Kulturhistorische Kompetenz als notwendiges Bildungsziel

Kunst – Ein problematischer Leitbegriff

Die „Kunst als generalistische Weise des Denkens und Handelns“ zu betrachten, ist eine im kunstdidaktischen Diskurs etablierte bildungsbürgerliche Attitüde, die in den vergangenen Jahren zunehmend Raum gegriffen hat (Vgl. Buschkühle 2002: 4 und Kettel 2011). Diese Haltung ist auch innerhalb des kunstdidaktischen Diskurses auf Widerstand gestoßen, doch auch von streitbaren Gegnern der „Kunstreligion“ ist zu vernehmen, dass Kunst „schon in der frühesten Menschheitsgeschichte“ mehr gewesen sei „als technisches Können“ (Sowa 2001). Und mit dem Anspruch, die „Kunst von ihren Ursprüngen her (zu) verstehen“, werden dann beispielsweise im „ATLAS-Kunst“ die Höhlenmalereien des Neolithikum mit einem Ornamente in den Sand malenden (farbigen) Mann auf „den Inseln von Vanuatu in der melanesischen Südsee (Ozeanien)“ abgebildet. Über Ähnlichkeitsbeziehungen, die man vergleichbar diffus zwischen „primitiver Kunst“ und der europäischen Moderne konstruiert, werden gleichermaßen eine „Universalästhetik“ und die Vorstellung einer universell gültigen Idee von Kunst behauptet. Leider fehlt auch der europäischen Kunstgeschichte bis heute eine Methode zur Annäherung an Fremdheit, doch hat sich in diesem Fach inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass „Kunst“ alles andere als ein überzeitliches und universelles Konzept ist (Vgl. dazu McEvilley 1992). „Die Tatsache, dass sich der heute so selbstverständliche Sprachgebrauch keinesfalls auf eine historische Kontinuität berufen kann, sollte Vorsicht angezeigt sein lassen, wenn der moderne und ausschließlich an die Kulturen Westeuropas gebundene Kunst-Begriff auf andere Zeiten und Länder angewandt wird. Stets sollte man sich mit Blick auf die Vormoderne und die ästhetische Produktion außereuropäischer Völker bewusst machen, dass sich der westliche Begriff von Kunst, genau wie Schnaps und Syphilis, erst im Gefolge der imperialistischen Kolonisation über die ganze Welt verbreitet haben.“ (Büttner 2008: 33f). Es ist dabei bemerkenswert, dass sich bislang wohl kein vom Geist des Imperialismus durchdrungener Terminus länger behauptet hat, als der aus der Perspektive einer eurozentrischen Ästhetik argumentierende Begriff von „Kunst“ (Büttner 2012: 195–200).

Da die Idee, dass die Produktion von Kunst eine wesentlich geistige Tätigkeit sei und die ihm verbundenen Konzepte sich nicht einmal innerhalb Europas auf eine Tradition berufen können, die vor die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückreichen würde, sollte man bei der Anwendung dieses Kunst-Begriffs und seiner inhaltlichen Füllung einige Vorsicht walten lassen (Seibert 2009).

Materielle Kultur und historisches Denken

Mindestens genauso verbreitet und ebenso befremdlich wie die Behauptung einer universellen „Kunst“ ist die Annahme, dass die materielle Kulturüberlieferung die Geschichte der Kunst dokumentiere. 1764 hatte Johann Joachim Winckelmann in seiner „Geschichte der Kunst des Alterthums“ deren Entwicklung anhand einer Abfolge von Stilperioden dargestellt. Seither und bis heute wird diese zum selbstverständlichen didaktischen Narrativ gewordene Denkfigur reproduziert, die in einer Vielzahl von Unterrichtswerken ihren Niederschlag findet (Gombrich 1978; Hazan 1999; Gilmore 2000). In einem in zahlreichen Einführungswerken reproduzierten Wissenskanon wird die Geschichte der Kunst zumeist als eine lineare Fortschrittsgeschichte erzählt und eine kausal verknüpfte Abfolge von Künstlern, Werken und Stilen referiert (Wetzel 1999; Wetzel 2001; Etschmann 2004). So sinnvoll und nützlich ein solches Darstellungsschema aus didaktischer Perspektive sein mag, sollten doch stets auch die Brüche in der vermeintlich ungebrochenen Tradition sichtbar gemacht werden.

Die folgenden Überlegungen sind aus der Perspektive des Kunsthistorikers formuliert, der die Lebenswelt der Schule nur von außen kennt (Heinen 2005 vs. Welzel 2004). Sie zielen deshalb nicht auf die Unterrichtspraxis von Kunstpädagoginnen und Kunstpädagogen, sondern haben vor allem die Unterrichtsmaterialien im Blick. In diesem Zusammenhang würde ich mir wünschen, dass in Unterrichtswerken die Beschäftigung mit dem materiellen Kulturerbe und mit Werken der Architektur und der Bildkünste auch zum Anlass wird, nicht nur die Geschichtlichkeit der Monumente, sondern mit ihnen zugleich die der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in den Blick zu nehmen. So ließe sich dann über die Beschreibung des Andersseins des Gewesenen, das Gewordensein der alles andere als selbstverständlichen Parameter gegenwärtigen Schaffens, Schreibens und Sprechens aufzeigen. Auch und gerade mit Blick auf die historischen Monumente der Kunst und Kultur lässt sich zeigen, dass Wahrheit etwas Gemachtes ist und wie sie gemacht wird (Foucault 1994: 158).

Es ist heute ein kulturwissenschaftlicher Allgemeinplatz, dass historisches Geschehen erst durch seine Erforschung und systematische Ordnung zu dem wird, als was es später erscheint. Die Geschichte ist nicht von vorneherein „da“, sondern wird von Historikern unter wechselnden methodischen Prämissen hergestellt. Der Anspruch auf Wahrheit lässt sich nicht von den Ereignissen herleiten, sondern stets nur über die Analyse ihrer Auslegungen. Es gilt also einerseits die Herkunft der eigenen Fragen zu bedenken und den Weg der eigenen Deutung zu belegen. Aus der unermesslichen Fülle historischer Fakten und möglicher Meinungen eine Auswahl zu treffen und diese in einen sinnvoll erscheinenden Zusammenhang zu setzen, ist ein höchst kreativer Prozess, für den auch der Kunstunterricht Raum bieten kann. Die überlieferten Monumente der Vergangenheit, Bauten, Bilder oder auch Texte, geben dabei nie vor, was gesagt werden darf. Aber sie legen fest, was nicht gesagt werden darf (Koselleck: 1995, S. 153). Diese Erkenntnis und das ihr verbundene Wissen um die Regeln historischen Denkens und Schreibens eröffnen einen kritischen Blick auf die überlieferten Monumente und ihre historische Einordnung, die in die gängigen Schulbücher für das Fach Kunst bis heute nicht vorgedrungen ist.

Bildkompetenz neu denken

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Abb. 1

Der einstige bildungsbürgerliche Wissenskanon hat längst seine Verbindlichkeit verloren. Auch in Reaktion darauf, dass in den 1970er Jahren die Zahl der Schülerinnen und Schüler zurückging, die „Schwabs Sagen des Klassischen Altertums“ zur Konfirmation geschenkt bekommen und spätestens in der Oberstufe auch gelesen hatten, bereitete im Kunstunterricht anderen Formen des Bildumgangs den Boden. Zeitgleich mit einer verstärkten Beschäftigung mit geometrischen Legespielen im Mathematikunterricht der 1970er Jahre wurden im Kunstunterricht vermehrt die formalen Strukturen von Bildern untersucht. Die Kinder hatten ja eh alle ein Geo-Dreieck im Schulranzen und damit ließen sich dann trefflich Dreiecke in frühneuzeitliche Madonnenbilder malen, die den Schülern im damals noch neuen Medium der Fotokopie zugänglich gemacht wurden. Statt über christliche oder mythologische Inhalte, sprach man nun über Formensprache, Bildaufbau, Licht und Schatten, Farbe oder Räumlichkeit. Hinzu trat die „bildimmanente Interpretation“, wo der subjektive „Dialog zwischen Betrachter und Bild“ eingeübt werden soll. Derartige Bildumgangsspiele haben je nach didaktischer Situation und Zielsetzung ihre Berechtigung. Sie dürfen aber keinesfalls zum Selbstzweck werden und sind auch nicht mehr als eine erste Grundlage der zu vermittelnden „Urteilsfähigkeit im Umgang mit bildender Kunst und Alltagsästhetik“. Die Auseinandersetzung „mit eigener und fremder Kultur sowie mit internationaler Kunst, nationalen und regionalen Kulturdenkmalen, Künstlern und Kunstereignissen“ darf nicht dabei stehenbleiben, in einem frühneuzeitlichen Madonnenbild (Abb. 1) ein Dreieck zu entdecken

Selbstverständlich kann und darf es im Kontext der Frage nach der kulturellen Kompetenz nicht darum gehen, mit Blick auf eine wachsende Zahl muslimischer Schülerinnen und Schüler mit missionarischem Eifer das christliche Abendland zu retten. Zudem gehören selbst die von Zeitgeistautoren wie Thilo Sarrazin beschworenen und in Talkshows oder an Stammtischen diskutierten muslimischen „Problemschüler“ (Engelien 2013) recht unterschiedlichen Herkunftsmilieus und -kulturen an. Die Pluralität unserer Gesellschaft und die Heterogenität ihrer Schüler sind Tatsachen, auf die alle Bildungsinstitutionen zu reagieren haben. So muss eine Bildung in kulturellen Identitäten das Ziel sein, die der Konkurrenz der tradierten Kulturen genauso Rechnung trägt, wie den parallel zur Globalisierung verlaufenden Prozessen der Ethnisierung und Tribalisierung. Vor diesem Hintergrund hat sich in den letzten Jahren ein intensiver Diskurs über die notwendigen Inhalte kultureller Bildung entwickelt, der zugleich mit der Einforderung eines allgemein verbindlichen Bildungskanons einherging. „So setzte die Bundeszentrale für politische Bildung 2003 eine Expertenkommission ein, um einen Katalog von 35 Filmen aus mehr als 100 Jahren Filmgeschichte zusammenzustellen. Ziel war es, Filmkompetenz an Schulen zu fördern. Die Konrad-Adenauer-Stiftung begründete im Jahr 2000 ihre Initiative „Bildung der Persönlichkeit“, als deren Ergebnis 2006 konkrete Vorschläge für Kerncurricula im Bereich der kulturellen Bildung für den Deutsch-, Geschichts- und Musikunterricht vorgelegt wurden. Dänemark führte 2006 einen Kulturkanon ein, der umfassend und kontrovers diskutiert wurde.“ (Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, 385).

Der Kanon als Ausweg

Im Kontext der lebhaft geführten Diskussionen um die schulischen Curricula sind in den letzten Jahren zahlreiche gute Argumente gegen die Festschreibung kultureller Werte in einem festgefügten Kanon von Kunstwerken und -orten vorgebracht worden (Vgl. Deutscher Kulturrat 2009; Konrad-Adenauer-Stiftung 2005; Lammert 2006: 7; Kaiser 2006). Nur wenige Bildungspläne nennen deshalb neben „Skills“ und „Kompetenzen“ noch heute spezifische Werke oder exemplarische Monumente, die als Gegenstände schulischen Lernens verbindlich festgeschrieben werden. Aus den meisten Lehrplänen für das Unterrichtsfach Kunst sind die kanonischen Werke verschwunden. Und während es bis heute kein Curriculum für das Fach Englisch gibt, in dem nicht die Lektüre von Shakespeare verbindlich vorgeschrieben wäre, werden Dürers Selbstbildnis von 1500 und Picassos „Demoiselles d’Avignon“ in den meisten Lehrplänen nicht mehr als verbindliche Gegenstände der Beschäftigung genannt. Dass der Kanon aber aus den schulischen Curricula verschwunden ist, bedeutet ja nicht gleichzeitig, dass es ihn nicht gäbe. Sein Fortbestehen garantieren schon die von den Schulbuchverlagen produzierten Unterrichtsmaterialien, die leider nicht zugleich die Begründungen mitliefern, warum ausgerechnet die von ihnen thematisierten Werke ausgewählt wurden. Allein weil das so ist, scheint es mir sinnvoll, die Legitimationsdebatte unmittelbar in den Unterricht zu tragen und dort zu thematisieren. Auch die provokante Frage, wozu man denn Museen benötige oder warum man denn das Original der doch tausendfältig reproduzierten „Mona Lisa“ überhaupt noch brauche, mag ein erster Schritt sein, etwas über die kunsthistorische Taxierung von Objekten zu lernen. Auch jenseits provokanter Fragen sollte es Gegenstand von Kunstunterricht sein, die diskursiv immer wieder neu verhandelte Grenze zu definieren, die zwischen dem verläuft, was Kunst ist und was eben nicht.

Schon die eigene ästhetische Produktion von Schülerinnen und Schülern kann Anlass zu der konstruktiven Frage geben, was von all dem, was gemacht wird, des Aufhebens wert ist. Dabei sollte es nicht nur darum gehen, die Prinzipien der diskursiv diskriminierenden Aushandlung zu verstehen, sondern auch die visuell erfahrbaren Zusammenhänge und Unterschiede zwischen den Dingen wahrzunehmen und benennen zu können. Denn in einer lebendigen Kultur bedarf es nicht allein immer neuer ästhetischer Hervorbringungen, sondern vor allem einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen.

Stil

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Abb. 2: Viral über facebook verbreitetes Foto von Demonstranten in Istanbul vom 20. Juni 2013; Abb. 3: Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk an, Öl auf Leinwand, 260 x 325 cm, Louvre Lens

Die Schärfung des Bewusstseins für die historischen Bedingungen der Produktion und Rezeption von Werken der Kunst in ihrem jeweiligen Kontext war und ist ein zentraler Gegenstand von Kunstunterricht. Und der Blick für die allein visuell transportierten Determinanten des visuellen Diskursfeldes der Kultur ist eine zentrale kulturelle Kompetenz. Die charakteristisch ausgeprägten Erscheinungsformen, die auf dem visuellen Diskursfeld der Kunst Zusammenhänge sichtbar werden lassen, bezeichnet man traditionell als „Stil“. Die Kunstgeschichte, die sich seit jeher mit dem Begriff schwer tut, ist seit ihren Anfängen darum bemüht, dem Rätsel des Stils auf die Spur zu kommen. Das hat zwar bis heute nicht dazu geführt, dass sich ein Methodenrepertoire der Kennerschaft entwickelt und allgemein etabliert hätte, doch hat es in der Mediengeschichte der Kunstgeschichte in Gestalt der Dia- Doppelprojektion Spuren hinterlassen. Seit dem 19. Jahrhundert ist das vergleichende Sehen als Technik kunsthistorischer und vor allem stilkritischer Bildbetrachtung fest etabliert. Ihre Erfolge lassen sich leicht erproben, doch nur schwer erklären und so ist das sonderbare Phänomen der Evidenz des erkennenden Blickes bis heute weder von der Psychologie noch

von Physiologie und Hirnforschung erklärt worden. Das ändert nichts daran, dass die Methode funktioniert. Auch wer zum Beispiel dem von der Kunstgeschichte postulierten Phänomen des Epochenstils kritisch gegenübersteht, weil derartige empirisch basierte Zuschreibungen nun mal positivistisch sind, wird dies zugeben müssen. Um nicht die historischen Vergleiche von der Gotik über Rembrandt bis zur Malerei der „Brücke“ zu strapazieren, sei hier das in jedem Sommerloch überprüfbare „Tatort“-Phänomen angeführt. Aus Gründen allgemeiner Sparsamkeit und haushälterischen Umgehens mit den Fernsehgebühren der zahlenden Zuschauer bescheiden sich die öffentlich-rechtlichen Sender an lauen Sommerabenden zumeist mit Wiederholungen alter Kriminalfilme. Dann kommen „Derrick“, „Der Alte“ und die abgehalfterten „Tatort“-Teams vergangener Jahrzehnte noch einmal zum Zuge. So langweilig die Filmhandlung auch sein mag, können die Filme zur Schule des Sehens werden. Mit nur wenig Übung wird einem die zeitliche Einordnung gelingen. Die Schlaghosen und Nappa-Lederjacken der 1970er Jahre, die glänzenden Anzüge der 1980er. Man begegnet hier ganz nebenbei dem Phänomen des Stils und kann viel lernen, wenn man nicht nur das Datieren erprobt, sondern sich vor allem darüber Rechenschaft zu geben versucht, was einem die Datierung denn nahegelegt hat. Man kann die Fragestellung auch ausweiten und sich zum Beispiel fragen, welche Botschaften in den Nachrichtenbildern von den Demonstrationen in Istanbul allein über die visuelle Form der medialen Selbstinszenierung kommuniziert werden (Abb. 2) und wo sich dafür Vergleiche finden lassen (Abb. 3). Solche Phänomene zu bemerken, ist dabei weit leichter als sie präzise zu formulieren. Zumal die Verbalisierung des Beobachteten braucht Übung. Der schulische Kunstunterricht sollte zum Erwerb dieser Fähigkeit beitragen und die Grundlagen für einen stetig erweiterbaren Kriterienkatalog für die stilistische Einordnung von visuellen Kulturzeugnissen liefern.

Materialität

Kulturhistorische Kompetenz heißt vor allem auch den Umgang mit den materiellen Zeugnissen der Kulturüberlieferung zu erlernen. Das gezielte Aufsuchen außerschulischer Lernorte und die Begegnung mit den materiellen Objekten der Kunst und der Kultur hat eine lange kunstdidaktische Tradition. Und aus der Sicht des Kunsthistorikers gibt es gute Gründe, daran festzuhalten. Lange bevor in den Kulturwissenschaften der „material turn“ proklamiert wurde, hat die Kunstgeschichte sich damit beschäftigt, wie die kulturell geschaffenen und verwendeten Objekte Wissen speichern und transportieren. Den Ausgangspunkt bildet dabei das Studium historischer Originale und der sichtbaren Beschaffenheit überlieferter Objekte der Kultur. Hinzu tritt die Analyse der nicht sichtbaren Eigenschaften, also den absichtsvollen oder unbeabsichtigten Bedeutungseinschreibungen, denn die Zuschreibungen inhärenter und externer Attribute sind gleichermaßen Teil der Kulturüberlieferung. Um ein Beispiel für den gemeinten Zusammenhang zu geben, mag der Verweis auf Jackson Pollocks „Nummer 32, 1950“ genügen (Vgl. dazu Prange: 1996). Das tausendfach reproduzierte Gemälde hängt heute in Düsseldorf. Nichts kann die Begegnung mit diesem monochromen Original ersetzen, das gleichsam zum Sinnbild der reinen Abstraktion wurde. Man kann dieses Gemälde schon deshalb in Reproduktionen nicht verstehen, weil die ungegenständlichen Farbspuren nicht relational zu irgendeiner Seherfahrung sind. Die Abbildung verrät nicht, dass dieses Gemälde weit mehr als zweieinhalb Meter hoch und mehr als viereinhalb Meter breit ist. Seine Wirkung kann man nur unmittelbar vor dem Bild wirklich erfahren, in dessen genauer Betrachtung sich auch der von Harald Rosenberg verwandte Begriff des „action painting“ als nicht ganz zutreffend erweist. Der Begriff transportiert die – auch filmisch propagierte – Idee eines Künstlers, der sich im Schaffensrausch mit einem Eimer Farbe um seine Leinwand bewegt, wobei seine Bewegungen gleichsam in der Farbe Gestalt gewinnen. Steht man vor dem Original, kann man sehen, wie die einzelnen auf die Leinwand getropften Farbschlieren einander in Wülsten überlagern. Das Bild ist nicht das Ergebnis eines einzelnen Farbenrausches, sondern mit einem hohen Maß künstlerischen Kalküls bewusst strukturiert. Gerade in der Beschäftigung mit diesem Bild kann man auch lernen, eine professionell distanzierte Sichtweise einzunehmen, die nicht den produzierenden Künstler zur Norm der Betrachtung des Kunstwerkes erhebt. Dass man Kunst auch ganz anders sehen und ansehen kann, lässt sich gerade in der Beschäftigung mit alter Kunst zeigen.

Alterität als Alternative

Zur Stärkung der kulturhistorischen Kompetenz müssen im schulischen Unterricht nicht zwingend andere Gegenstände behandelt werden, doch müssen sie gegebenenfalls unterrichtlich anders betrachtet werden. Dazu gehört es, entgegen den in Schulbüchern fortlebenden Konventionen, nicht mehr jedes Werk jeder Epoche als Ausdruck der dem Kunst-Paradigma verbundenen „Universalästhetik“ zu verstehen. Durch diese epistemologische Freisetzung und eine historisch angemessene Terminologie lässt sich kulturhistorische Kompetenz einüben. Gerade die Fremdheit der Objekte eröffnet dabei einen möglichen Zugang auf ihre historische Relevanz.

Abb. 4: Foto aus der BILD-Zeitung vom 22. November 2001, S. 2.

Ein frühneuzeitliches Madonnenbild (Abb. 1) ist außerhalb jener ländlichen Regionen, in denen der katholische Glaube noch gelebter Alltag ist, auch Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund fremd. Doch warum soll denn nicht die Fremdheit eines als historisch wahrgenommenen Werkes zum Ausgangspunkt der Betrachtung werden? Diese Fremdheit kann bei einem Werk der „Gegenwartskunst“ genauso begegnen, wie bei einem historischen Bildwerk. Und es bedarf hier wohl nicht eigens des Hinweises darauf, dass die Gegenwart von Schülerinnen und Schülern von der ihrer Lehrpersonen sehr verschieden ist und entsprechend eine Arbeit von Joseph Beuys inzwischen genauso „historisch“ ist, wie ein Gemälde von Rembrandt. Warum also nicht ein den heutigen Betrachterinnen und Betrachtern fremd gewordenes Madonnenbild zum Ausgangspunkt nehmen, um in das frühneuzeitliche Bildverständnis einzuführen, das „sprechende Bilder“ als „sichtbare Worte“ verstand (Warncke 1987; Warncke 2005). Wohl alle menschengemachten Bilder wurden für die anschauende Auseinandersetzung hergestellt. Durch Anschauen und Formulieren eines angemessenen sprachlichen Ausdrucks, den anzuleiten von jeher Ziel des Kunstunterrichts war, kann als heuristischer Zugang den Weg zu jenem anderen Bildverständnis eröffnen, das in einem vormodernen Bild sichtbar Gestalt gewinnt. Die sorgfältige Analyse von Werkprozessen und eine aus dem künstlerischen Prozess deduzierte Zuschreibung und Datierung, Archiv- und Quellenstudien können gerade von der Fremdheit ihren Ausgangspunkt nehmen. Der Hinweis auf das andere damals gültige Verständnis von dem, was Kunst kann und soll, wird dann zum Anlass forschenden Lernens. Sein Ziel sollte es sein, das medienspezifische Verständnis von Werken der Bildenden Kunst in ihrem medienhistorischen Kontext zu rekonstruieren. Einen Brückenschlag zur visuellen Gegenwart mag die Beobachtung bedeuten, dass bestimmte Bildformeln fortleben (Abb. 4). Die Frage, was aus diesem Fortleben zu schließen ist und welchen Stellenwert historische Bilder in unserer Kultur haben, ergeben sich dann fast von selbst.

Gerade an Werken alter Kunst kann man das Hinsehen lernen. Auch und gerade an historischen Kunstwerken kann man auf schon oft beschrittenen Pfaden sehen und beschreiben lernen, was ein Bild zeigt und vor allem, wie etwas gezeigt wird. Man kann dort lernen und erfahren, ob und wie das eigene Sehen durch die Bilder selbst bestimmt wird undwie der Zeitstil gleichermaßen die Bilder wie das Sehen prägt. Denn man kann über die in Kunstwerken konservierten historischen Dispositive auch lernen, dass die Werke der Kunst auf eine heute fremd gewordene Art gesehen werden sollten. Dass der Philosoph Michel Foucault die von ihm postulierte Epochenschwelle zwischen früher Neuzeit und Moderne ausgerechnet durch die doppelbödige Beschreibung eines 1656 entstandenen Gemäldes von Velázquez exemplifiziert, ist nämlich kein Zufall. Denn gerade Werke der Kunst lassen die historischen Episteme anschaulich werden. Die aus Fragestellungen der Gegenwart motivierte Beschäftigung mit der materiellen Kulturüberlieferung der Vergangenheit kann im Hier und Jetzt Wirkung entfalten. Denn die Vergangenheit wird dann zum Spiegel der Gegenwart als ihr Anderes. Auch und gerade in der Auseinandersetzung mit den materiellen Zeugnissen der Kulturüberlieferung wird das anschaulich, vor allem in den gebauten Monumenten der Kultur. Diese Anschaulichkeit lässt den Kunstunterricht zum idealen Forum werden, wenn man kulturhistorische Kompetenz als notwendiges Bildungsziel ansieht.

Abbildungen

Abb 1: Raffael, Madonna, um 1503, Öl auf Holz, 55 x 40 cm, Norton Simon Museum, Pasadena. upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/39/Raffaello_Sanzio_-_Madonna_and_Child_-_WGA18620.jpg

Abb. 2: Viral über facebook verbreitetes Foto von Demonstranten in Istanbul vom 20. Juni 2013 36.media.tumblr.com/554935ebaa403f52bde626870eccbbef/tumblr_monxd5v2cW1qhsqm1o1_500.jpg

Abb. 3: Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk an, Öl auf Leinwand, 260 x 325 cm, Louvre Lens  upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a7/Eug%C3%A8ne_Delacroix_-_La_libert%C3%A9_guidant_le_peuple.jpg

Abb. 4: Foto aus der BILD-Zeitung vom 22. November 2001, S. 2.

Literatur

Buschkühle, Carl-Peter: Bildung eines Generalisten. Kreative Existenz und künstlerische Bildung, 2002; URL: http://www.ph-heidelberg.de/fileadmin/user_upload/org/fakII/MDS/KUNST/STUDIUM/Generalist.pdf (22.07.2013)

Büttner, Nils: Glossar. Ein in loser Folge erscheinendes Kompendium vermeintlich klarer Begriffe, heute: Kunst, in: BDK-Mitteilungen 44, 2008

Büttner, Nils: Lemma Kunst, in: Lexikon Kunstwissenschaft. 100 Grundbegriffe, hrsg. von Stefan Jordan und Jürgen Müller, Stuttgart 2012

Clifford, James: Histories of the Tribal and the Modern, in: Ders. The predicament of culture: Twentiethcentury ethnography, literature, and art, Cambridge, Mass [u.a.]: Harvard Univ. Press, 1988

Deutscher Kulturrat: Kulturelle Bildung: Aufgaben im Wandel, Kommissionsdrucksache 15/495a, S. 118, 2009, URL: http://www.kulturrat.de/dokumente/studien/kulturelle-bildung-aufgaben-im-wandel.pdf (22.07.2013)

Etschmann, Walter (Hg.): Kammerlohr – Kunst im Überblick: Stile, Künstler, Werke, München 2004

Engelien, Almut: „Sie haben’s voll drauf, Frau Feynberg!“ Interview mit der russisch-jüdischen Lehrerin Lea Feynberg über muslimische „Problemschüler“, in: Schabat Schalom – Das Magazin aus dem jüdischen Leben (20.12.2013), URL: http://www.ndr.de/info/sendungen/schabat_schalom/schabatschalom683.html

Foucault, Michel: Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 51; Ders. Dits et Ecrits, Bd. 3, Paris 1994

Gilmore, Jonathan: The life of a style: Beginnings and endings in the narrative history of art, Ithaca 2000

Gombrich, Ernst H.: Kunst und Fortschritt: Wirkung und Wandlung einer Idee, Köln 1978

Hazan, Olga: Le mythe du progrès artistique : étude critique dun concept fondateur du discours sur lart depuis la Renaissance, Montréal 1999

Heinen, Ulrich: Bildungsauftrag Kunstpädagogik. Eine polemische Antwort auf eine Polemik, in: BDK-Mitteilungen 41, 2005

Kaiser, Herrmann J. u.a.: Bildungsoffensive Musikunterricht? Das Grundsatzpapier der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Diskussion. Regensburg 2006

Kettel, Joachim

Von Nils Büttner

Veröffentlicht am 10. November 2014

Zitiervorschlag

Büttner, Nils: Kulturhistorische Kompetenz als notwendiges Bildungsziel, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2014. Quelle: https://zkmb.de/id193/; Letzter Zugriff: 06.11.2024

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