Ein Beitrag zur Tagung: Perspektiven der Verknüpfung von Kunst, Medien und Bildung 2: Das kulturelle Imaginäre | 25./ 26.11.2011 | Wissenschaftliche Sozietät Kunst, Medien, Bildung zu Gast an der Kunsthochschule Mainz | http://kunst-medien-bildung.de/2011/10/23/tagung-perspektiven-der-verknupfung-von-kunst-medien-und-bildung-2-das-kulturelle-imaginare/
Sowohl Lucio Fontana (1899-1968) als auch Piero Manzoni (1933-1963) schufen Werke, die die Imagination des Betrachters auf besondere Weise ansprechen und herausfordern. Viele Arbeiten der beiden italienischen Künstler zeichnen sich durch „Leerstellen“ aus, die gedanklich durch die Betrachterin bzw. den Betrachter gefüllt werden müssen. Der ursprünglich von Wolfgang Iser in die Literaturtheorie eingeführte Begriff der Leerstelle, der sich metaphorisch auf Brüche im Text bezieht (vgl. Iser 1990), scheint auf diese Werke der bildenden Kunst besonders gut zu passen, weil hier nicht nur „Brüche“ wahrzunehmen sind, sondern im wörtlichen Sinne etwas ausgelassen oder ausgespart bleibt oder dem Blick des Betrachters entzogen ist. Ein vergleichbarer Kunst- und Werkbegriff liegt auch den Arbeiten Gianni Caravaggios (geb. 1968) zu Grunde: Seine Plastiken, Installationen und Papierarbeiten zeugen von Prozessen, die den Betrachter auffordern, diese weiterzudenken oder auf einen imaginären Anfang zurückzuführen. Dabei spielt bei Caravaggio – ähnlich wie bei Fontana – das Rekurrieren auf universelle, mythische Bilder eine wichtige Rolle. Das zielgerichtete Bezugnehmen auf mentale Bilder ist ein Kennzeichen für die Werke der drei Künstler. Im Folgenden möchte ich einige Anmerkungen dazu machen.
Fontanas erstes Concetto spaziale („räumliches Konzept“) war eine schwarz bemalte Gipsplastik, 1947 entstanden, die er zunächst gattungsbezogen als Scultura spaziale bezeichnete (vgl. de Sanna 1993: 57-61, Schütze 2010: 27, Schütze 2011a: 10ff.). Diese Plastik besteht aus kugelartigen, grob geformten Elementen. Sie sind zu einem Bogen zusammengefügt, aus dem an mehreren Stellen unregelmäßige Verästelungen herausragen. Das an petrifizierte Erdformationen oder urtümliches Lavagestein erinnernde Gebilde umschließt einen Teil des Raums und macht ihn durch die kreisförmige Rahmung sichtbar, ohne ihn tatsächlich zu begrenzen. Fontana findet so eine bildliche Formel für die physikalische Grenzenlosigkeit des Raums. Durch die Urtümlichkeit seines Äußeren erweckt das erste Concetto spaziale zudem Assoziationen an Entstehungsprozesse der Erde und des Universums.
1949 fing Fontana damit an, Löcher in Leinwände zu stoßen. Diese Werke, die den traditionellen Gattungsbegriff durch ihren Status zwischen Tafelbild und Objekt überwinden, tragen alle den Titel Concetto spaziale. (1) Anfänglich verstärkte Fontana seine Leinwände, indem er sie mit weißem Papier oder mit weißem Karton auf den Vorderseiten bespannte. Die Löcher, die er mit einem Stemmeisen in die Bildflächen stieß, traten so noch plastischer hervor. In den frühen Concetti spaziali sind die Löcher in Kreisflächen arrangiert, sie sind in konzentrischen Ringen angeordnet oder sie erscheinen reihenweise untereinander gesetzt. Diese Formationen erinnern an Sternenbilder oder an Szenarien aus dem Weltall. In mehreren Präsentationen und Ausstellungen in den frühen 1950er Jahren und in einer experimentellen Fernsehsendung der RAI im Jahr 1952 beleuchtete Fontana seine Leinwände von hinten, um den Effekt des „kosmischen“ Bildes zu verstärken (vgl. de Sanna 1993: 82ff.). Lichtpunkte funkelten auf den Vorderseiten der „Bild-Objekte“ wie Sterne im All. An dem verletzten, aufgestülpten Leinwandmaterial am Rand der Löcher brach sich das Licht und verursachte Schatten, die den Szenarien etwas Dramatisches gaben. Ab 1951 ging Fontana dazu über, Farbe mit Sand zu mischen und mittels des Sandes Kreis- und Spiralformen zu malen, die von Perforationen durchdrungen wurden und die das Thema des kosmischen Raums ebenfalls motivisch aufgriffen. Mit dem Raum des Universums befasste sich Fontana, der 1947 die Gruppe der Spazialisti gegründet hatte, zudem in seinen theoretischen Schriften. (2) Diese Auseinandersetzungen erfolgten allesamt zu einer Zeit, in der die Astrofotografie durch technische Neuerungen präzisere Bilder als zuvor vom Weltraum zur Verfügung stellen konnte. (3)
1959, zehn Jahre nach den ersten perforierten Leinwänden, begann Fontana mit der Werkgruppe der Tagli, der Schnitte (vgl. Crispolti 1998: 240ff.). Fontana beschriftete diese Arbeiten auf den Rückseiten mit dem Titel Concetto spaziale und häufig auch mit Attesa („Erwartung“) oder Attese („Erwartungen“), je nachdem ob ein oder mehrere Schnitte zu sehen sind. Die Wahrnehmung des realen Raums, die in der Werkgruppe der perforierten Leinwände, der Bucchi
Nach einiger Zeit begann Fontana, die Öffnungen seiner Leinwände mit schwarzer Gaze zu hinterlegen. Dieses Vorgehen mag inkonsequent erscheinen, wenn man Fontana als Künstler versteht, dessen vorderstes Ziel es war, den realen Raum mit der Bildfläche zu vereinen und zugleich nicht nur mit der illusionistischen Malerei zu brechen, sondern mit einem Illusionismus insgesamt. Denn durch die Hinterlegung mit dem schwarzen Gewebe wird die reale Gegebenheit des Raums erneut zugunsten eines Illusionismus in Schranken gewiesen. Die schwarze Hinterlegung lässt optisch eine räumliche Tiefe entstehen, die der räumliche Abstand der Leinwand von der Wandfläche tatsächlich nicht hergeben würde. Fontanas „Inkonsequenz“ wird verständlich, so meine These, wenn man seine “Bild-Objekte“ im Sinne ihrer Titel als anschauliche Konzepte begreift, die darauf ausgerichtet sind, Vorstellungsbilder zu evozieren. Der Anblick der schwarzen Fläche hinter jedem Schlitz beflügelt die Vorstellung von der unendlichen Weite des Raums. Dieses Phänomen hat Carla Schulz-Hoffmann folgendermaßen beschrieben:
„Fontana erschafft mit seinen Concetti Spaziali – wie seine Objekte nahezu alle heißen – nicht wirklich unendliche Räume, sondern seine Objekte evozieren durch die Fläche mit ihren Schnitten und Perforierungen im Betrachter die Idee eines Raums; er bildet sich in der Vorstellung und kann dann tatsächlich unendlich sein. Fontana gibt lediglich die konzentrierte Anregung, und wie in der fernöstlichen Tuschmalerei wird die reduzierteste Geste zur größtmöglichen Stimulans für die Wahrnehmung.“ (Schulz-Hoffmann1983: 106)
Bei Fontana soll das Werk, das er als Konzept versteht, ein mentales Bild im Betrachter erzeugen, das individuell erfahren wird. Dies erreicht Fontana, indem er an universelle Vorstellungsbilder anschließt: Vorstellungsbilder vom Weltraum, von Sternen und Planetensystemen, Vorstellungsbilder von der unendlichen Tiefe und Weite des Raums, die sich der konkreten bildlichen Darstellung entziehen. Diese Vorstellungsbilder sind sowohl geprägt durch jahrhundertealte bildkünstlerische Traditionen als auch durch neuartige, wissenschaftliche Bilder wie jene der Astrofotografie. Gleichsam überschreiten sie die konkrete Darstellung und verharren in einem Zustand des Vagen, wenn es um die unendliche Ausdehnung des Raums geht. Damit werden assoziativ mentale Bilder angesprochen, die nach Gaston Bachelard in den Bereich der zone intermédiaire gehören, die zwischen rationalem Bewusstsein und Unbewusstem angesiedelt ist (vgl. Bachelard 1938). (4) Fontanas Arbeiten aus den Werkgruppen der Bucchi und Tagli sind materielle „Bild-Objekte“, die mentale Bilder evozieren. Die Aktivität der „immaginazione“, der Vorstellungskraft, fokussiert sich nicht allein auf die künstlerische Handlung – das Perforieren und Aufschlitzen von Leinwänden –, sondern wird auf den Betrachter und seine Wahrnehmungsarbeit ausgedehnt. Die Zusatztitel „Attesa“ bzw. „Attese“ können auch in diesem Sinne als „Erwartungen“ an die Vorstellungskraft des Rezipienten verstanden werden, innere Bilder von der Unendlichkeit des Raums entstehen zu lassen, die sich der konkreten Darstellung entziehen.
Ein italienischer Künstler, der in den fünfziger und frühen sechziger Jahren trotz seiner kurzen Schaffenszeit wie Fontana entscheidend zur Erneuerung des Kunstbegriffs beitrug, ist Piero Manzoni. Manzoni, der bereits im Alter von 29 Jahren starb, stand mit dem um eine Generation älteren Fontana in künstlerischem Austausch. 1957 präsentierte Fontana eine der ersten Gruppenausstellungen, an denen Manzoni teilnahm, und im darauffolgenden Jahr stellten die beiden Künstler sogar gemeinsam aus (vgl. Celant 1992: 226f. u. 232). Wie Fontana, so fordert Manzoni die „immaginazione“ des Betrachters auf spezielle Art heraus.
Seine sicherlich bekannteste, weil provokanteste Werkgruppe sind jene 90 Dosen, die er mit der auf ein internationales Publikum abzielenden Beschriftung Merda d’artista, Merde d’artiste, Artit’s Shit, Künstlerscheisse versah und vertrieb. Mit diesen Arbeiten, im Mai 1961 realisiert, führte Manzoni Duchamps Konzept des Readymades fort und spitzte es ironisch zu. 30 Gramm der vermeintlichen Fäkalien des Künstlers sollten zum jeweils aktuellen Weltmarktpreis von 30 Gramm Gold verkauft werden (vgl. Celant 1992a: 230). Zuvor war Manzoni mit Fiato d‘Artista („Atem des Künstlers“) an die Öffentlichkeit getreten. Bei dieser Reihe von Arbeiten hatte er Luftballons mit seinem eigenen Atem aufgeblasen. Folglich konnten kundige Betrachterinnen und Betrachter davon ausgehen, dass auch bei der neuen Arbeit tatsächlich Hinterlassenschaften des Künstlers konserviert worden sein mussten. (5) Die Merda d‘artista lässt sich auf mindestens drei Weisen verstehen: erstens, als plakative Kritik am internationalen Kunstbetrieb mit seiner Ästhetik, seinen Gütevorstellungen und seinen Marktregeln; zweitens, als materielles Zeichen für die Unsterblichkeit des Künstlers, dessen Körperausscheidungen durch Erhebung zum Kunstwerk musealisiert und für nachfolgende Generationen bewahrt werden (vgl. Groys 2007: 46-53); drittens, als Werk im Sinne des „Konzeptualismus“ Fontanas. Denn ähnlich wie bei Fontana tut sich bei diesem Kunstwerk eine „Leerstelle“ auf, die die Vorstellungskraft des Betrachters herausfordert. Hier ist es das Verbergen des Doseninhalts, der die „Leerstelle“ erzeugt. Die Präsenz des Metallbehältnisses mit seiner Beschriftung als äußerlich sichtbarem Teil des Kunstwerks regt den Betrachter an, sich das Innere vorzustellen, ein mentales Bild zu generieren. Im Gegensatz zu jenen mentalen Bildern von der unendlichen Ausdehnung des Raums im Fall der Concetti spaziali wird hier nun ein Bild provoziert, das in seiner irdischen Konkretheit und Alltäglichkeit kaum übertroffen werden kann.
Eine ähnliche Funktion, allerdings ohne den ironischen Verweis auf Profan-Menschliches, haben Manzonis Dosen mit Linien, die er in den Jahren 1959-1961 produzierte (vgl. Celant 1992a: 228ff.) Manzoni zeichnete bzw. malte Linien in unterschiedlichen Längen mit Tinte und Tusche auf Papierrollen. Er beschriftete sie unter Angabe des genauen Herstellungsdatums und der jeweiligen Länge und verschloss sie in zylinderförmigen Behältern aus unterschiedlichen Materialien, die nicht mehr geöffnet werden sollten. Einer der Behälter trägt darüber hinaus, die genauen Maßangaben der anderen Linien konterkarierend, den Titel Linea di lunghezza infinita („Linie von unendlicher Länge“, 1960). Allen Werken gemeinsam ist: Durch das Verbergen ist der Betrachter nicht mit dem materiell existierenden Bild einer Linie konfrontiert, sondern mit der Vorstellung davon. Lässt er sich auf Manzonis Gedankenexperiment ein, dann stellt er sich beispielsweise eine 10 Meter lange Linie vor oder versucht, eine unendliche Linie zu denken.
Einige Jahre zuvor, in einer Zeit, als Manzoni anthropomorphe, scherenschnittartige Figuren malte, als er mit Alltagsgegenständen wie Sicherheitsnadeln ornamental Abdrücke machte, die wie beseelte Zeichen wirken, und als er mit Teer als plastischem Farbstoff experimentierte, unterzeichnete er zusammen mit anderen Künstlern das Manifest Per la scoperta di una zona di immagini („Für die Entdeckung einer Zone der Bilder“, 1956). Wenig später veröffentlichte er unter demselben Titel einen weiteren, nun eigenständigen Text. (6) Er druckte ihn auf der Rückseite eines Handzettels ab, der auf der Vorderseite drei seiner aktuellen Werke mit anthropomorphen Bildmotiven zeigte. (7) In dieser Schrift äußerte sich Manzoni zur Relevanz von individuellen und universellen Vorstellungen, die er auf eine allen Menschen gemeinsame psychische Grundlage zurückführte. Er schrieb: „L’opera d’arte trae la sua origine da un impulso inconscio che scaturisce da un substrato collettivo di valore universale, comune a tutti gli uomini […].“ (in: Crispolti 1992: 53) („Das Kunstwerk leitet sich her aus einem unbewussten Impuls, der aus einem kollektiven Substrat von universellem Wert entsteht, der allen Menschen gemeinsam ist […].“) Und weiter formulierte er: „Il momento artistico sta dunque nella scoperta dei miti universali precoscienti e nella loro riduzione ad immagini.“ (in: Crispolti 1992: 54) („Der künstlerische Moment besteht folglich in der Entdeckung von vorbewussten universellen Mythen und ihrer Rückführung auf Bilder.“) Die Aufgabe des Künstlers sei es, in einem Akt des Verinnerlichens, das Individuelle und Kontingente zu überwinden, um zum „vivo germe della umana totalità“ (in: Crispolti 1992: 53), um zum „lebenden Keim der menschlichen Totalität“ vorzudringen. Das Überwinden des Individuellen und das Ansprechen eines gemeinsamen „kollektiven Substrats“, das Manzoni am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn als künstlerisches Ziel formulierte, löste er besonders konsequent in seinen späteren Werken ein, die mit dem Verbergen von Dingen bzw. Weg- oder Offenlassen operieren.
Zu letzteren zählt die Plastik Socle du monde („Sockel der Welt“, 1961), die regelrecht das „Ausloten“ der Vorstellungswelt des Betrachters einfordert. (8) Ein quaderförmiger Sockel aus Eisen trägt auf seiner Seite die auf dem Kopf stehende Beschriftung „SOCLE DU MONDE“. In kleineren Lettern darunter folgt die ebenfalls auf dem Kopf stehende Hommage an Galileo Galilei, dem Verfechter eines heliozentrischen Weltbildes. Der Platz, der bei „normaler“ Betrachtung für das Kunstwerk vorgesehen ist, bleibt indessen frei, ist „Leerstelle“. Der Betrachter muss seine Vorstellungswelt und seine eigene Position gedanklich „auf den Kopf stellen“, um das Bild der auf einem Sockel ruhenden Erdkugel vor seinem inneren Auge entstehen zu lassen. Manzoni evoziert mit seinem Kunstwerk auch hier wieder ein Abrufen innerer Bilder. Dabei mag dem Betrachter das im kollektiven Bewusstsein verankerte Bild des Atlas behilflich sein, der in der griechischen Mythologie die Welt auf seinem Rücken trägt. Die Diskrepanz der tatsächlichen Machtlosigkeit des Betrachters zu seinem „weltbewegenden“ Gedankenexperiment lässt wiederum jene ironische Note spürbar werden, die viele Arbeiten Manzonis auszeichnet.
Auch Gianni Caravaggio interessiert sich für Vorstellungsbilder, die anthropologisch gesehen universell sind. Er steht allerdings dem Werk Fontanas, das Assoziationen an den kosmischen Raum oder an Entstehungsprozesse der Erde weckt, näher als dem Werk Manzonis, das sich stärker auf Vorstellungen konkreter Phänomene beruft und dabei den Kunstkontext ironisiert. Caravaggio schafft mit seinen Arbeiten, die häufig zu größeren Installationen zusammengefasst sind, Anreize für die Betrachter, universelle Vorstellungsbilder wachzurufen und in neuen, individuellen Zusammenhängen weiterzudenken.
Wie Fontana hat sich Caravaggio intensiv mit kosmischen Bildern auseinandergesetzt: Von diesem Interesse kündet etwa seine Installation Principio con Testimone („Anfang mit Zeugen“, 2008) (vgl. Schütze 2011a: 16f.). Das Objekt Testimone ist ein bearbeiteter Block aus schwarzem, belgischem Marmor. Die eine Seite des Objekts hat eine wellige, matt polierte Oberfläche und wirkt, als sei sie aus einer weichen Masse zusammengeschoben worden. Die andere Seite hat glatte Flächen, die an einigen Stellen von Löchern und Einkerbungen durchdrungen sind. Die kreisrunden Löcher sehen aus, als rührten sie von Einschlägen kugelartiger Gebilde her, während die länglichen Einkerbungen so wirken, als seien sie auf seitlichen Beschuss zurückzuführen. In einiger Entfernung von diesem Objekt liegt ein zweites. Es ist Principio: eine Handteller-große Platte aus versilberter Bronze, auf der kleine Kugeln in unterschiedlichen Farben aus Marmor und Metall ruhen und auf der einige Linsen abgelegt sind. Diese mit Kugeln bestückte Platte erinnert an ein Modell von einem Planetensystem oder an eine imaginäre Basis für Himmelskörper. Die Wandflächen des Ausstellungsraums, in dem die beiden Objekte am Boden liegen, sind, kaum merklich, an vielen Stellen eingedrückt worden. Es entstehen kugelförmige Vertiefungen. Die Situation, die Caravaggio mit seiner Installation inszeniert, erinnert an kosmischen Szenarien oder an Szenarien aus der Frühgeschichte der Erde. Gianni Caravaggio sagte im Interview zu seinem Bildbegriff:
„Die Frage, die oft in Diskussionen über Ästhetik in den letzten 20 Jahren angesprochen worden ist, ist die Frage des Bildes – wobei das Bild auf eine zweidimensionale, konsumierbare Darstellung reduziert worden ist. Das Bild in seinem Wesen zu rehabilitieren ist für mich wichtig, wobei mich die Frage des Bildes als das eines grundlegenden Bildes „in uns“ interessiert: „Bild“ ist eben nicht das zweidimensionale Etwas, was wir meist nur mit einem Foto oder einem Gemälde verbinden. „Bild“ ist ja im Kern „Einbildungskraft“. Einbildungskraft ist etwas, was sich in unserer Vorstellung vollzieht in Bezug auf das, was außerhalb von uns besteht. Das Ganze, diese ganze Dynamik interessiert mich sehr.
In letzter Zeit beschäftige ich mich mit der Frage: Gibt es überhaupt Bilder, Vorstellungen, die für den Menschen universell sind? Das heißt: gibt es „erste Bilder“ bzw. Vorstellungen, die die Menschheit wahrgenommen hat und die den Menschen geprägt haben? Dahingehend versuche ich zu arbeiten.“ (Caravaggio 2011: 65f.)
In jüngerer Zeit hat sich Caravaggio neben kosmischen Bildern mit Bildern aus dem Tierreich befasst: so etwa mit dem der „Spinne“ und der „Riesenkrake“, die als Besorgnis oder sogar Schrecken erregende Bilder in vielen Kulturen im Bewusstsein verankert sind. Als universelle Bilder haben sie für ihn eine dem kosmischen Raum ähnliche Qualität. In der Installation Testimone di uno spazio antico („Zeuge eines antiken Raumes“, 2009/2010) spielt Caravaggio zum Beispiel auf das Bild der Spinne an. Von einem silbernen, auf dem Boden liegenden Ring führen dreizehn Schnüre in alle Richtungen weg, an deren Enden kleine Formen aus versilberter Bronze befestigt sind. Die Bronzen sind so auf dem Boden platziert, dass die Schnüre straff gespannt sind. Sie weisen auf ihren dem Ring zugekehrten Seiten geometrisch geformte Aussparungen auf, während ihre Außenflächen unregelmäßig strukturiert sind wie Erdklumpen. Die Installation sieht aus, als habe ein Wesen seine spinnenartigen Beine ausgefahren und einen intakten Raum gesprengt, von dem die silberfarbenen Formen als Fragmente künden. Das Bild der Spinne wird hier beschworen, um eine Atmosphäre der Irritation zu erzeugen, die sich durch Regelmäßigkeit und Instabilität auszeichnet.
Um jene „Leerstellen“ zu schaffen, die es dem Betrachter ermöglichen, seine inneren Bilder abzurufen, arbeitet Caravaggio in seinen Installationen mit den Kunstgriffen des Fragmentarischen und der Andeutung. Die Titel der Werke geben häufig Orientierung, auf welche spezifische Bilder angespielt wird bzw. um eine Beziehung zu dem bildlich Angedeutetem zu erzeugen. Dies ist auch bei der 2011 entstandenen Installation der Tessitori di albe, der „Sonnenaufgangsweber“, der Fall: Zwischen zwei steinernen, geometrischen Objekten, die in einem Abstand von einigen Metern auf dem Boden liegen, ist ein roter Faden straff gespannt. Beide Objekte orientieren sich in Größe und Form an den Händen des Künstlers, die die Geste des Faden-Spannens vollziehen. Der Titel „Sonnenaufgangsweber“ wirkt wie ein Initiator, der die „immaginazione“ beim Betrachten der Installation in eine bestimmte Richtung lenkt: Der Aufgang der Sonne kündigt sich durch ein rotes Band am Horizont an. Das angedeutete Bild kann der Betrachter nun „weiterspinnen“ oder, um in der Metaphorik des Titels zu bleiben: „weiterweben“.
Jean-Paul Sartre hat in seiner Schrift L’imaginaire. Psychologie phénomenologique de l’imagination (1940) zum Kunstwerk Folgendes gesagt – wobei er sich auf in der naturalistischen Darstellungstradition stehende Gemälde bezog: „In Wirklichkeit hat der Maler seine Vorstellung [image mentale] überhaupt nicht realisiert: er hat lediglich ein materielles Analogon konstituiert, so daß jeder diese Vorstellung erfassen kann, wenn er nur das Analogon betrachtet. Doch die so mit einem äußeren Analogon versehene Vorstellung bleibt Vorstellung. Es gibt keine Realisierung des Imaginären, man könnte höchstens von seiner Objektivierung sprechen.“ (Sartre 1971: 293) Fontana, Manzoni und Caravaggio haben die von Sartre erwähnte „Objektivierung“ des Imaginären in den besprochenen Arbeiten gar nicht erst angestrebt. Dadurch, dass sie bewusst „Leerstellen“ gelassen haben – sei es durch den mit schwarzer Gaze hinterlegten Schnitt in der Leinwand, sei es durch Verbergen des Doseninhalts, sei es durch das Präsentieren von Bildfragmenten – schaffen sie kein Analogon, sondern eine Art experimentelle Vorrichtung, die es dem Betrachter unmittelbar ermöglicht, seine Vorstellungen als Vorstellungen entfalten zu können.
1 Enrico Crispolti bezeichnete diese Werkgruppe im Werkverzeichnis als Bucchi, Löcher. Vgl. Crispolti 1986: Bd.1, 95 – 115 (Buchi 1949 – 1953), 227 – 248 (Buchi 1955 – 1962), Bd.2, 499 – 514 (Buchi 1963 / 64 -1968).
2 1947 unterzeichnete Fontana zusammen mit der Schriftstellerin Milena Milani, dem Philosophen Beniamino Joppolo und dem Kritiker Giorgio Kaisserlian das Primo Manifesto dello Spazialismo. Den Weltraum thematisierte Fontana insbesondere im Manifesto tecnico von 1951 (abgedruckt in: Crispolti 1986: Bd. 1, 36f.) und in seiner programmatischen, im Jahr 1952 verfassten Schrift Perché sono spaziale (abgedruckt in: Fuchs/Gachnang/Mundici 1986: 90 – 94).
3 1948 wurde die Oschin Schmidt-Teleskopkamera in der Nähe von San Diego in Betrieb genommen, die die Astrofotografie durch ihre Präzision revolutionierte. Zur Geschichte der Astrofotografie siehe auch: Paris 2000.
4 Zugleich sind es konkrete Naturelemente, nämlich Feuer, Luft, Wasser und Erde, die nach Bachelard die Imagination anregen und mentale Bilder hervorrufen. Vgl. Bachelard 1942.
5 Ein Freund und künstlerischer Wegbegleiter Manzonis, Agostino Bonalumi, behauptete 2007, dass sich in den Dosen keine Fäkalien, sondern Gips befände. Wenn man wolle, könne man Dosen öffnen und seine These überprüfen (vgl. Bonalumi 2007: 30). Dies wird wohl einerseits auf Grund des zu erwartenden Inhalts unterbleiben, anderseits auf Grund des Preises. Im Jahr 2008 versteigerte Sotheby’s die Dose Nr. 83 für 97.250 GBP, umgerechnet ca. 126.000 Euro. Vgl. www.sothebys.com/de/catalogues/ecatalogue.html/2008/20th-century-italian-art-l08624 (Zugriff: 30. Mai 2013).
6 Vgl. Textabdruck in: Celant 1992: 53. Celant gibt für die Entstehung des undatierten Textes den Zeitraum zwischen Ende 1956 und Anfang 1957 an (vgl. a.a.O.: 226 u. 240).
7 Eines der Werke, Igitur (1957), zeigt z.B. zwei Wesen mit merkwürdigen „Beinen“, die an Scheren eines Krebses erinnern.
8 Aufgestellt vor dem Herning Kunstmuseum in Dänemark.
Bachelard, Gaston (1938): La Psychanalyse du feu. Paris: Gallimard
Bachelard, Gaston (1942): L’Eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière. Paris: José Corti
Bonalumi, Agostino (2007): „Solo gesso, nella scatoletta di Manzoni. La testimonianza di Agostino Bonalumi, suo compagno di strada”, in: Corriere della Serra vom 11. Juni 2007, 30
Caravaggio, Gianni (2011): Interview: „Vom Bildbegriff zur künstlerischen Handlung“, in: Schütze 2011, 65-73
Celant, Germano (Hg./1992): Piero Manzoni. Ausst.-Kat. Castello di Rivoli. Mailand: Electa
Celant, Germano(1992a): „Biografia“, in: Celant 1992, 226-231
Crispolti, Enrico (1998): „Beyond Informel. The sixties“, in: ders. u. Rosella Siligato (Hg.): Lucio Fontana. Ausst.-Kat. Palazzo delle Esposizioni, Rom. Mailand: Electa, 240-247
Crispolti, Enrico (Hg./ 1986): Fontana. Catalogo generale. 2 Bde.. Mailand: Electa
de Sanna, Jole (1993): Lucio Fontana. Materia Spazio Concetto. Mailand: Mursia
Fuchs, Rudi, Johannes Gachnang, Cristina Mundici u.a. (Hg./1986): Lucio Fontana. La cultura dell’occhio. Ausst.-Kat. Castello di Rivoli. Rivoli
Groys, Boris (2007): „The Inner Life of a Can of Preserves”, in: Germano Celant (Hg.): Piero Manzoni, Ausst-Kat. MADRE (Museo d’Arte Contemporanea DonnaRegina), Neapel. Mailand: Mondadori Electa, 46-53
Iser, Wolfgang (1990): Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. 3. Auflage, München: Fink
Paris (2000): Dans le champ des étoiles: les photographes et le ciel. 1850 – 2000, Ausst.-Kat. Paris, Musée d’Orsay u. Stuttgart, Staatsgalerie. Paris
Sartre, Jean-Paul (1971): Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Deutsch von Hans Schönberg. Hamburg: Rowohlt
Schulz-Hoffmann, Carla (1983); „Die Leinwand Zerstören, um sie zu bestätigen. Werk und Weg Lucio Fontanas“, in: dies.: Lucio Fontana, Ausst.-Kat. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Staatsgalerie moderner Kunst, München u. Mathildenhöhe, Darmstadt, mit einem Beitrag von Cornelia Syre. München: Prestel, 25-120
Schütze, Irene (2010): Lucio Fontanas Vorstellungen von Materie, Raum und Zeit ab 1946. Bochum 1996. Magisterdatenbank, Weimar
Schütze, Irene (2011a): „Bildlichkeit und Vorstellungskraft: Gianni Caravaggio in der Tradition von Lucio Fontana”, in: Schütze 2011, 9-18
Schütze, Irene (Hg./ 2011): Gianni Caravaggio. Über das Essenzielle in der Kunst. Weimar: VDG
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