „[E]ntspannt, kein Bedrängnis, weil, sonst fühlen die Kinder sich nicht wohl und dann wird sozusagen wie beim Wasser dann, wird sozusagen ’ne Sperre gezogen und dann kann die Fantasie, der Fantasiefluss nicht mehr laufen, weil durch den Stress und so wird das sozusagen gekappst und dann kommt einfach nix mehr ‚raus sozusagen.“

Die Schüler*innen möchten eigenen Fragestellungen nachgehen können und empfinden zudem konstruktive Kooperationen weitestgehend als produktiv. Da jede Person andere Arten des Lernens bevorzugt, sollten individuelle Zugänge zu Themen geschaffen werden. 

Medrow-Grahl: „Was fiel dir beim Bearbeiten leicht?“

Schüler 3 (Kl. 8): „Mein Thema war ja Gaming und E-Sports, also da ist es mir nicht besonders schwer gefallen, mir auszudenken, wie die das in der Zukunft machen werden […]. Weil ich das irgendwie jetzt schon vor Augen hab‘.“

 

Flow fördert durch den Fluss der inneren Erscheinungen das allen innewohnende schöpferische Potenzial der Imagination. Die Reflexion eines Flow-Prozesses kann ein Bewusstsein für jenen schöpferischen Tätigkeitsrausch fördern. Flow kann sich einzeln, jedoch auch in Gruppendynamiken ereignen und somit, aufgrund des Einsatzes von Vorstellungskraft, empathische und kooperative Denkprozesse fördern. 

Betrachtet man die Eigenschaften der beiden Aufzählungen zentraler Merkmale für den Unterricht, so sind Überschneidungen sowie Zusammenhänge zwischen Flow und Imagination nicht zu übersehen, sodass diese gemeinsam gedacht werden können. Im Flow werden z. T. Fantasien hervorgerufen, während Imagination Flow wiederum begünstigt initiieren und begleiten kann. Im imaginativen Flow befinden sich die Betroffenen in einem Fluss ablaufender innerer Erscheinungen. Darüber hinaus kann die Hypothese zur Wechselwirkung von Flow und Imagination durch die Korrelation von besonders imaginationsreichen Arbeiten und dem verstärkten Erleben von Flow der entsprechenden Schüler*innen laut Fragebögen, bildhermeneutischen Analysen und Interviews bestätigt werden.   

Dass Schüler*innen und Lehrpersonen zusammen Flow erleben, sich gemeinsam darüber austauschen, Vorteile ausmachen und diesen besonderen Zustand somit allen ins Bewusstsein rufen, muss ein Ziel von Unterricht, auch in Verbindung mit der Vorstellungskraft, sein. Eigene Aktivität kann sich durch Flow ereignen, während diese Erfahrung wiederum auch erst durch Handlungen in die Wege geleitet werden kann.  

Unterrichtet bietet, wenn er denn mit Vielfalt, Offenheit, einem experimentellem Wesen und Freiheitsdrang einhergeht, einen geeigneten Raum für das Erleben und die Reflexion von Imagination und Flow. 

Literatur

Adorno, Theodor W. (2003 [1944] b): Über den Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens, in: Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (Hg.), Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, Gesammelte Schriften, Bd. 14, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1450. 

Beaty, Roger E., Mathias Benedek, Barry S. Kaufman und Paul J. Silvia (2015): Default and Executive Network Coupling Supports Creative Idea Production, in: Scientific Reports 5, 1–14. 

Bleckmann, Paula und Ralf Lankau (2019): Digitale Medien und Unterricht. Eine Kontroverse, Weinheim: Beltz Verlagsgruppe. 

Büsching, Uwe (2019): Hat die Digitalisierung der Lebenswelten unserer Kinder und Jugendlichen so viele Vorteile?, in: Paula Bleckmann und Ralf Lankau (Hg.), Digitale Medien und Unterricht. Eine Kontroverse, Weinheim: Beltz Verlagsgruppe, 69–84. 

Csíkszentmihályi, Mihály (1985): Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen, Stuttgart: Klett-Cotta.  

Csíkszentmihályi, Mihály (2017): Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart: Klett-Cotta.  

Fauser, Peter (2014): Ohne Vorstellung geht nichts. Über den Zusammenhang von Imagination und Lernen und eine Theorie der Vorstellung, in: Hubert Sowa, Alexander Glas und Monika Miller (Hg.), Bildung der Imagination. Bildlichkeit und Vorstellungsbildung in Lernprozessen, Bd. 2, Oberhausen: Athena-Verlag, 61–97.  

Hüther, Gerald (2015): Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, 9. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 

Kamper, Dietmar (1986): Zur Soziologie der Imagination, München: Hanser.  

Maset, Pierangelo (2013): Wörterbuch des technokratischen Unmenschen, Stuttgart: Radius-Verlag. 

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2019): JIM-Studie 2019. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, [online] https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2019/JIM_2019.pdf [zuletzt eingesehen: 9.2.2020].  

Precht, Richard D. (2018): Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft, München: Goldmann. 

Roth, Gerhard (2013): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern, 8. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta.

Schulz, Nina (2006): Das zeichnerische Talent am Ende der Kindheit. Ein empirischer Vergleich zwischen dem Selbstbild und dem Fremdbild von Peers, Eltern, Lehrern und Künstlern, Diss., Münster: Waxmann. 

Schweighart-Wiesner, Veronika (2014): Kunstpädagogisches Handeln im Zeitalter der Neuen Medien. Eine Untersuchung zu (syn-)ästhetischen Erfahrungen im Kunstunterricht, Artificium 42, Oberhausen: Athena-Verlag. 

Smit, Peer de (2005): Vorwort, in: Peter Sinapius, Therapie als Bild – Das Bild als Therapie. Grundlagen einer künstlerischen Therapie, Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, 13–27. 

Sowa, Hubert (2012 e): Imagination im Bildungsprozess. Der sensus communis zwischen Aisthesis und Vernunft, in: Hubert Sowa (Hg.), Bildung der Imagination. Kunstpädagogische Theorie, Praxis und Forschung im Bereich einbildender Wahrnehmung und Darstellung, Bd. 1, Oberhausen: Athena-Verlag, 22–73.

Von Laura Medrow-Grahl

Veröffentlicht am 6. Mai 2023

Zitiervorschlag

Medrow-Grahl, Laura: Flow und Imaginative Bildung: Wesentliche Bildungsphänomene in Prozessen des Kunstunterrichts, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2023. Quelle: https://zkmb.de/flow-und-imaginative-bildung-wesentliche-bildungsphaenomene-in-prozessen-des-kunstunterrichts/; Letzter Zugriff: 21.11.2024

Review-Verfahren

Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.