Kollektives Ungewusstes in der künstlerischen Praxis. Kommentar zum Beitrag von Ole Wollberg

Ole Wollbergs Beitrag Bildungen des Ungewussten oder: How to do Anmut warf in mir sofort Assoziationen zu meiner eigenen künstlerischen Praxis auf. In der Arbeit an meinen Stop-Motion-Filmen sind mir Rauscherfahrungen, wie Wollberg sie am Beispiel der Malerei thematisiert, sehr gut bekannt. In diesen Erfahrungen wird mein Körper, z. B. im Prozess des stetigen Veränderns von minimalen Dingen am zu fotografierenden Motiv und dem Umgang mit der Kamera, Teil einer verteilten „Maschine“. Mit anderen Worten: Ich nehme meine Kamera in Betrieb und werde gleichsam von ihr „in Betrieb genommen“. Eine Reflexion in kognitivem Sinne findet erst im Nachhinein statt, denn die Form des Arbeitens mit Einzelbildern wird unerträglich und schier endlos, wenn ich jeden kleinsten Arbeitsschritt kritisch durchdenken und auf das Bestehen vor Zuschauer*innen überprüfen wollte. Möglich wird die rauschhafte Form des Arbeitens auch dadurch, dass ich stets alleine arbeite: Ich bin zugleich Regisseurin, Kamerafrau, Beleuchterin, Cutterin u. a. m., dadurch niemandem in meinen ästhetischen Entscheidungen verpflichtet, warum ich dieses und jenes in folgender Weise mache, vor allem, weil ich es selbst manchmal auch nicht weiß. Die Frage, die sich daraus zuerst für mich ergab, erschien mir nach längerer Überlegung – wenn auch oberflächlich – relativ leicht zu beantworten: Wie lässt sich das Konzept des verkörperten Wissens auf Arbeiten anwenden, in denen Maschinen, sei es ein Fotoapparat, eine Filmkamera oder ein Computer zum Einsatz kommen?

In vielen Formen technisch vermittelten, künstlerischen Arbeitens lassen sich m. E. Aspekte der Praxis von Gerhard Richter mit Farbe, Leinwand, Körper und Rakel in etwas anderer Weise, B. im körperlichen Umgang mit Fotoapparat oder Filmkamera, Licht und Objekten wiederfinden. Die technische Vermittlung wird dabei in einer Feed-back-feed-foward-Schleife zu einem handwerklich-technischen Aspekt der künstlerischen Arbeit, die auch den „einzigartigen genialen Moment“ sucht.

Aber das Produzieren von Fotos und Filmen lässt sich – und dies erscheint mir zentral – nicht auf Situationen, in denen eine Person mit einem Gerät arbeitet, reduzieren. Tacit knowing wird auch dann wirksam, wenn hunderte (oft sogar mehr als tausend) Menschen an einer Filmproduktion beteiligt sind. Wie aber funktioniert die künstlerische Arbeit dann, wenn der Herstellungsprozess von Filmen auf die Kommunikation von etwas angewiesen ist, das in Teilen nicht sagbar ist und daher die Wege seiner Kommunizierbarkeit erst finden muss? Mit anderen Worten: Da alle am Film Beteiligten ihre spezifische in der Praxis erworbene Expertise, ihr stilles Wissen mitbringen, entsteht am Filmset ein Geflecht aus kollektivem Ungewussten.

Filmemacher*innen können ihre bildnerischen Vorstellungen oft nur schwer mitteilen, wie es auch bei Richter der Fall ist. Sie können zwar darüber reden und doch gibt es Momente der filmischen Praxis, die sich in diesen Reden nicht artikulieren, auch da sie zum Teil selber vielleicht noch nicht oder nicht mehr von jenen Momenten wissen. Aber wie soll dann jemand, der für das Licht zuständig ist, die Vorstellungen der Regisseur*innen erfüllen?

In der Filmpraxis können wohl alle Beteiligten nur hoffen, zufällig das Entscheidende zu treffen, wie Godard es einst ausdrückte (vgl. Schütte 1979: 19). Vertrauen spielt dabei eine große Rolle – Vertrauen auf das Vorhandensein körperlichen Wissens aller an der Filmproduktion Mitwirkenden, die dieses in ihren vielzähligen Erfahrungen erworben haben; und auch das Vertrauen, dass die Beteiligten dieses Wissen zur richtigen Zeit abrufen und in einen unbewussten Akt aus Erinnerung und Vorstellungskraft eintreten.

Durch die skizzierte Notwendigkeit des Vertrauens auf das stille, verkörperte Wissen des Anderen im Produktionsprozess ist es auch nicht verwunderlich, dass viele Regisseur*innen über Jahre hinweg mit einem festen Team, mit stabilen Arbeitspartnerschaften wie beispielweise den gleichen Kameraleuten oder den gleichen Darsteller*innen arbeiten. Wie viele Wes-Anderson-Filme gibt es ohne Bill Murray? Und wird Lars von Trier jemals wieder ohne Charlotte Gainsbourg drehen?

Das Vertrauen auf ein spezifisches ungewusstes Wissen beim Anderen hat einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Entstehung eben dieser Partnerschaften, die sich vermutlich auch dadurch auszeichnen, dass sie einen produktiven Umgang mit dieser sprachlichen Lücke gefunden haben, obwohl dabei sicherlich Kompromisse gefunden werden müssen.

Die entstehenden Produkte sind also immer von einer Unkontrollierbarkeit durch die Filmemacher*innen gekennzeichnet, können aber, positv formuliert, auch eben nur durch diesen Strom an ungewusstem Wissen, der aus den verschiedenen Subjekten zusammenfließt, zu einem solchen werden. Interessant wäre es, die entstehenden Probleme in der Vermittlung von Ungewusstem zu untersuchen, wie auch die Wege, welche Kollektive finden und nutzen, um mit dieser Unmöglichkeit umzugehen.

Und wie lassen sich derartige Probleme theoretisieren, ohne die sogenannten „Spiegelneuronen“ dafür verantwortlich zu machen?

Literatur

Schütte, Wolfram (1979): „Aber sind eben diese Worte & Bilder notwendigerweise die richtigen?“, Notizen zu einem Portrait. In: Albera, François/Karsunke, Yaak/Schaub, Martina.: Jean-Luc Godard, Reihe Film 19. München, Wien: Hanser, S. 9-40.

 

Von Jasmin Böschen

Veröffentlicht am 25. November 2017

Zitiervorschlag

Böschen, Jasmin: Kollektives Ungewusstes in der künstlerischen Praxis. Kommentar zum Beitrag von Ole Wollberg, in: Torsten Meyer, Andrea Sabisch, Ole Wollberg, Manuel Zahn (Hg.): Übertrag. Kunst und Pädagogik im Anschluss an Karl-Josef Pazzini, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2017. Quelle: https://zkmb.de/kollektives-ungewusstes-in-der-kuenstlerischen-praxis-kommentar-zum-beitrag-von-ole-wollberg/; Letzter Zugriff: 21.11.2024

Review-Verfahren

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